Menschliche Gewalt - „Barbarei ist der Normalzustand“

Überall beschwört man das Ende des Westens. Wie sicher sind wir in Düsseldorf oder Berlin eigentlich vor dem Rückfall in Massaker und Völkermord? Der Soziologe, Regisseur und Autor Milo Rau hat sich intensiv damit auseinandergesetzt, was den Menschen zur Gewalt verleitet und was ihn davon abhält

Gedenken an den Völkermord in Ruanda: Bring die Nachbarin um, damit wir sehen, dass Du auf der richtigen Seite stehst / picture alliance
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Constantin Magnis war bis 2017 Chefreporter bei Cicero.

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Herr Rau, Sie haben sich wie wenige andere Künstler mit der Gewaltgeschichte der Menschheit auseinandergesetzt. Machen Sie die Umbrüche unserer Zeit - Stichworte Russland, Terror, Flüchtlinge, Brexit, Trump - vor dem Hintergrund ihrer eigenen Recherchen nicht ziemlich nervös?
Ja, natürlich. Meine Beobachtung als Soziologe und Künstler ist: Barbarei ist der Normalzustand, Zivilisation die Ausnahme. Trotzdem ist dieser Ausnahmezustand etwa in den USA und in Westeuropa institutionell ziemlich gut abgesichert. Das war – und ist teilweise – natürlich anders an Orten, die ich in verschiedenen meiner Projekte sehr genau untersucht habe, etwa in Ruanda, in Teilen des ehemaligen sowjetischen Imperiums oder im Nahen Osten. Die Menschen dort sind durch keine juristischen oder zivilgesellschaftlichen Strukturen vor staatlicher, wirtschaftlicher oder bürgerkriegsartiger Gewalt geschützt. Aber ohne diesen Schutz kann leicht ein totalitäres Gefüge entstehen, es kann sogar zu einem Genozid kommen. Im globalen Kapitalismus ist dieses Nebeneinander von Chaos und Rechtssicherheit ein Stück weit Normalität.

Inwiefern?
Wir leben seit nun bald 70 Jahren in einer Komfortzone. Aber gleichzeitig stecken unsere westeuropäischen und nordamerikanischen Firmen in genau den beschriebenen rechtlosen Regionen drin, und verantworten teilweise die dort stattfindenden Massaker mit. Nehmen sie den Ostkongo, wo ich für mein „Kongo Tribunal“ zwei Jahre lang gearbeitet habe. Dort haben sich internationale Firmen mit lokalen Eliten, der Armee und Rebellengruppen verbündet. Wird etwa eine Coltan- oder Gold-Konzession gekauft, so werden die dort ansässigen Leute vertrieben, oft dabei auch einfach umgebracht. Eine normalisierte Barbarei aus wirtschaftlichen Gründen. Das muss man aber natürlich von gerichteten Genoziden unterscheiden, wie sie in Ruanda oder letztes Jahr beinahe in Burundi stattgefunden haben, also von ethnischen Säuberungen der klassischen Art.

Eine unheimliche Begleiterscheinung von Bürgerkriegen oder Genoziden ist, dass während der dort stattfindenden Gewaltorgien ganz normale, bis dato unauffällige Bürger auf einmal zu extremen Gewalttätern und Massenmördern werden. Gibt es eigentlich eine biographische oder physische Disposition für Gewaltverbrechen in solchen Situationen? Ein Täterprofil, das den SS-Schergen, den IS-Kämpfer und den mordenden Nachbarn in Bosnien verbindet?
Statistisch gesehen sind diese Täter fast immer zweierlei: männlich und jung. Wenn es in einer Gesellschaft einen Überschuss an jungen Männern gibt, die keine Perspektive außerhalb des Militärs oder des Milizenapparats haben, dann ist das schon einmal an sich konflikthaft. Sozialpsychologisch hat das Klaus Theweleit gut beschrieben. Die milizionäre Kleingruppe bietet solchen Menschen dann nicht nur Respekt und ein Gemeinschaftsgefühl, sondern auch das Gefühl von Unverwundbarkeit. Gemeinschaft führt hier zu Desensibilisierung gegenüber dem Leid der Opfer. Das hat laut Theweleit auch damit zu tun, dass bei jungen Männern die Erfahrung der gelingenden Beziehung, auch der Vaterschaft fehlt. Ein Vater hat größere Schwierigkeiten, einem Kind etwas anzutun.

