Kirche und Corona - „Die Kirche muss jetzt nah bei den Menschen sein“

Das zweite Corona-Osterfest steht vor der Tür. Doch Hoffnung will sich nirgendwo recht einstellen. „Cicero“ sprach mit einem Pfarrer aus der Uckermark über das Leiden der Menschen im Lockdown, über das Schweigen der Kirche und über die unveräußerliche menschliche Würde.

Ecce Homo: Wirft uns Corona auf unser nacktes Menschsein zurück? / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Thomas Dietz wuchs in Berlin-Pankow auf. Nach einem Studium der Theologie und zwei Jahren als Vikar wurde er Pfarrer im Evangelischen Pfarramt Schönfeld. Der Pfarrsprengel in der Uckermark setzt sich heute aus acht Kirchengemeinden zusammen.

Herr Dietz, die Passionszeit neigt sich dem Ende zu, das Leiden an und durch Corona aber geht weiter. Sie sind Pfarrer in einem Kirchensprengel in der Uckermark. Wie werden Sie vor diesem Hintergrund die Ostertage begehen?

Wir leben hier in einer der dünn besiedelten Regionen Deutschlands. Zu meinem Pfarrbereich gehören elf Dörfer, allesamt sehr klein, zwischen 50 bis 600 Einwohner. Seit dem ersten Lockdown im Frühling des letzten Jahres versuchen wir, drei Gottesdienste pro Wochenende anzubieten. Seit Corona sind die sogar stärker besucht als sonst.

Haben die Leute in der Gemeinde denn keine Angst?

Die Angst ist ein riesiges Problem. Doch es gibt auch einen großen Wunsch danach, irgendwo zusammenzukommen, Menschen zu treffen und ein ermutigendes Wort zu hören. Am morgigen Karfreitag werden wir daher vier Gottesdienste feiern, am Ostersonntag dann einen.

Sie ignorieren also den Wunsch der Politik, Gottesdienste an Ostern vor allem virtuell abzuhalten?

Unsere Gemeindemitglieder würden sich nur zu einem Bruchteil einen virtuellen Gottesdienst anschauen. Außerdem bin ich der Überzeugung, dass ein wirkliches Miteinander und eine aufbauende Atmosphäre nur erlebt werden kann, wenn man sich wirklich begegnet – das muss ja nicht hautnah sein, aber gerne von Angesicht zu Angesicht. Wer Angst vor solchen Begegnung hat, der kann sich qualitativ gute Fernsehgottesdienste anschauen, und auch unser Kirchenkreis macht natürlich ein Angebot an Online-Gottesdiensten.

Eine klare Haltung. Fühlen Sie sich dabei von der EKD und ihrem Ratsvorsitzenden Bedford-Strohm unterstützt?

Ich bin zumindest froh, dass man die Präsenzgottesdienste an Ostern nicht abgesagt hat. Für mich sind Gottesdienste und das kirchliche Leben als Ganzes kein Privileg, sondern Auftrag. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes haben sich etwas dabei gedacht, als sie der Kirche gewisse Sonderstellungen zubilligten. Gerade in seelischen Notlagen wie jetzt ist die direkte Seelsorge ungemein wichtig. Und gerade heute hat Kirche nah bei den Menschen zu sein.

Aber Theater und Kultureinrichtungen haben doch auch geschlossen, dabei genießt auch die Kunst gewisse Sonderrechte vor dem Gesetz.

Ich helfe der Kultur doch nicht damit, dass ich aus Solidarität auch keine Gottesdienste anbiete. Im Gegenteil: Ich helfe, wenn ich auf die Notlage der Vielen Aufmerksam mache. Und das mache ich, wann immer es mir möglich ist.

Im April letzten Jahres etwa haben Sie einen Brief an Dietmar Woidke geschrieben.

Das hat damals für einiges Aufsehen gesorgt.

Sie haben Ihren Ministerpräsidenten von der Vereinsamung der alten und kranken Menschen in Ihrer Gemeinde berichtet. Hat sich die Situation seither verbessert?

Nein, zu meiner Bestürzung muss ich sagen, dass die Situation sogar noch schlimmer geworden ist, um ein vielfaches schlimmer sogar. Bei vielen Alten hat sich mittlerweile zementiert, was damals nur zu ahnen war. Es gibt ältere Menschen, die jetzt geradewegs die Sprache verlieren. Manche können sich schon gar nicht mehr richtig ausdrücken.

Sind das Hospitalisierungserscheinungen?

Ja, es ist wirklich traurig. Manche machen die Tür nur noch einen Spalt weit auf, weil sie Angst davor haben, todkrank zu werden. Aber dann stehen sie eine Stunde lang im Türspalt, weil sie eigentlich ein unstillbares Bedürfnis nach Begegnung haben. Viele leiden an Einsamkeit. Das ist wirklich erschreckend.

Ist Einsamkeit eventuell schlimmer als das Virus?

Ich habe hier zumindest noch niemanden beerdigen müssen, der an oder mit Corona gestorben ist. Zum Glück. Es gab in unseren Dörfern Erkrankungen. Die aber sind ohne schwere Beeinträchtigungen der Gesundheit abgelaufen. Und dann gibt es die andere Wahrheit: Ich habe Menschen beerdigen müssen, bei denen ich sagen würde, dass sie an Einsamkeit gestorben sind. Die sind regelrecht zu Tode verkümmert. Das ist natürlich ein Extrem, aber es kommt vor. 

