Meinung - 68: Fluch oder Segen?

Zum Attentat an Rudi Dutschke vor 50 Jahren: Wir haben 14 Persönlichkeiten – Zeit­zeugen, Nach­geborene, Politiker und Schriftsteller  – gefragt, ob die Studenten­revolte ein gutes oder ein schlechtes Kapitel in der deutschen Nachkriegsgeschichte war. Ihre Antworten sind äußerst unterschiedlich

Erschienen in Ausgabe
Illustration: Kati Szilagyi
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Felicitas Hoppe, 56, Schriftstellerin

Was mich und 68 betrifft: weder Segen noch Fluch; weder Verheißung noch schlaflose Nächte; weder der Traum von morgen noch der Albtraum von gestern; sondern nichts als die leise Erinnerung an die langen Tische der Zeit, an denen sie trinkend und rauchend unter uns saßen, im großen Karneval der deutschen Nachkriegsgeschichte, zwischen Dornenkrone und Hirschgeweih, das wir inzwischen längst selber tragen, zwischen Porsche und Maschinengewehr, immer halb Heilige und halb Sündenbock. Denn die Geschichte besteht nicht aus Schweinehälften, sie steckt immer dazwischen; wer ohne Schuld ist, werfe den letzten Stein. Oder, um es mit Cicero etwas leichter zu sagen: „Alles aber, was nur von kurzer Dauer ist, muss erträglich sein, auch wenn es eine schwere Last ist.“  Doch der Wunsch nach Erträglichkeit bringt uns wenig voran, vor allem nicht jene (Generation Pilatus), die immer noch damit beschäftigt sind, ihre Hände für immer in Unschuld zu waschen. Jeder Todestag wird von einer tragischen Torte gekrönt, auf der, neben 50 flammenden Kerzen, in großen goldenen essbaren Lettern für immer dieselbe ciceronische Frage steht: CUI BONO? Herzlichen Glückwunsch! Und fröhlich voran.

Friedrich Christian Delius, 74, Schriftsteller

Sorry, aber dümmer kann man nicht fragen. Und unhistorischer auch nicht. Mit Segen-Likes oder Fluch-Dislikes ist hier keine Erkenntnis zu ernten. Das fördert nur die Klischeeschaufelei und Gewissheitslümmelei, die wir (antidogmatischen) 66er schon 1968 ff. an den (dogmatischen) 68ern und ebenso an den (dogmatischen) Anti-68ern bekämpft und verlacht haben. Eins jedenfalls haben die Klügeren von 68 gelernt: so viel Zweifelslust, Weitsicht, Zweiseitigkeit, Humor wie möglich. Und wer genauer wissen will, was mich mit diesen Zeiten verbindet, darf sich freuen auf Bücher wie „Amerikahaus und der Tanz um die Frauen“ oder „Als die Bücher noch geholfen haben“.

Jürgen Habermas, 87, Philosoph

Ich habe mir nicht träumen lassen, dass ich zu diesem Thema noch nach 50 Jahren eine Umfrage beantworten würde. Den Anlass geben die in der AfD-West wiederbelebten Mentalitätsreste aus der alten Bundesrepublik und die dümmliche Anbiederung des Herrn de Maizière ans Wahlvolk der abnippelnden AfD – eigentlich müsste ein Innenminister wissen, dass jede „Leitkultur“ mit einem liberalen Verständnis des Grundgesetzes unvereinbar ist. Ich stelle mir vor, wie es heute mit der politischen Mentalität unserer inzwischen liberal gewordenen Gesellschaft ohne die Protestbewegung der 1960er-Jahre und ohne die radikalisierte Thematisierung der NS-Zeit bestellt wäre.

