Sehnsucht nach der heilen Vergangenheit - Geständnisse eines Nostalgikers

Die mit Corona-Fällen übersäte Deutschlandkarte sieht aus, als würde sie an einem furchtbaren Hautausschlag leiden. Wer sehnt sich angesichts dessen nicht nach vergangenen Zeiten? Schriftsteller Jan Hoffmann über Schaumzucker, Sexheftchen und Thomas Manns Villa.

Nostalgie ist ein flüchtiger Genuss / Sibylla Hirschhäuser
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Autoreninfo

Jan Hoffmann studierte Rechtswissenschaften in Berlin und am Deutschen Literaturinstitut in Leipzig. Veröffentlichungen u.a. im Logbuch Suhrkamp und bei Zeit Online. (Foto: Sibylla Hirschhäuser)

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Neulich stand beim Bäcker ein kleiner Junge auf Zehenspitzen vor der Ladentheke und deutete auf die Schraubgläser mit den Haribos. „Zwei weiße Mäuse und eine Schlange, bitte! Ne, eine Tüte brauch' ich nicht.“ Der Junge verließ den Laden, über dem Mund-Nasenschutz leuchteten seine Augen vor Vorfreude. Natürlich brauchte er keine Tüte, die Tierchen würden den Schulweg ohnehin nicht überleben.

Als Nostalgiker musste ich diese Gelegenheit, meiner Sehnsucht freien Lauf zu lassen, sofort am Schopf packen. Zu meinen Semmeln bestellte ich mir zwei Schlangen. Vor der Bäckerei desinfizierte ich mir die Hände und biss der ersten den Kopf ab. Der künstliche Fruchtgeschmack katapultierte mich direkt in die 90er-Jahre, und das warme nostalgische Gefühl hielt bis zur Haustür. Dort spürte ich, wie der Schaumzucker in meinem Magen aufquoll, und ich erinnerte mich daran, dass es neben der kleinen Bäckerei, in der ich damals mein Taschengeld gegen Haribo tauschte, einen Lotto-Laden gegeben hat, dessen einarmiger Besitzer uns Kindern regelmäßig Rubbellose und nach kaltem Qualm riechende Sexheftchen verkaufte. Wir mussten dem Mann versprechen, dass unsere Eltern nie davon erfahren würden, dabei hatten wir ohnehin zu viel Angst vor ihm, um wortbrüchig zu werden.  

Ein flüchtiger Genuss

Die zweite Schlange aß ich zu Hause, aber alles, an was ich dabei denken konnte, war: Wenn der Mann noch lebt, würde er zur Hochrisikogruppe gehören und müsste sich vor Kindern mehr fürchten als andersherum. Und: Schade, dass ich nicht mehr den unverwüstlichen Magen eines Kindes besitze.  

Nun gut, sagte ich mir, die Nostalgie ist eben ein flüchtiger Genuss. Aber es dauerte keine Stunde, da wollte ich es wieder spüren, dieses mächtige Gefühl. Ich dachte daran, ein Brot zu backen. Allerdings würde mich der Geruch aus dem Ofen vermutlich nur an die erste Phase der Corona-Pandemie erinnern.

Der Soundtrack meiner Jugend

Ich rief meine Nichte an, die mit ihren fünfzehn Jahren bereits eine erfahrene Nostalgie-Jägerin ist. Sie riet mir dazu, es einmal mit den Harry Potter-Büchern, der Geräuschkulisse eines japanischen Cafés an einem Regentag (zu finden auf Youtube) und einer Tasse Lady Grey von Twinings zu probieren. Auch, wenn das gemütlich klang, würde ich, wenn ich J.K. Rowling las, mit Sicherheit an Twitter-Debatten über Gender-Toiletten denken müssen.

Was meine Nichte mir von der Spotify-Time-Capsule-Playlist erzählte, klang dagegen vielversprechend: Wem wie mir partout nicht einfallen will, zu welchen Songs er seinen ersten Kuss küsste oder die erste Pausenhofzigarette rauchte, kann sich den Soundtrack seiner Jugend kurzerhand von den Algorithmen des Streaming-Dienstes berechnen lassen. Gespannt setzte ich meine Kopfhörer auf: Ich hörte Beautiful Girls von Sean Kingston, das mich in Vodka-Red-Bull geschwängerte Engtanzabende in Großraumdiscos zurückversetzte.

Schlechtes Vorbild von Sido ließ Spucke-Seen neben Tischtennisplatten vor meinem geistigen Auge entstehen, und zu Chop Suey von System of a Down sah ich mich vor meinem Röhrenbildschirm sitzen und in Battlefield 1942 mit einem Panzer Chop Suey aus der Infanterie der Achsenmächte machen. Aber all das packte mich nicht emotional, die 2000er waren einfach noch nicht lang genug vergangen.

