Medien über Nizza - Der islamistische Reflex

Am Tag nach dem Terroranschlag von Nizza gibt es noch keine Beweise, dass der Täter Verbindungen zum IS hat. Trotzdem spekulierten die Medien schon am frühen Morgen über Dschihadismus

Leerer Strand von Nizza: Am Tag nach dem Terroranschlag bleibt der Tourismus aus / picture alliance
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Petra Sorge ist freie Journalistin in Berlin. Von 2011 bis 2016 war sie Redakteurin bei Cicero. Sie studierte Politikwissenschaft und Journalistik in Leipzig und Toulouse.

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Der 14. Juli wird nicht nur als traurigster Nationalfeiertag Frankreichs in die Geschichte eingehen. Wieder erschütterte ein Terroranschlag das Land. Die Promenade Anglaise in der Hafenstadt Nizza, dieser paradiesische Ort mit Palmen und Sandstrand, verwandelte sich in der Nacht zum Freitag in ein Blutbad. Der Attentäter, Mohamed Lahouaiej Bouhlel, tötete mit einem Lastkraftwagen 84 Menschen, darunter zehn Kinder. 200 Menschen sind verletzt.

An diesen Tag wird man sich auch erinnern müssen, weil er ein trauriges Beispiel für das Versagen des Echtzeitjournalismus ist. Solche Krisensituationen sind für Medien normalerweise auch ökonomisch interessant: Die Online-Zugriffszahlen, die TV-Quoten, die Zeitungsauflagen schnellen nach oben. Die Medien werden Gejagte von Gerüchten, die in den sozialen Netzwerken kursieren. Dort war schnell von Dschihadismus die Rede.

Dünne Beleglage

Der Reflex, dass die Tat einen islamistischen Hintergrund haben müsse, war sofort da. Der Attentäter hat tunesische Wurzeln. Und schon in der Vergangenheit hatte der sogenannte Islamische Staat dazu aufgerufen, Fahrzeuge für Anschläge zu benutzen. Schließlich sagte auch Frankreichs Präsident Hollande direkt am Morgen: „Ganz Frankreich ist vom islamistischen Terrorismus bedroht.“

Dennoch ist die Beleglage auch an Tag 1 nach dem Massaker dünn. Stundenlang kursierte im Web die Behauptung, der Attentäter habe „Allahu Akbar“ gerufen. Die Behauptung fußte auf einer dubiosen Meldung der britischen „Daily Mail“, die nicht gerade für Qualitätsjournalismus steht, und des „Telegraph“, der sich auf eine Meldung von „Nice Matin“ berief, wo es nach Angaben der Zeitung gar keine gab. Und ab da schrieben alle voneinander ab: Die Bild von der Daily Mail, der „Stern“ von der „Bild“, der „Sydney Morning Herald“ vom „Telegraph“. Nur vor Ort fragte offenbar niemand nach.

Dort verbreitet „Nice Matin“ erst am Nachmittag ein Video, das einen Zeugen zeigt, der von einem Balkon aus „Allahu Akbar“-Rufe gehört haben will. Bestätigt ist nichts, ausgeschlossen ist auch nichts. Die Staatsanwaltschaft ermittelt noch.

Veränderungen nicht gekennzeichnet

Auf Cicero-Recherchen hin änderten einige Medien ihre Meldungen oder entfernten sie von der Seite. Bild.de dokumentierte die Änderung nicht und entschuldigte sich auch nicht dafür. Motto: Wird schon keinem auffallen.

In sämtlichen Medien aber stand die Marschrichtung seit dem frühen Morgen fest. Um 9:21 Uhr interviewte die BBC den Terrorismusexperten Peter Neumann vom Londoner King’s College, der bar jeder Beweislage behauptete: Es sei „sehr wahrscheinlich“, dass der Täter eine Verbindung zur lokalen Szene habe, die eine lange Tradition dschihadistischer Radikalisierung aufweise. In Nizza seien Dutzende Menschen dem sogenannten Islamischen Staat beigetreten. Er beschrieb die Stadt als „Nährboden für Dschihadismus“.

Der Deutschlandfunk befragte den Terrorismusexperten Guido Steinberg – zum Thema Dschihadismus. Er erklärte den Grund dafür, dass die Anschlagsgefahr in Deutschland niedriger sei als in Frankreich, mit der unterschiedlichen Bevölkerungszusammensetzung: „Wir sehen ja, das dynamischste Element im europäischen Terrorismus der vergangenen Monate, das sind Nordafrikaner.“

Ist die Gentechnik Schuld am Terror?

Übrigens spekulierte auch Gregor Gysi, Außen- und Europapolitiker der Linksfraktion, fleißig mit im Deutschlandfunk. Eigentlich war er für den Petersberger Dialog und die deutsch-russischen Beziehungen gebucht, und sollte nun über das drängendere Problem reden. Das fiel ihm offensichtlich schwer, und er kam immer wieder auf Putin zurück, kritisierte die Bundesregierung und die EU: „Wir müssen vermitteln, auch im Interesse der Ukraine, und wegkommen von diesen Sanktionen.“ Als der Reporter einwarf, „Jetzt sind wir doch bei Russland“, sagte Gysi: „Aber es hängt ja auch alles miteinander zusammen.“ Und offenbar sogar die Gentechnik, als Gysi sagte: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Konzerne nicht mehr das Saatgut genmanipulieren, dass es sich nicht vervielfältigt.“

Vielleicht sollten wir uns an den Fall des Germanwings-Piloten Andreas Lubitz erinnern: Damals wurde anfangs viel Unsinn verbreitet, auch über einen Terroranschlag. Bei Spekulationen sollten sich Medien zurückhalten.

Der Islamismus-Reflex da. ist Mit Wahrscheinlichkeit könnte es auch einen Zusammenhang geben. So stellte auch der Staatsanwalt klar, dass die Tat die typische Handschrift von terroristischen Organisationen trage, womit er wohl auch Islamisten meinte. Gleichwohl gibt es noch kein Bekennerschreiben einer terroristischen Organisation. In jedem Fall ist es nicht die Aufgabe von Medien, Wahrscheinlichkeiten und Gerüchte als Fakten zu präsentieren. Das ist unsauber, gefährlich und fahrlässig.

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