Wird Peenemünde Weltkulturerbe? - Politische Geschmacklosigkeit

Manuela Schwesig, Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, setzt sich dafür ein, dass das Historisch-Technische Museum in Peenemünde zum Weltkulturerbe erklärt wird. Das zeugt nicht nur von Geschichtsvergessenheit, es ist schlicht pietätlos.

Nachbau einer V2-Rakete auf dem Gelände der einstigen Heeresversuchsanstalt Peenemünde / dpa
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Autoreninfo

Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Ab 1936 wurden in Peenemünde auf Usedom in Vorpommern zunächst große Flächen zur Nutzung durch die Wehrmacht aufgekauft. In den Folgejahren testete die Luftwaffe auf der Versuchsstelle Peenemünde-West neue Entwicklungen. Dazu zählt die Gleitbombe Fieseler Fi 103, auch als V1 bekannt. Sie gilt als Vorläufer der heutigen Marschflugkörper. Auch das erste Raketenflugzeug mit Flüssigkeitsraketentriebwerk, die Heinkel He 176, entstand in Peenemünde-West, schließlich Flugabwehrraketen.

Ab 1943 entstand ein Konzentrationslager, in dem bis Kriegsende einige tausend Häftlinge der SS unter elenden Bedingungen Zwangsarbeit im Bereich der modernen Raketentechnik leisten mussten. Allein beim Bunkerbau starben hunderte von ihnen. Noch grausamer waren die Schicksale jener Häftlinge, deren Herren in der benachbarten Heeresversuchsanstalt Peenemünde-Ost einen der bedeutendsten Schritte der technischen Entwicklung erreichen sollten, ohne die moderne Raumfahrt nicht zu denken wäre. Kopf dieser Entwicklung war ab 1937 der 1912 geborene Ingenieur Wernher Freiherr v. Braun.

Grundlagen der Mondlandung

Nach Abschluss des Studiums 1932 begann er seine Karriere als Zivilangestellter beim Raketenprogramm des Heereswaffenamtes. Seit ihrem Start am 3. Oktober 1942 gilt die von v. Braun entwickelte ballistische Rakete A4 als das erste von Menschen gemachte Objekt, das den Weltraum erreichte. Dies mag als eine einzigartige Kulturleistung angesehen werden. Auf dieser Entwicklung bauten auch die weiteren Raketen auf, die v. Braun in den Folgejahren konstruierte – und mit denen schließlich die ersten Amerikaner in den Weltraum und die ersten Menschen zum Mond flogen.

Was in Peenemünde begann, gehört zweifelsfrei zu den größten kulturgeschichtlichen Entwicklungen der Menschheit. Diesen Ursprungsort der Eroberung des Weltraums durch die Menschen zum Weltkulturerbe erklären lassen zu wollen, ist eine überzeugende Idee. Jedoch nur auf den ersten Blick – und je nachdem, unter welchen Umständen man Kultur definiert. Denn die Raketenentwicklung, die in Peenemünde begann und zur ersten Mondlandung führte, bedurfte unzähliger Tests. Zunächst einmal mussten die Anlagen geschaffen und immer neue Testraketen gebaut und gestartet werden – rund 40 dieser gewaltigen Waffen explodierten beim Start oder stürzten in die Ostsee. Die notwendige Arbeitskraft zur Umsetzung der Ingenieursideen von v. Brauns Team kam von tausenden Zwangsarbeitern.

Krieg über Europa

Es darf auch nicht vergessen werden, dass Adolf Hitler nicht plante, den ersten Menschen auf den Mond zu bringen, sondern NS-Ideologie und NS-Herrschaft über Europa – über ganz Europa. Die Basis des Widerstandes gegen Deutschland, das bereits große Teile des Kontinents besetzt hatte, befand sich im Vereinigten Königreich. Nachdem die deutsche Luftwaffe 1941 die „Luftschlacht um England“ gegen die überlegene britische Luftwaffe verloren hatte, sollten die als V1 bekannt gewordene Flugbombe und die von der NS-Propaganda V2 (Vergeltungswaffe 2) genannte ballistische Rakete die britische Luftabwehr durchdringen und das Zentrum Londons zerstören. 

Die Einzelteile der Raketen wurden im Deutschen Reich an verschiedenen Orten gebaut, wiederum oft von Zwangsarbeitern. Ab 1944 wurden V2-Raketen von den besetzten Niederlanden und von Frankreich aus auf das Vereinigte Königreich abgefeuert, später auch auf Antwerpen und weitere Ziele – rund 8.000 Menschen, zumeist Zivilisten, fanden durch die mit Überschallgeschwindigkeit heranrasenden Raketen einen plötzlichen Tod. Neben der Sprengwirkung entwickelten die Raketen eine psychologische Wirkung, da es keine Vorwarnung gab und keine wirksame Raketenabwehr. 