Störfaktor veganer Eisladen

Wahrscheinlich verzeichnete Spotify aus diesem Grund seit dem April 2020 einen deutlichen Anstieg von Nutzern, die sich 50er-Jahre-Playlists erstellen. Ich persönlich habe die 1950er Jahre nach meinem letzten Mad-Men-Marathon über. Nein, was ich jetzt brauchte, war die Aura einer älteren, längst untergegangen Welt. Also schnappte ich mir meine FFP2-Maske und begab mich in die Schellingstraße, wo einst das wilde Leben der Schwabinger Bohéme tobte.

Meine Brille hatte ich vorsorglich zu Hause gelassen. Störfaktoren wie vegane Eisläden oder Poké-Bowl-Pop-Up-Stores lagen in angenehmer Unschärfe, die mich in die richtige somnambule Stimmung versetzte. Als Erstes wollte ich in mein Lieblingsantiquariat mit den hohen Stuckdecken, den abgewetzten Sofas und dem mürrischen, Zigarren qualmenden Antiquar. Aber zu meinem Entsetzen musste ich feststellen, dass das Traditionsgeschäft dem Café einer Bäckereikette gewichen war, die einige der alten Bücherregale für den Retro-Look behalten und die Fensterfront mit englischen Ohrensesseln verstellt hatten.

Endlich wurden meine Augen feucht

Aber so leicht gab ich nicht auf. Ich spazierte, die Hände großväterlich hinter dem Rücken verschränkt, durch den englischen Garten bis nach Bogenhausen, wo ich die Villa finden wollte, in der die Familie Mann gelebt hatte. In der herrschaftlichen Mauerkircherstraße gab es außer den auf dem Bürgersteig parkenden SUVs wenig, was ich für meine Zeitreise in die Welt des vorkrieglichen Großbürgertums ausblenden musste. Schließlich stand ich vor der Villa, in der sich Thomas Mann den Zauberberg aus der von Ironie zerrissenen Seele geschnitten hatte.

Um das Gefühl von Ehrfurcht, das sich in mir breit machte, zu verstärken, legte ich die flache Hand auf die Grundstücksmauer. Erster Weltkrieg, Spanische Grippe, Wirtschaftskrise, Zweiter Weltkrieg. Die Steine unter meiner Hand hatten den Katastrophen des 20. Jahrhunderts Stand gehalten. Endlich wurden meine Augen feucht.  

Mit 38 eine Villa in Bogenhausen

Dann beging ich den Fehler, zu googeln, in welchem Alter sich Thomas Mann eine solche Villa hatte leisten können. Ich würde noch sieben Jahre Zeit haben. Nach kurzer Recherche stellte sich heraus, dass, was ich für die Mann-Villa gehalten hatte, in Wirklichkeit irgendeine andere alte Villa war, die heute das ungarische Generalkonsulat beherbergt. Die Mann-Villa stand eine Straße weiter und war im Zweiten Weltkrieg zerbombt worden. Nach dem Krieg hatte der Schriftsteller die mit Erinnerungen an Nazideutschland kontaminierte Immobilie verkauft. In den 2000ern wurde die Villa von einem Investmentbänker nach alten Bauplänen rekonstruiert und schließlich für 30 Millionen Euro an einen Speditionsunternehmer verkauft. Sein Name: Thomas Manns - true story!  

Ich machte mir gar nicht erst die Mühe, die 400 Meter bis zur Poschingerstraße zu gehen. 

Nie wieder Dragon Ball

Nach diesem Ausflug war mir klar, dass ich ein Problem hatte, gegen das nur ein kalter Entzug helfen konnte. Am Abend erlaubte ich mir noch, über Stifters seitenlangen Beschreibungen einer Berglandschaft in idyllische Träume zu sinken. Aber schon beim Frühstück am nächsten Tag untersagte ich es mir, Dragon Ball zu schauen, als wäre wieder 2002. Stattdessen versuche ich nun jeden Morgen mit einem kühlen Kopf die neuesten Corona-Statistiken nachzuvollziehen und die kleine Deutschlandkarte auf Zeit Online zu betrachten, die aussieht, als würde sie an einem generalisierten Hautausschlag leiden.

Gegen die dadurch ausgelöste Unruhe setze ich Achtsamkeitsmeditationen ein. Die ersten Male ertappe ich mich dabei, wie ich den Kelim meiner Urgroßeltern betrachte, und innerlich mit dem Orientexpress verreise. Aber nachdem ich den Teppich zusammengerollt habe, und meine Füße fest auf dem Laminatboden in Parkettoptik gestellt habe, gelingt es mir nur das wahrzunehmen, was da ist: Die Blätter, die von den Bäumen auf den Garagenplatz fallen. Und den Lärm der Laubbläser-Kolonne, die nicht im Home-Office arbeiten kann.

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