Solche kontrafaktischen Überlegungen sind müßig. Aber Tatsache ist, dass Adenauer für das fragile Gewebe der politischen Kultur, ohne die sich eine demokratische Verfassungsordnung nicht stabilisieren kann, jede Sensibilität fehlte. Eine intellektuelle Opposition gegen Adenauers pragmatische Fürsorge für die ungebrochene personelle Kontinuität der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft mit den funktionalen Eliten der NS-Zeit hat es auch in meiner Generation gegeben. Aber die blieb ohnmächtig – bis eben zu jener Revolte einer kleinen Gruppe von Studenten aus der, wenn man so will, „nächsten“ Generation. Denn erst die 68er haben ihre Eltern zur Rede gestellt, haben Tabubrüche und öffentlichkeitswirksame Konfrontationen von Angesicht zu Angesicht nicht gescheut. Und um vorweg auf den stereotypen Einwand einzugehen: Im SDS ist von Anbeginn eine „Gewaltdiskussion“ geführt worden, die zeigt, dass die Auseinandersetzung mit den Kräften, aus denen nach Auflösung des SDS die RAF hervorgegangen ist, in den eigenen Reihen begonnen hat.

Kurzum, das Ergebnis war die sehr allmähliche Liberalisierung der politischen Mentalitäten der bundesrepublikanischen Gesellschaft, die sich erst im Laufe der 1980er-Jahre ankündigte, als Helmut Kohl mit seiner pompös angekündigten „geistig-moralischen Wende“ scheiterte. Den Erfolg stecken sich heute manche Politiker wie einen Orden ans Revers – er wäre ohne 68 und die anschließenden, in der politischen Öffentlichkeit breit geführten Diskussionen nicht zustande gekommen. In jedem Fall wird man die Auslöser- und Beschleunigungseffekte der 68er-Bewegung nicht gering schätzen, wenn man sich daran erinnert, dass Äußerungen im Stile des Herrn Höcke, über die sich heute die ganze Republik – einschließlich Frauke Petry – aufregt, noch in den 1990er-Jahren zum normalen Tagesdiskurs gehörten. Sie erinnern nämlich fast wörtlich an die Polemik von führenden westdeutschen Intellektuellen und einflussreichen Journalisten gegen die Errichtung des Berliner Holocaust-Denkmals.

Paul Ziemiak, 31, Vorsitzender der Jungen Union

Klar ist, dass die 68er nicht nur optische Farbtupfer, hippe Frisuren, Männer mit langen Haaren und ausgeleierter Kleidung hinterlassen haben. Das Aufbrechen mit dem Schweigen der Nachkriegszeit und die Auseinandersetzung mit den eigenen Eltern und Großeltern über die Zeit des Nationalsozialismus waren ebenso notwendig wie die Debatten um die Gleichberechtigung von Männern und Frauen oder der unverkrampftere Umgang mit Sexualität. Dennoch darf man rückblickend die Zeit nicht verklären. Die Zeiten waren innerfamiliär, aber auch innen- wie außenpolitisch so sehr aufgewühlt, dass sich ein undurchsichtiges und explosives Gebräu an verqueren Strömungen, Vorlieben und Zielsetzungen ergab. Aus friedlichen Protest- und Studentenbewegungen entwickelten sich mancherorts linksradikale und kapitalismusfeindliche Strömungen, die nicht selten in Gewalt und Intoleranz mündeten oder im Extremfall als Rote Armee Fraktion Terror und Tod säten.

Das Gefühl moralischer Überlegenheit gegenüber allem Altbekannten, gepaart mit einer zuweilen hass­erfüllten Ablehnung des Staates und seiner Autoritäten spaltete somit nicht nur Familien, sondern ließ Werte erodieren und brachte Menschenleben in Gefahr. Schlussendlich standen die 68er für eine Zeit des Aufbruchs und der antiautoritären Rebellion, die uns sicherlich bis heute mehr Liberalität und einen kritischeren Blick auf unsere nationalsozialistische Vergangenheit hinterlassen hat. Retrospektiv kommt diese Würdigung aber nicht ohne den ebenfalls kritischen Blick auf die negativen Facetten dieser Zeit aus, sodass für mich ein differenziertes Bild zwischen Segen und Fluch bestehen bleibt.

Johanna Uekermann, 29, Juso-Vorsitzende

Im Jahr 1968 war mein Vater gerade 20 Jahre alt. Er hat in Regensburg studiert und war Vorsitzender eines sozialistischen Studentenbunds. Sie haben den Regensburger Dom blockiert, Diskussionen geführt, protestiert. „Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren“ – man kennt das. Damals hat mein Vater für Bildungsgerechtigkeit, Mitbestimmung und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern gestritten.