Psyche und Körper sind das eine, aber zielen Virus und Maßnahmen nicht auch ins Zentrum menschlicher Spiritualität – in die Sehnsucht nach Verbindung, Geborgenheit und Sinnhaftigkeit?

Natürlich, und zur Spiritualität gehört auch ganz wesentlich die Frage, wie ich mit der Begrenztheit meines Daseins umgehe. Weiß ich, dass ich eines Tages sterben werde? Meine Großmutter zitierte da immer aus den Psalmen: Siebzig Jahre währt unser Leben, und wenn es hochkommt, dann sind es achtzig. Sie selbst ist 89 Jahre alt geworden, und sie war für jeden Tag, den sie jenseits der Achtzig verbringen durfte, unglaublich dankbar. 

Also ist Corona auch eine Art „Memento mori“?

Zumindest haben wir heutzutage eine wirklich hohe Lebenserwartung. Ich bin Jahrgang 1960. In meinem Geburtsjahr betrug die durchschnittliche Lebenserwartung des deutschen Mannes 67 Jahre. Heute liegt sie bei 79, bei Frauen sogar bei 83. Das wird überhaupt nicht erwähnt. Ich denke, wir haben den Tod da etwas verdrängt. 

Haben wir nicht auch das Leben verdrängt? Ist Leben nicht dieser Tage allzu oft einzig noch zum Überleben geworden?

Thomas Dietz / Foto: Franz Roge

Sie haben völlig Recht. Man hält sich an Zahlen fest. Ich kannte einen Mann, der war 92 Jahre alt. In den vergangenen Jahren wollte er mehrmals sterben. Nur die menschlichen Beziehungen schenkten ihm immer wieder neue Lebensfreude. Und dann hat dieser Mann Corona bekommen. Ein Arzt wollte ihn ins Krankenhaus einweisen, doch er wollte zuhause bleiben. Dort ist er schließlich friedlich eingeschlafen im Beisein seiner Enkeltochter und des Pflegedienstes. Hätte man da nicht eigentlich Grund, froh und dankbar zu sein? In der Traueranzeige aber hieß es: „Plötzlich und unerwartet verstarb mit 92 Jahren an Corona …“ Das ist doch verrückt. Wo ist denn da noch ein Gedanke an menschliche Würde? Es herrscht überall nur noch Angst.

Angst ist ja auch ein Thema der Passionszeit. In der Matthäuspassion etwa fleht man: „Reiß mich aus den Ängsten / Kraft Deiner Angst und Pein!“ Welchen Trost kann ein Pfarrer in Anbetracht der derzeitigen Situation geben? Was dürfen wir hoffen?

Ich denke, dass es ganz wichtig ist, den Menschen im Glauben Halt zu geben, damit sie sich vom Trommelfeuer der Nachrichten nicht irre machen lassen. Wenn mir das in meinen Gottesdiensten und bei meinen Hausbesuchen auch nur ein bisschen gelingt, dann kann ich doch wirklich dankbar sein.

Dennoch scheinen viele Menschen derzeit das Gefühl zu haben, dass es der Kirche als Ganzes nicht gelingt, Trost oder gar Hoffnung zu vermitteln. Viele fühlen sich von der Kirche im Stich gelassen.

Auch mir sagen viele Leute, dass sie sich mehr gewünscht hätten – gerade hier im Osten. Für viele aus der Gemeinde ist die Kirche immer ein Rückhalt gewesen. Und gerade von diesen Menschen höre ich nun vermehrt, dass ihnen von der Institution Kirche eine klarere Aussage fehlt – gerade etwa was die Situation der Kinder und Jugendlichen in der Krise angeht.

Erwartet man da nicht zuweilen auch Übermenschliches? Niemand kann im 21. Jahrhundert noch einmal in die Zeit von Franz von Assisi zurück; niemand kann die Armen und Aussätzigen umarmen und so tun, als könnte man alle medizinischen Vorbehalte beiseiteschieben. Das wäre doch naiv.

Das konnte in der damaligen Zeit ja auch nur so passieren, weil man über die virologischen oder bakteriologischen Zusammenhänge nichts wusste. Aber es geht ja nicht nur um Medizin. Es geht zum Teil um eine bewusst geschürte Panik. Es geht um Kinder, denen man erzählt hat, dass sie unter Umständen Schuld an den Erkrankungen oder gar am Tod ihrer Eltern und Großeltern sein könnten. Und das ist keine nüchterne Theorie. Mir hat eine Frau erzählt, ihr Enkel habe sie angerufen und gesagt: „Oma, ich darf dich nicht besuchen, sonst bin ich schuld, wenn Du stirbst.“ Da müsste Kirche aufstehen und sagen: Das geht nicht! So können wir mit den Menschen nicht umgehen!

Ich möchte noch einmal auf Ostern zurückkommen. Dieses Fest ist ja auch die Geschichte einer Transformation – vom Tod ins Leben, von der Dunkelheit ins Licht. Sehen Sie in der aktuellen Krise nicht vielleicht auch irgendwo das Potential für eine umfassende und positive Verwandlung der Gesellschaft?

Es gibt ein schönes Gebet von Dietrich Bonhoeffer: „Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.“ Das hoffe natürlich auch ich. Ich hoffe, dass die Menschen anfangen, die richtigen Fragen zu stellen: Was ist mir wirklich wichtig im Leben? Wo sind Freunde? Worauf kann ich mich jenseits des Materiellen verlassen? Es geht um das, was zum Menschsein dazugehört: Was gibt uns Würde? Das ist doch die entscheidende Frage.

Das Interview führte Ralf Hanselle

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