Doch zu dieser Zeit war die alliierte Luftüberlegenheit über Deutschland bereits erdrückend und die deutsche Luftwaffe kaum noch in der Lage, die wichtigsten Anlagen der Rüstungsproduktion zu schützen. In dieser Situation wurde ein Großteil der Raketenfertigung unter die Erde verlegt: In einer Stollenanlage in der Nähe von Nordhausen wurden von tausenden KZ-Häftlingen V2-Raketen und auch V1-Flugbomben gefertigt.

20.000 Menschen fanden den Tod

Die Fertigungsanlage und die Außenlager in der Umgebung wurden als Konzentrationslager Mittelbau-Dora berüchtigt. In den 18 Monaten seines Bestehens starben rund 20.000 der Häftlinge aus fast allen Ländern Europas an den brutalen Arbeitsbedingungen unter der Erde. Damit dürfte die V2 die einzige Waffe sein, deren Produktion mehr Menschen tötete als ihre Verwendung im Krieg. Wernher von Braun kannte die menschenunwürdigen Zustände bei der Produktion seiner Raketen, er suchte gar in anderen Konzentrationslagern Häftlinge selbst aus, die er für besonders geeignet hielt. Ab 1944 wohnte er in der Nähe eines der KZ-Außenlager. 

All das ist seit Jahrzehnten bekannt und es war auch bekannt, als am 3. Oktober 1992 in Peenemünde eine Gedenkveranstaltung unter dem Titel „50 Jahre Raumfahrt. Erbe – Verpflichtung – Perspektive“ stattfinden sollte. Die breite Kritik führt dazu, dass die Landesregierung Mecklenburg-Vorpommern eine wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Versuchsanstalten von Heer und Luftwaffe auf Peenemünde veranlasste.

Nachdem die meisten Gebäude im Krieg zerstört oder nach Kriegsende abgetragen worden waren, beherbergt das verbliebene und restaurierte Kraftwerksgebäude der Versuchsanstalten heute ein Museum, in dem die Ergebnisse dieser Aufarbeitung präsentiert werden. In moderner und ansprechender Weise, darunter mittels einer App, wird den Besuchern ein Rundgang über das Areal der laut Museum größten militärischen Forschungseinrichtung ihrer Zeit in Europa vermittelt. Im Museum selbst werden jedoch nicht nur technikgeschichtlich die wegweisenden Entwicklungen dokumentiert. Es wird auch ausführlich der zehntausenden Häftlinge gedacht, die zur Erreichung dieser Entwicklungen ermordet wurden.

Tourismus an den Grenzen des Erträglichen

Das Kraftwerksgebäude wird auch für Theater- und Konzertveranstaltungen genutzt wird, mag auf manchen Betrachter merkwürdig wirken. Es zeigt, dass Mecklenburg-Vorpommern für einen seiner bedeutendsten Wirtschaftszweige, den Tourismus an die Grenzen des Erträglichen geht. 

Nun muss sich die Landesregierung, nun muss sich Manuela Schwesig fragen lassen, ob eine Kulturleistung, die durch den Tod von 20.000 Menschen und der brutalen Misshandlung weiterer 40.000 überlebender Häftlinge möglich wurde, ein Aushängeschild sein kann, das den Titel „Weltkulturerbe“ tragen soll. Einer der Überlebenden war Heinz Galinski, der erste Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Er wurde wie Wernher v. Braun 1912 geboren und starb 1992 in Berlin. Schwer vorstellbar, dass er heute nicht seine Stimme gegen eine solche – zurückhaltend formuliert – politische Geschmacklosigkeit erheben würde.

Massenmord und Massentourismus

Elio Adler, Vorsitzender der „Werteinitiative jüdisch-deutsche Positionen“, kann den Vorstoß Schwesigs nicht begreifen: „So einfach geht Erinnerungskultur nicht. Die Verklärung einer Todesschmiede zu einem schützenswerten Erbe darf nicht geschehen.“ Es wird sich zeigen, ob die Unesco, zuständig für die Vergabe der Welterbe-Titel, dem einseitigen Geschichtsverständnis der Landesregierung von Mecklenburg-Vorpommern folgt. Und sicher gibt es auch geschmackvollere Wege, die großartige Kulturlandschaft des nordöstlichen Bundeslandes touristisch zu fördern.  

Vor allem aber: Welcher Kulturbegriff liegt zu Grunde, wenn ein Ort des Massenmords und der Waffenproduktion dem Weltkulturerbe zugesprochen werden soll? Und für wen wird dieser Ort womöglich Pilgerstätte sein?

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