Die 68er-Generation hat vieles erkämpft – die Hochschulen haben sich geöffnet, das Bafög wurde eingeführt, die Aufarbeitung der Nazivergangenheit endlich angegangen. Die 68er haben die verkrustete Bundesrepublik aufgebrochen. Als ich knapp 40 Jahre später selbst einen Hörsaal im Zuge der Bildungsproteste besetzt habe, drängten sich natürlich Assoziationen zu den Protesten von damals auf. Denn abgeschlossen sind diese Kämpfe noch lange nicht. Auch heute noch ist Bildung stark abhängig vom Elternhaus, die große Mehrheit der Professoren sind Männer, und viele Studierende sind im Studium extremem Druck ausgesetzt. Die 68er haben gezeigt, dass sich das Bestehende verändern lässt – wenn man es gemeinsam politisch erkämpft.

Thea Dorn, 46, Schriftstellerin

Als Lüftungsaktion hat 68 der (west)deutschen Gesellschaft gutgetan. Nur schade, dass danach die Putzgruppen kamen, die das bundesrepublikanische Kind mit dem Bade ausschütten wollten. Wer im demokratisch verfassten Deutschland verlangt, dass sich die Verhältnisse von Grund auf ändern müssen, hat nichts begriffen.

Margot Käßmann, 58, evangelisch-lutherische Theologin

1968 war ich zehn. Aber ich ging in Marburg zur Schule, und da war zu spüren, wie viel Anspannung es gab. In unserer Schule wagten Abiturientinnen – ein Mädchengymnasium war das –, kritische Fragen zu stellen! Das sorgte für Empörung. Wir Jüngeren fanden das spannend! Und zu Hause wurde heftig diskutiert über „Hippies“ und „Langhaarige“. Bei Letzteren waren Männer gemeint. Bei Mädchen galt: „Das lange Haar ist die Ehre der Frau“ (1. Korinther 11,15).

Sicher, nicht alles war toll. Der 68er-Spruch „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ zeigt, was für ein Machogehabe es da auch gab. Aber: Infragestellung der Prügelstrafe, Erneuerung des Verhältnisses von Eltern und Kindern, weg vom Gehorsam hin zu partnerschaftlichem Miteinander, das war befreiend. Es dauerte noch bis 2000, bis das Recht auf gewaltfreie Erziehung kam. Dass Männer alsbald nicht mehr die Arbeitsstelle ihrer „Gattin“ kündigen durften, wenn sie den ehelichen Pflichten nicht nachkam – das war nun wirklich an der Zeit. Einen Knicks machen zur Begrüßung oder einen Diener, wie furchtbar förmlich war das.

Und auch in den Kirchen hat sich einiges geändert. Frauen wurden endlich in allen Ämtern zugelassen – bis zur ersten Bischöfin dauerte es noch bis 1992! Und erst 1972 fiel in den meisten Landeskirchen das Gesetz, nach dem Frauen ihre Ordinationsrechte bei Eheschließung aberkannt wurden. Ich bin sehr froh, dass ich nicht schon 60 war, als dieser Muff infrage gestellt wurde.

Alexander Gauland, 76, AfD-Politiker

Eine Mischung aus Marx und Coca-Cola hat Joschka Fischer die 68er-Bewegung einst genannt, also eine Kreuzung von popkultureller amerikanischer Individualisierung mit dem Steinzeitkommunismus von Mao und Marx. Und genau das ist das Problem dieser Entwicklung geblieben. Sie verkörpert zwei Elemente, die aus gegensätzlichen Ecken kamen, und wollte die Werte des alten Europa, also Heimat, Identität, Nationalstaat, Volk, Familie und Traditionen im Säurebad der Globalisierung auflösen. Insofern ist es schon richtig, wenn wir uns gegen die „rot-grün versiffte 68er-Generation“ wehren.