Milo Rau / picture alliance

Wobei gerade das doch durch die Bürgerkriegsberichte aus Bosnien oder Ruanda widerlegt ist. Dort haben Familienväter schwangeren Frauen die Bäuche aufgeschlitzt oder Kindern die Beine abgeschnitten. Wie kann ein psychisch unauffälliger Mensch auf einmal zu solchen Taten fähig sein?
Es stimmt, das kam vor. Ich kenne sogar den Fall einer Mutter, die ihr eigenes, gemischtrassiges Kind umgebracht hat. Das sind aber in Wahrheit Ausnahmen. Harald Welzer erklärt das mit der Idee der Rahmung: In solchen Fällen gibt es gewissermaßen einen Tötungskontext und eine Tötungsphase, sagen wir jeden Tag von 10 bis 16 Uhr, immer in der gleichen Gruppe. Und außerhalb dieser Gruppe und dieses Zeitraums sind diese untypischen Täter, also zum Beispiel diese Väter, die gefühlvollsten, unauffälligsten Menschen. Ich habe das bei meinen Recherchen mehrmals erlebt. Leute, die sagen: Ich kann mir nicht erklären, was passiert ist, das war wie ein Traum, ein Rausch, in dem ich das getan habe. Das ist dann eine fast mechanisch hergestellte Schizophrenie, in die Menschen natürlich auch durch sozialen Druck geraten. Dazu gehört die – in Ruanda sehr reale – Angst, selbst umgebracht zu werden, wenn man nicht mitmordet. Da gilt: Bring die Nachbarin um, damit wir sehen, dass Du auf der richtigen Seite stehst

Wenn ganz normale Familienväter dazu in der Lage sind, was macht uns dann sicher, dass Sie und ich uns unter bestimmten Bedingungen nicht ebenfalls gegenseitig umbringen würden?
Wie gesagt, man kann das sozialpsychologisch beantworten und sagen: Ich habe zwei Kinder und bin 39. Ich bin also über das gefährlichste Alter hinaus, auch wenn ich natürlich immer noch ein Mann bin, denn Frauen sind als genozidäre Täterinnen statistisch irrelevant. Aber abgesehen von diesen internen Gründen gibt es die externen. In Deutschland beispielsweise musste extrem viel passieren, bevor der Genozid an den europäischen Juden möglich wurde: der Erste Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise, die komplette Umprogrammierung der Gesellschaft durch Hitler, die Angst vor Stalin, die festgefahrende Front im Osten, der Terror in der Heimat und der Bombenkrieg – dann erst kam es zum Genozid. Es ist ja nicht so, dass die Deutschen seit Luther die Juden ermorden wollten, dann von Hitler den Freifahrtschein gekriegt und mit den Deportationen begonnen haben. Dass es irgendwo ein Pogrom gibt, weil die Landbevölkerung nach einem Hungerwinter ausflippt oder von einem lokalen Populisten aufgeputscht wird, das kann immer und jederzeit passieren. Ein Genozid jedoch, denke ich, nicht. Dafür muss schon ein gewaltiger Umfang von Voraussetzungen zusammenpassen.

Was denn zum Beispiel? Was muss passieren, damit man sich in meiner Redaktion oder ihrem Ensemble, in Berlin, Zürich oder Düsseldorf beginnt, zu massakrieren?
Oft hängt das zusammen mit breitester Desensibilisierung. Dem deutschen Genozid an den Juden und anderen Gruppen ging ja die extreme Traumatisierung einer ganzen Generation in den Schützengräben voraus: der sinnlose Tod war Alltag geworden. Und der Genozid an den Tutsi antwortet zumindest in der Wahrnehmung der Hutu auf millionenfache Vertreibung, auf die Invasion der Tutsi-Rebellen im Norden von Ruanda, die vier Jahre andauert, bis es zum Genozid kommt. Die Leute sind in Flüchtlingslagern, die hören Horrormeldungen von der Front, die haben Angst, dass sie als nächstes dran sind, die wollen sich verteidigen. Denn dies ist ein wichtiger Punkt: Ein Genozid versteht sich selbst immer als Résistance, es gibt keinen Genozid, der sich nicht als Antwort einer wenn auch nur imaginären Aggression versteht. Dazu kommt die wirtschaftliche Komponente: Es wird kein Genozid ausbrechen in einer Gesellschaft, in der eine Mehrheit ihren Platz findet und ein gewisser Wohlstand herrscht. Erst in dem Moment, in dem jeder sich selbst der nächste ist, wird es gefährlich.

