Politische Debatten - Life is live

Eine neue Debattenbewegung macht sich breit. Durchgeplante, vorgefertigte Talk-Shows mit Experten und Politikern, von denen keiner mehr etwas hören möchte, sind abgenützt, schreibt einer der Initiatoren. Wichtiger sei es, sich zu versammeln und mit Menschen zu diskutieren, die wir zuvor nicht kannten

Diskussion und Meinungsvielfalt funktionieren besser im öffentlichen Raum / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Wragge seit Ende 2016 Redakteur und Koordinator der Initiative Offene Gesellschaft, und war zuvor als freier Journalist und als Redakteur des Diskussions-Netzwerks Publixphere tätig.

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Bis in die Nacht haben wir geredet. Schon wieder. Nicht über Beziehungsstress oder Netflix-Serien, sondern über den Brexit, Trump, den Generationenkonflikt, Stadt versus Land. Zur Runde geladen haben Freunde, Hauskreise, Theater, Netzwerke, Initiativen. Es sind wieder richtig viele, die lieber live und in Farbe über Politik, Gesellschaft, Zukunft diskutieren, statt weiterhin ohnmächtig durch ihre Facebook-Timeline zu scrollen. Im Park, in der Kneipe, im Theater, im öffentlichen Raum. 

Alternative zur Talkshow-Republik

Dass wieder so viel persönlich diskutiert wird, wird bislang kaum als etwas Bemerkenswertes wahrgenommen. Die neue Live-und-in-Farbe-Debatten-Bewegung (sie sucht noch einen treffenden Namen) fliegt medial meist unterhalb des Radars. Wenn sich zehn Menschen in den Park setzen und überlegen, wie sie den Brexit finden, oder ein utopisches Buch besprechen, hat das nun mal keinen Nachrichtenwert. Doch das macht den Reiz der persönlichen Live-Runden aus. Sie sind ein Gegenmodell zur öffentlichen Talkshow, in der die Redenden oft für eine bestimmte Weltsicht gebucht und nicht selten nach maximalem Streitfaktor zusammengesucht sind.

Das erklärt für mich den Trend zum politischen Live-Gespräch, den ich zu 50 Prozent beobachte und zu 50 Prozent herbeischreiben möchte. Die Live-Runden entziehen sich einer medialen Aufmerksamkeits- und Verwertungslogik, die sich merklich abgenutzt hat, einem teils auf Krawall gebürsteten und doch erwartbaren Sprechpuppen-Theater. Ein Beispiel: Was ich an diesen Abenden oft beobachte und in Talkshows selten sehe, sind Menschen, die sich ernsthaft auf das einlassen, was ihr Gegenüber sagt, die darauf Bezug nehmen, die ihre Meinung ändern können, sich auch mal überzeugen lassen. Wer von vornherein für eine bestimmte Position „besetzt“ wurde, kann sich nicht so leicht korrigieren, ohne in der „TV-Arena“ aus der Rolle zu fallen. Heraus kommt oft der Eindruck, in Talkshows würden vorgefertigte Meinungen lediglich ins Schaufenster gestellt, ohne gemeinsames Erkenntnisinteresse in der Sache.

Vermenschlichende Wirkung

Ein weiterer Grund, warum wir wieder das persönliche Gespräch suchen, ist meines Erachtens der neue Reiz der Offline-Begegnung. Ich bin weit davon entfernt „das“ Internet oder „die“ sozialen Medien zu geißeln. Es macht keinen Sinn, ständig die Technologie zu verteufeln, wenn doch eigentlich die Art gemeint ist, in der Menschen sie nutzen – zum Beispiel, um in Filterblasen zu versinken, um zu hetzen, Panik zu machen oder um auf Fake-News hereinzufallen. Wir werden wohl noch lernen, damit umzugehen, dass Milliarden am gesellschaftlichen Gespräch teilhaben. Das neue Stimmengewirr sowie den Bedeutungs- und Autoritätsverlust klassischer ‚Gatekeeper‘ in den Redaktionen und Institutionen werden wir im besten Fall bewältigen und uns im schlechtesten Fall daran gewöhnen.

Momentan merken wir, dass die Kommunikationssituation im Netz oft eine Zumutung ist, eine Überforderung. Wir lesen die Gedanken von Menschen, die wir nicht kennen, nicht sehen, nicht hören, kaum einschätzen können. Es fehlen uns viele Hinweise, wie etwas zu verstehen ist, ob jemand wirklich gerade in Rage ist oder stets etwas derber drauf, ob da jemand betroffen redet oder ironisch. Eigentlich müssten wir online ständig nachfragen: Wie kommen Sie darauf? Welche Erfahrungen haben Sie gemacht? Doch so etwas sehe ich ganz selten im Netz: Kommunikation unter Fremden, die auf eine echte Verständigung aus ist. Stattdessen wird viel ins Diffuse hinein gewettert und besser gewusst.

Echte Momente

Die große Stärke des Live-Gesprächs ist seine vermenschlichende Wirkung. Das ist bestimmt eine krude Formulierung. Aber ich erlebe es immer wieder. Es wird ganz anders geredet über Muslime, Atheisten, Studenten, ältere Menschen, Schwaben und Geflüchtete, wenn diese anwesend sind oder sein könnten. Die vielen Pauschalurteile, die sich einsam vor dem Bildschirm noch leichtfertig fällen lassen, gehen im direkten Kontakt nicht so schnell über die Lippen. Es ist eine Binsenweisheit, aber direkte Begegnung ist ein Vorurteilskiller. 