Dabei begann alles durchaus vernünftig und sinnvoll. Ich bin selbst in einer Marburger Studentendemonstration aus Anlass des Todes von Benno Ohnesorg mitgelaufen und habe in der studentischen Selbstverwaltung gegen die „Macht der Ordinarien“ opponiert. Wir wollten Reformen, aber keine Begeisterung für Maos rotes Buch oder gar die Verherrlichung Pol Pots. Doch der Reformansatz wurde bald verdrängt von revolutionären Fantasien, Kommuneerlebnissen und Dutschke-Rhetorik, die allmählich die naturgemäß ausbleibende reale Revolution in eine kulturelle umwandelten. Und dieser verdanken wir dann jene Missge­burten aus „repressiver Toleranz“, Extremfeminismus, ökologischen Übertreibungen und Verlust des inneren Gleichgewichts unserer Gesellschaft, die dazu geführt haben, dass die Vertreter dieser Generation ungezügelte Masseneinwanderung als kulturelle Bereicherung preisen und die Selbstbehauptung des Eigenen als Nationalismus und Fremdenfeindlichkeit denunzieren.

Leider, so muss man hinzufügen, ist es einigen Vertretern dieser Generation in Wissenschaft und Politik gelungen, Begriffe umzudefinieren und die natürliche Liebe vieler Menschen zu ihrem Land als etwas Verwerfliches, mit modernem Lebensgefühl Unvereinbares hinzustellen. Was als notwendige Reform gegen den „Muff von tausend Jahren“ begann, endete als autoritäres Projekt zur Umerziehung der Deutschen. Kein Wunder, dass diese sich nun wehren und ihr Land, ihre Heimat nicht den Globalisierungsfantasien von rechts wie links opfern wollen.

Bodo Kirchhoff, 68, Schriftsteller

Für einen, der in den Vorwehen von 68 in einem evangelisch verklebten Internat war, tat sich mit den Berliner Ereignissen infolge des Schahbesuchs ein Vorhang auf – hinter dem, in unseren Augen, das wahre Leben erschien. Und als wir auf der üblichen Berlin-Klassenreise, den Theaterbesuch schwänzend, die Gründung einer Kritischen Universität samt einer Rede Rudi Dutschkes, Inkarnation des blitzgescheit Ungemütlichen, miterlebten, war es um mich geschehen. Bis zum Abitur hatte das Internat nichts mehr zu lachen; ich schleuderte Begriffe über die Erzieherschaft, die dem, der sich da produzierte, das Gefühl gaben, über das Wasser des nahen Bodensees laufen zu können.

Und der Wahn, dass einem all die angelesenen Wörter, von A wie antiautoritär bis Z wie Zynismus, auch noch Flügel verliehen, ging dann so weit, dass ich als Einziger meiner Klasse der Einberufung folgte und militärischer Ausbilder wurde – Vorbereitung auf den bewaffneten Kampf gegen den Polizeistaat. Nur blieb von den Internatsfreunden, die in Westberlin waren, jeder Beistand aus, sie lagen mit Genossinnen in Betten, ich mit Rekruten im Schlamm; die neue Wörterwelt begann hier schon zu bröckeln, und der Soldat, der keiner war, warf sich ins Schreiben, in ein Erzählen.

Zehn Jahre hat es von da an gedauert, bis auch alle durch das Studium noch hinzugekommenen Begriffe, die einer subversiven Psychoanalyse in den Nachwehen von 68, über Bord geworfen waren und sich die Fiktion als sicherste Quelle von Wahrheit zeigte, dazu als Weg, auch weiter ungemütlich zu sein – heute wieder aus der Opposition, hat doch die Sprengung von einst längst zu neuen Gemütlichkeiten geführt, bis hin zum heimeligen Umweltkrimi mit feministischer Kommissarin.

Was aber ist an Gutem geblieben von damals? Vielleicht eine verbreitete Menschenerwärmung, dort, wo es den Luxus von Frieden gab (auch dank der viel gescholtenen USA), eine Befreiung der Gefühle, bedroht nur vom Begriff der Empathie; und eine neue Idee von Schönheit, die auch klug und ungemütlich sein kann – wie war ich auf die Entfernung verliebt in die junge Angela Davis!