Gibt es denn ansonsten historische Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit solche massenhaft verübten, quasi vergesellschafteten Gräueltaten möglich werden?
Erstens muss es eine Normalisierung des Ausschlusses geben. Das beginnt bei Hasspropaganda, bei extremer Identitätspolitik, wie man sie auch bei aktuellen Rechts-Parteien beobachten kann: Wer gehört dazu und wer ist quasi illegal hier, auch wenn er vielleicht schon seit vier Generationen hier lebt. Wer gehört zum Volkskörper und wer nicht – politisch, rassisch, ideologisch. Rede- und Denkverbote werden systematisch gebrochen, und es wird ein öffentlicher Diskurs geschaffen, in dem plötzlich Dinge gesagt werden, die bisher nicht gesagt werden durften. Dazu gehört auch eine Lust an der Übertretung. Zweitens muss die Regierung oder die Besatzungsmacht juristisch einen rechtsfreien Raum schaffen: Die Gewalt gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen, zuerst verbal und dann tätlich, wird erlaubt, schließlich befohlen. Am Anfang schaut die Polizei weg, am Ende organisiert sie den Abtransport. So lief das in Ruanda, und genauso lief es in Deutschland. Der dritte Punkt ist sehr wichtig: Es muss eine große Gruppe von Menschen geben, die einen realen Vorteil aus dem Genozid zieht. Man ist nur dann bereit, seinen Nachbarn umzubringen, wenn man dafür seine Kühe kriegt, seinen Laden, seine Stellung, sein Haus. Und ist das alles gegeben, dann kommt fast immer noch eine Portion Sadismus dazu – quasi die potenzierte Lust an der Übertretung. Der Tötungsakt wird in vielen Genoziden oft sehr in die Länge gezogen.

Was ist denn dieses Böse im Menschen? Muss man sich das vorstellen wie einen Virus, der sich in solchen Situationen blitzartig überträgt, oder schlummert es immer im Menschen und wird dann geweckt? Wie erklären sie sich das?

Hannah Arendt / picture alliance

Was die Psychologie des Bösen angeht, hat Hannah Arendt es wie folgt zusammengefasst: Das Gute braucht Fantasie, das Böse nicht. Das Böse ist das Normale, die Trägheit des Herzens, die Gelegenheit. Ich kann eine Kuh erbeuten, ich kann vergewaltigen, ich kann mich rächen. Aber sich vorzustellen: Wie können wir, als Beispiel, das Landproblem anders und einvernehmlich lösen – dazu braucht es unglaublich viel Geduld, Triebkontrolle, Enttäuschungsresistenz, eben Fantasie. Aber das haben nur die wenigsten Menschen, und in der reaktiven und hierarchischen Welt des Krieges gibt es keinen Platz dafür.

Sie sprachen vom systematischen Bruch von Sprach- und Denkverboten. In Ihrem Stück „Hate Radio“ setzen sie sich mit der Rolle des Radiosenders RTLM in Ruanda auseinander, der so den Weg für den Massenmord geebnet hat...
Das Zynische und Skurrile ist, dass das RTLM tatsächlich ein Sender war, der entstanden ist, weil die internationale Gemeinschaft in Zentralafrika nach 1989 eine offene, privatisierte Medienlandschaft durchsetzen wollte. RTLM war der erste Privatsender, der eine Lizenz bekommen hat, und dann eben coole Musik gespielt hat, populäre Redner eingeladen hat, nicht mehr politisch korrekt war. So wurde ein Genozid vorbereitet, zwischen Lokalnachrichten und Nirvana.

Wie beurteilen sie die größer werdende Rolle von alternativen Medien bei uns, zu deren Selbstverständnis ja der Kampf gegen politische Korrektheit und Sprachverbote gehört?
Das hat sich ja im amerikanischen Wahlkampf gezeigt, in dem alle großen Mainstreammedien eine Kampagne für Clinton gefahren haben – und nichts ausgerichtet haben. Allerdings überzeugen auch die alternativen Medien niemanden, bei dem nicht eine gewisse Bereitschaft und Erwartungshaltung schon vorhanden ist. Relevant ist, dass die Menschen all diese Dinge, die sie sowieso schon geglaubt haben, endlich auch hören. Dann verstehen sie: Ach, das kann man ja laut sagen. Plötzlich gibt es da eine Stimme, die all die Dinge, an die sie glauben, zusammenfasst und bestätigt. Das ist der Unterschied zu früher, wo es die Möglichkeit des medialen Zusammenschlusses und damit der imaginären Bildung einer „anti-elitären“ Wählerschicht auf nationaler Ebene gar nicht gab.

Wo verläuft für sie bei der Betrachtung der Themen in ihrem Werk eigentlich die Grenze zwischen Verstehen wollen, Neugierde und Voyeurismus? Wie trennt man das als Künstler voneinander?
Ich denke, das Theater ist per se ein voyeuristisches Medium. Die Bühne ist offen und beleuchtet, da steht jemand und spricht, und das Publikum sitzt im Dunkeln und guckt zu. Es gibt diesen ganz interessanten Horrorfilm, The Gathering, wo die Leute, die bei der Kreuzigung Jesu zugeguckt haben, für ewig dazu verdammt sind, sich Unfälle anzuschauen. Die Boshaftigkeit, der Genuss des Zuschauens ist etwas, das ich in meinen Stücken oft thematisiere, auch als Selbstkritik: Wer ist das eigentlich in mir, der zuschaut? Oder der Breivik oder anderen Massenmördern ein Podium gibt? Wenn ich also als Künstler diese, um Harald Welzers Wort wieder aufzunehmen, Rahmung schaffe, in dem das Böse zu sprechen beginnt, dann gibt es für mich auch immer die Notwendigkeit, das irgendwie zu legitimieren.

