Leitkultur - Debatte nirgends, Geschrei überall

Bassam Tibi hat den Begriff Leitkultur einst in die deutsche Sprache eingeführt. Was aber Konservative und Linke daraus gemacht haben, geht am ursprünglichen Integrationskonzept völlig vorbei und nervt ihn nur noch

„Die Leitkultur-Debatte wird von einer Nation mit einer beschädigten Identität getragen“ / picture alliance
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Autoreninfo

Bassam Tibi hat in den Jahren 2007-2010 als erster Muslim am Center for Advanced Holocaust Studies in Washington D.C. als Resnick Fellow seine zuvor in 22 islamischen Ländern betriebene Forschung in dem Buch „Islamism and Islam“  zusammengefasst, das Yale University Press 2012 veröffentlichte. Darin argumentiert er mit Beweisen, wie die Islamisierung des Antisemitismus erfolgt. Tibi ist auch Mit-Autor des von Charles Small herausgegeben fünfbändigen Standardwerks „Global Antisemitism“ (New York 2013) und veröffentliche auch ein Kapitel in dem Buch „Yale Papers on Antisemitism“ (New York 2015).
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Als Migrant aus Syrien habe ich im Jahre 1996 in der Beilage der Zeitung Das Parlament eine Abhandlung veröffentlicht, in der ich erstmalig den Begriff Leitkultur als Integrationskonzept in die deutsche Sprache einführte. Diese Abhandlung habe ich zu einem Kapitel in meinem 1998 erschienenen Buch „Europa ohne Identität? Die Krise der multikulturellen Gesellschaft“ ausgearbeitet. Zwei Jahre danach hat der CDU-Politiker Friedrich Merz den von mir als Wertekonsens verstandenen und europäisch bestimmten Begriff der Leitkultur plagiiert, jedoch verdeutscht und inhaltlich verfälscht.

Damals war dies der Beginn einer eigenartigen deutschen Leitkulturdebatte, die von Oktober bis Dezember 2000 andauerte. Angela Merkel war damals Oppositionsführerin und hat meine Person als Urheber des Begriffs auf einer Pressekonferenz und in einem Spiegel-Interview gewürdigt. Damals wie heute hat es mich stets genervt, wenn hochrangige CDU-Politiker – 2000 war Friedrich Merz CDU/CSU-Fraktionsvorsitzender, Thomas de Maizière ist derzeitig Innenmister – mich für ihre Thesen zur Leitkultur missbrauchten. Noch mehr nerven mich diejenigen, die diese CDU-Leitkultur primitiv angreifen, so zum Beispiel die zur Berliner Staatssekretärin aufgestiegene Palästinenserin mit deutschem Pass, Sawsan Chebli. Sie tritt öffentlich für die islamistische Scharia ein und wittert in jeder Leitkultur „eine gefährliche Stimmungsmache gegen Muslime“. Noch dümmlicher ist die Rückmeldung von Jürgen Trittin. Für ihn ist die Leitkulturdebatte „pure rechte Stimmungsmache“.

Leitkultur wird zur „Operation Sauerkraut“

Nicht weniger nervt mich der Spiegel, der im Jahr 2000 meine Bestimmung der europäischen Leitkultur, natürlich ohne Namen zu nennen, als „Operation Sauerkraut“ in der Überschrift eines Artikels verfemte. 17 Jahre danach behauptet der Spiegel in einem Leitartikel polemisch, Gründe dafür angeben zu können: „Warum Deutschland keine Leitkultur braucht“. Die alte Diskussion von 2000 wird unsachlich wahrgenommen als „diverse Debattenschlaufen, die sich in vagem oder auch erbittertem Unfrieden verloren“ haben.

Die Zeit vom 4. Mai 2017 degradiert die Leitkulturdebatte zu einer „Debatte ums Deutschsein“. Solche Dummheiten zwingen mich, so zu denken: Wir im Islam nennen die Leute, die reden ohne zu lesen, djahil, das heißt ignorant. In allen meinen Schriften über Leitkultur hebe ich das Attribut „europäisch“ gegenüber „deutsch“ hervor, aber offensichtlich lesen weder Spiegel- noch Zeit-Journalisten die entscheidenden Bücher.

Selbst der Präsident des Goethe-Instituts räumt den deutschen Leitkultur-Gedanken den Rang einer Debatte ein und schreibt in einem sehr fragwürdigen Essay im Tagesspiegel: „Die Deutschen sind geübt in Grundsatzdebatten über Leitkultur und kulturelle Identität“. Aber über beide debattieren die Deutschen eben nicht und deswegen verdient das Leitkulturgeschrei von de Maizière und seinen Kritikern nicht die Anerkennung als Debatte. In der angelsächsischen Demokratie versteht man unter „Debating Culture“ etwas anderes als das Gezänk, das heute in Deutschland ausgetragen wird.