Andreas Rödder, 49, Historiker

68 war die gesellschaftspolitisch-linke Variante der technokratischen Utopie von der „autogerechten Innenstadt“ – des Glaubens, eine bessere Welt zu bauen, indem man funktionsschwache Altstädte planiert und großflächige Schneisen für das Neue schlägt, um wenige Jahre später begrünte Tempo-30-Zonen anzulegen und die stehen gebliebenen Altstädte zu gentrifizieren.
Das alles ist inzwischen weit weg; Rudi Dutschke wäre vor zwölf Jahren in den Ruhestand gegangen. Die sozialistische Utopie der klassenlosen Gesellschaft – einschließlich ihrer totalitären Blüten der Mao-Begeisterung – ist inzwischen von der Utopie des Regenbogens aus den Farben Diversität, Antidiskriminierung, Gleichstellung und Inklusion abgelöst worden – einschließlich neuer Formen repressiver Toleranz, wahlweise gegen Herfried Münkler oder gegen biodeutsche Vollzeitmütter.
Ist der Regenbogen das Erbe von 68? Emanzipatorisches Potenzial ist beiden ebenso gemeinsam wie selbstreflexionsbefreite Selbstgewissheit. Diese zeithistorische Brücke hat allerdings einen Schönheitsfehler, musste sich der Feminismus doch erst einmal aus der hegemonialen Männlichkeit der 68er befreien. Um nicht ungerecht zu werden: Auch wohlmeinende Alt­achtundsechzigermänner haben sich daran beteiligt und sich zu Vorkämpfern der Gleichstellung gewandelt – nachdem ihr langer Marsch sie in die komfortabel ruhegehaltsfähigen Führungspositionen des öffentlichen Dienstes geführt hatte, versteht sich.

Cora Stephan, 66, Schriftstellerin

War nicht 68 im Grunde schon alles vorbei?
Ich war ein Kind der 1960er, liebte die Beatles und den Merseysound, klampfte Folksongs für den Frieden, fand alle Älteren spießig und träumte von Swing­ing London und Bewusstseinserweiterung. Alles war irgendwie im Africola-Rausch, die Welt der Erwachsenen dagegen ödes Schwarz-Weiß. Dass die beim Anblick eines Mao-Buttons oder einer fundamentalen Kritik am Kapitalismus ausrasteten, machte den Sozialismus erst so richtig sexy.

Mit gerade mal 17 Jahren stand ich im Sommer 68 auf der Karlsbrücke in Prag und schwelgte im Gefühl, Teil einer weltumspannenden Jugendbewegung zu sein. Alles schien möglich, auch ein Sozialismus, der nicht so hären aussah wie das, was ich beim Verwandtenbesuch in der DDR zu sehen bekam. Zwei Wochen nach meiner Rückkehr walzten die sowjetischen Panzer diesen und andere Träume nieder. Das macht immun gegen jeden Realexsoz.

Warum Teile der Studentenbewegung nach 68 dem Stalinismus, Maoismus oder Realsozismus huldigten, womit der ganze schöne Jugendzauber in dogmatischem Sektierertum versuppte, ist mir bis heute nicht verständlich. Auch nicht die seltsame Solidarität mit Schießkommandos wie der RAF oder dem Mullah-Regime in Persien oder das Sammelbüchsenschwenken für allerlei selbst ernannte Volksbewegungen. Was immer 68 bedeutete – was danach kam, war das eigentlich Furchterregende.
Das Irrste: Ausgerechnet die abseitigsten Ideen aus der Frauenbewegung genießen heute Gesetzesrang. So viel Sieg wäre wirklich nicht nötig gewesen.

Wolfgang Kubicki, 65, stellvertretender FDP-Vorsitzender

Die 68er haben eine erstaunliche Interpretationsgeschichte hinter sich. Waren sie zunächst die verabscheuungswürdigen Zerstörer, die nicht davor zurückschreckten, Gewalt als Mittel der Durchsetzung politischer Ziele anzuwenden, galten sie später als die eigentlichen Bereiter eines demokratischeren Deutschlands. Zugegeben, letztere Definition stammt vornehmlich aus den Reihen der 68er selbst, die zeitlebens nicht dafür bekannt waren, ihre eigene historische Bedeutung bescheiden auszulegen.

Mittlerweile sind wir hier etwas geläutert – um es freundlich zu sagen. Ohne Frage: Es hat große Umbrüche gegeben, die Deutschland um die Jahrzehntwende der 1960er und 1970er demokratischer und weltoffener werden ließen. Welche Funktion die 68er hierbei hatten, kann man mit einem gewissen Abstand besser sehen.