Schließlich: Die Online- und Offline-Sphären lassen sich prima als gegenseitige Verstärkung verstehen, nicht als Entweder-Oder. Offline-Events sind die bloße Verlängerung von Social Media mit anderen Mitteln. Lasst uns die erst über Facebook & Co. geknüpften Netzwerke mobilisieren, um uns zur Spontan-Diskussion im Park zu verabreden. Live und in Farbe. Und andersherum: Ohne die sozialen Netzwerke würden wir die vielen Menschen wohl eher wieder aus den Augen verlieren, die wir jetzt dank der neuen Live-Bewegung persönlich kennenlernen.

Kollektives Schulterklopfen?

Zwei Einwände gegen das neue Live-Debattentum werden wiederholt geäußert. Der erste: Wir blieben ja nur unter uns, in unserer Bubble aus Akademikern, Großstädtern, Progressiven, Politikinteressierten oder anderweitig Gleichgesinnten. Als Live-Debatten-Wertschätzer bin ich diesen notorischen Vorwurf leid. Zum einen wird eine konstruktive Diskussion oft mit fehlender Meinungsvielfalt verwechselt. Nur weil es bei einer Diskussion nicht „knallt“, heißt das noch lange nicht, dass alle Anwesenden derselben Meinung sind. Zum zweiten sind die vielen neuen Debatten in der Regel öffentlich, sie sperren niemanden von vorneherein aus. Es fühlen sich nur nicht alle davon angezogen. Das ist ein Unterschied. Zum dritten kenne ich so viele Engagierte, die sich darum einen Kopf machen: Wie tragen wir die gesellschaftliche Debatte zu Nicht-Akademikern, in die Schulen, ins Altersheim, ins Gefängnis, aufs Land? Auch an den Hemmschwellen senkenden Formaten wird seit Jahren gefeilt, weg von Professoren-Panels und Frontalunterricht, hin zu partizipativen Runden, in der Bar, im Park und auf der Straße. 

Meine Forderung: Wer den Bubble-Vorwurf erhebt, bemühe sich selbst um Vielfalt, lade persönlich die Menschen und Gruppen ein, die fehlen, zum Beispiel den schon traditionell vermissten AfD-Wähler. Und schließlich: Auch eine Debatte zwischen Menschen, die viele Grundwerte teilen, kann sehr gewinnbringend sein, kann zum Beispiel Mut machen in Zeiten allgemeiner Verunsicherung. Der nächste Schritt der Live-Bewegung könnte übrigens auch sein, in Scharen die eigenen Milieus zu verlassen und bei den Diskussionen der ‚Anderen‘ vorbeizuschauen, beim Themenabend in der evangelischen Gemeinde oder im Co-Working-Space der Weltverbesserer, im Flüchtlingscafé, bei der Jungen Islam Konferenz, bei den Ortsvereinen der Parteien inklusive AfD. 

Außer Reden nichts gewesen?

Der zweite Dauer-Vorwurf: Ihr redet ja nur. Alles nur folgenloses Blabla. Ich selbst habe lange gebraucht, um den Wert des reinen Redens schätzen zu lernen. Inzwischen bin ich bereit, ihn hemmungslos zu idealisieren. In offener Runde die Stimme erheben, gehört werden, Widerspruch, Zustimmung oder Unverständnis ernten – all das ist für mich ein befreiender, ein politischer Akt, die Voraussetzung dafür, die eigene politische Rolle zu finden. Debatten sind für mich immer auch Momente, in denen Gesellschaft erst sicht- und erlebbar wird. Wir sind hier anders gefragt als sonst, nicht als Konsumenten oder Marktteilnehmer, sondern als selbstdenkende und freie Bürger. Rausgehen und die Gesellschaft suchen – das ist vielleicht eines dieser Abenteuer, die uns noch bleiben, wenn alle Erdteile schon entdeckt sind.

Demokratietheoretisch ist das öffentliche Gespräch der Bürger natürlich der Ausgangspunkt allen politischen Handelns. Das wussten schon die alten Griechen. Nur scheinen wir in den vergangenen Jahrzehnten etwas die Lust daran verloren zu haben. Auch die Bindungskraft von Institutionen wie Parteien, Gewerkschaften und Kirchen ging zurück, die traditionell Räume für die politische Debatte und das soziale Miteinander bieten. Doch nun ist er wieder deutlich zu bemerken, der Rückzug aus dem Privaten. 

Eine Gelegenheit, sich neu kennenzulernen, sich voneinander zu erzählen und auszutauschen, wird der Tag der offenen Gesellschaft am 17. Juni bieten, zu dem die Diakonie Deutschland und die Initiative Offene Gesellschaft aufrufen. Die Idee: Überall im Land stellen Bürger, Gruppen und Initiativen Tische und Stühle raus und feiern mit Freunden und Fremden unsere Demokratie. Das Ziel: Aus vielen hundert gemeinsamen Tafeln entsteht ein großes Zeichen für das Engagement der Bürgergesellschaft, für gelebte Offenheit, Vielfalt und Freiheit. 

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