Wie zum Beispiel?
Indem ich beispielsweise mit Künstlern arbeite, die mit der Inszenierung eine direkte Verbindung haben. Im Fall von „Hate Radio“ etwa wurden die rassistischen Moderatoren von Genozidüberlebenden gespielt, im „Kongo Tribunal“ stehen Überlebende von Deportationen auf der Bühne. Oder indem die Zuschauer in dieser voyeuristischen Situation ins Nachdenken kommen – indem die Fantasie des Guten in Gang gesetzt wird.

Was bleibt an einem hängen, wenn man sich so intensiv mit dem Grauen der Welt, mit Genoziden, Massenmördern oder Kinderschändern auseinandersetzt, wie Sie das tun? Und wie verarbeitet man das?
Das setzt sich natürlich im Körpergedächtnis fest. Ich war neulich mit meinen Kindern im Stadtwald unterwegs. Da sind sie vom Weg abgekommen, und ich habe sie instinktiv zurückgehalten, weil ich kurz davor in Syrien und im Nordirak war – und dort muss man halt vorsichtig sein, wegen Sprengfallen und Minen. Mir stecken ganz viele solcher Dinge im Körper, im Gedächtnis. Das ist das organische Leben der Seele, und das verändert sich natürlich über die Jahre. Gleichzeitig ist das größte Heilmittel die Externalisierung: in meinem Fall in der Kunst, in Texten, in solchen Gesprächen wie jetzt. Also in einer Art Nutzbarmachung dieses dunklen Wissens. Und da merkt man dann, es macht Sinn, dass man sich das einverleibt – und verwandelt wieder hinausgibt.

„Wir befinden uns in der Vorgeschichte des Menschlichen“, haben sie Jean Ziegler einmal zitiert. Haben sie wirklich die Hoffnung, dass wir uns noch nach oben entwickeln? Haben das die Menschen nicht schon vor dem Ersten Weltkrieg geglaubt? Ist diese Hoffnung nicht naiv und widerspricht jeder historischen Erfahrung?
Ja, dieser Satz klingt natürlich zuerst wie banaler Hegelianismus. Der Fortschrittsglaube ist von der Geschichte delegitimiert, gerade die genozidäre Gewalt etwa kehrt immer wieder zurück, und zwar strahlend, gut gelaunt und geradezu monoton gleichförmig, also immer in der gleichen Verlaufsform. Aber ich meine etwas anderes – das, was ich den „globalen Realismus nenne“, eine Nutzbarmachung unseres Wissens. In der Bibel heißt es: „Denn sie wissen nicht, was sie tun.“  Vom 16. Jahrhundert und der Vernichtung der indigenen Kulturen der beiden Amerikas will ich gar nicht sprechen, aber noch das 19. Jahrhundert wusste fast nichts von den kolonialen Hyperverbrechen, die damals in Afrika begangen wurden. Um 1900 fand im Kongo eine Art ungeplanter Genozid statt, Millionen starben auf den Kautschukplantagen – das hat damals kaum jemand mitbekommen.

Heute werden solche Dinge skandalisiert.
Ja, die Berichterstattung über Burundi etwa im vergangenen Jahr hat dazu beigetragen, dass es nicht zu Schlimmerem kam. Und das meine ich: Wir befinden uns in der Lage, zu wissen, was geschieht, was wir tun. Und genau das fordert auch unsere Fantasie des Guten nochmal neu heraus. Begriffe wie Mensch oder Menschheit, das ist nur global denkbar. Und diese Globalisierung nicht nur der Kapitalströme und der Kriege, sondern des Mitleids und vor allem der Solidarität ist das, was ich mit meiner Arbeit vorantreiben will. „Gott hat keine anderen Hände als die unseren“, heißt es in einem religiösen Lied. Wir könnten sie ja ausnahmsweise für etwas Sinnvolles benutzen.

Milo Rau, geboren 1977 in Bern, ist ein Schweizer Regisseur, Theaterautor, Journalist und Sozialwissenschaftler. 2007 gründete er das International Institute of Political Murder (IIPM) zur Produktion und internationalen Verwertung seiner Theaterinszenierungen, Aktionen und Filme. Sein neues Stück „Die 120 Tage von Sodom“ wird am 11. Februar 2017 am Schauspielhaus in Zürich uraufgeführt.

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