Denn die 68er lebten nicht das vor, für das sie sich später selbst rühmten. Die Bundesrepublik wurde zweifellos in dieser Zeit toleranter, obwohl in öffentlichen Diskussionen jede abweichende Stimme in unvergleichlicher Selbstgerechtigkeit und Intoleranz niedergebrüllt wurde. Die Bundesrepublik wurde zweifellos gleichberechtigter, obwohl das klassische 68er-Bonmot „Wer zweimal mit derselben pennt, gehört schon zum Establishment“ alles andere als emanzipatorische Grundzüge trug.

So wurde die Bundesrepublik wahrscheinlich allein durch das Aufbrechen des „Alten“ moderner. Hierfür waren die 68er gut. Als leuchtendes Vorbild für Weltoffenheit hingegen taugen sie bis heute nicht.

Christoph Stölzl, 73, Historiker

Mein 68 habe ich inmitten von antikommunistischen Demonstrationen erlebt. Wie das, ausgerechnet 1968? Das macht: Ich war als Student in Prag, vom Januar bis Dezember. Tagsüber saß ich an k. u. k. Polizeiakten der europäischen Revolution von 1848, abends stand ich mit Freunden auf den Plätzen, wo die tschechische Revolution als Dauerpalaver stattfand.

Meine zentrale Erinnerung: das Aufwachen am 21. August um vier Uhr früh vom Dröhnen der Flugzeuge, die Breschnews Luftlandetruppen absetzten. Nie werde ich die weinende alte Vermieterin vergessen, die nur sagte: „Ted jsou tady“ – „Jetzt sind sie da.“ Nie das Gefühl, wie es ist, wenn man in einen Hauseingang rennt, weil auf der anderen Seite des Platzes ein Maschinengewehr zu rattern beginnt, nicht die schneidigen sowjetischen Panzerschützen und ihre steinernen Gesichter unter den lila Baskenmützen. Nie das Staunen darüber, wie schnell man eine Millionenstadt besetzen kann.

Dann kam der – nutzlose – Widerstand der Besetzten mit Wandzeitungen, die die Innenstadt zu einem einzigen Aufschrei machten. Die tschechischen Freunde weinten vor Wut. Der einzige glückliche Mensch rund um mich war ein alter Archivar, der jeden Abend mit reicher Beute an Flugblättern und anderen Zeitzeugnissen im Lesesaal aufkreuzte.

Im Winter 1968 kam ich zurück an meine Universität im Westen. Auch hier hatte inzwischen eine Revolution stattgefunden: In den Hörsälen war das Rauchverbot gefallen oder wurde ignoriert – es wurde jetzt gequalmt, was das Zeug hielt.

Paul Nolte, 54, Historiker

Die Babyboomer wie mein Jahrgang 1963 sind die Zu-Spät-Gekommenen von 1968. Wir sind im epigonalen Nachrauschen des Protests gegen Establishment und Konventionen groß geworden, in den Relikten romantischer Widerstandshaltung, eines Kultes der Staats- und Normalitätsverachtung, der in den westdeutschen Reformgymnasien ein nährendes Milieu fand. Und als ich an die Universität kam, war die sichtbarste Kraft der MSB Spartakus, für den 1968 in Prag eine Konterrevolution besiegt wurde.

Politisch war das deutsche 68 weithin ein Fehlschlag – das lag an den Ängsten wegen der „1000 Jahre“, ihrer realen Kontinuität und imaginierten Wiederkehr im demokratischen System der Bundesrepublik. Institutionenverdacht, Parlamentarismuskritik, linker Antiliberalismus: Vielleicht war das, im Rückblick gesehen, eine Art ritueller Teufelsaustreibung. Gewiss, der Marsch durch die Institutionen wurde schnell angetreten, aber viele 68er haben sich noch jahrzehntelang lieber die Zunge abgebissen als ein gutes Wort über die verspottete FDGO zu verlieren.

Dagegen steht die kulturelle Befreiung, die große soziale Egalisierung. Zu den wichtigsten und besten Folgen von 68 zählt die neue Frauenbewegung. Manches ging, und manchmal verdientermaßen, auf Kosten traditioneller Bürgerlichkeit, aber langfristig sind die Alt-68er und ihre grün-schwarz-rot-bunt-gescheckten Nachkommen selber liberale Bildungsbürger in Jeans und Cordsakko geworden. Insofern können wir ihnen dankbar sein – List der Geschichte.

 

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