Gescheiterte Integration

Der inhaltliche Ausgangspunkt ist die Unfähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, etwa 20 Prozent seiner Einwohner, die mit Migrationshintergrund, zu Bürgern im Verständnis von Citoyen zu machen. Nach Jean-Jacques Rousseau ist ein Citoyen ein Mitglied eines Gemeinwesens ohne Bezug auf Religion und ethnische Herkunft. Ich lebe seit 55 Jahren in Deutschland gelebt, vier Generationen Studenten an einer deutschen Universität erzogen, 30 Bücher in deutscher Sprache verfasst, das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse erhalten und dennoch diesen Citoyen-Status, den es in Deutschland nicht gibt, verfehlt. Die Zeit verfemte mich mit dem Artikel „Schwer integrierbar“ von 2006. In einem verfälschten Zitat von mir führt Focus im Dossier „Leitkultur, ja oder nein“ meine Aussage an, ich sei deutscher als viele Deutsche, streicht jedoch den Zusatz: „Aber ich habe es nicht geschafft, als Deutscher anerkannt zu werden.“

Im Mittelpunkt der Problematik steht das Scheitern der Integration. Allein die Zustimmung von etwa Zweidrittel der Deutsch-Türken zu dem türkischen Ermächtigungsgesetz ist schon ein Beweis. Warum dieses Scheitern? Eine Gesellschaft, die die eigene Identität verleugnet, kann nicht durch eine Inklusion in ein Gemeinwesen integrieren. Leitkultur ist nicht das, was de Maizière in seinem Bild-Artikel als Salve abfeuert. Wie ernst seine Einladung zur Diskussion über seine zehn Thesen ist, zeigt schon, dass er anschließend nach Washington reiste und auf Stellungnahmen per TV-Statement in den Abendnachrichten reagierte.

Aus Europäisch wird Deutsch

Als Demokrat mit angelsächsischer Erziehung stelle ich mir unter Debating Culture etwas anderes vor. Sowohl im Jahr 2000 wie auch heute beweisen die Deutschen, dass deutsch das Negative ist, was Theodor W. Adorno in seinem Aufsatz „Auf die Frage: was ist deutsch?“ beschrieben hat.

Ich habe nach der ersten deutschen Leitkulturdebatte von Oktober bis Dezember 2000 eine Erfahrung gemacht, die ich im Dezember 2000 in einem in der Welt am Sonntag erschienenen Essay „Die neurotische Nation“ beschrieb. Adorno bewundert Immanuel Kant und seine Vernunft wie ich, vermisst diese aber bei den Durchschnittsdeutschen, die im „Pathos des Absoluten“ ihre Gesinnungsethik vortragen und Ideen der Andersdenkenden als „unbequeme Gedanken“ verfemen. Es wird eine Selbstzensur erzwungen und „Abweichungen werden gereizt geahndet“, schreibt Adorno. Ich beobachte diese unsägliche politische Kultur sowohl bei den Deutschen, die aus meiner europäischen Leitkultur eine deutsche machen, als auch bei ihren linken Gegnern.

Mein amerikanischer Kollege und Freund Francis Fukuyama hat sich zu dieser Thematik aus den USA zu Wort gemeldet und den Europäern vorgehalten, „Americans may indeed have something to teach Europeans with regard of an open national identity“.

Es geht nicht um Deutschtum

Wenn der Spiegel aber die Identitätsproblematik mit Sauerbraten verwechselt und Die Zeit selbstanklagend das „Deutschtum“ anführt, dann kann es keine rationale Diskussion in diesem Lande über eine wertebezogene Leitkultur als inklusive Identität geben und folgerichtig auch keine Integration erfolgen. In diesem Modus wird auf ein Argument mit einer Keule und nicht mit einem Gegenargument geantwortet.

Fukuyama aber geht auf mein Leitkulturkonzept ein und beweist, dass er im Gegensatz zu meinen deutschen Opponenten versteht, was Leitkultur als Integrationskonzept meint: „Bassam Tibi invented the term Leitkultur precisely as a non-ethnic, universalist conception of citizenship that could open up national identity to non-ethnic Germans.” Eben darum geht es, weder um „Sauerbraten“ noch um „Deutschtum“. Aus den USA hat Fukuyama beobachtet, was viele deutsche Meinungsführer mit mir und meinem Konzept der Leitkultur gemacht haben.

Und was lernen wir aus den deutschen Leitkulturdebatten von 2000 und 2017? Die fehlende Integration von Muslimen bleibt ohne Aufarbeitung. Diese Aufgabe kann ohne ein Integrationskonzept und ohne wertebezogene Leitkultur nicht erfüllt werden. Die Folge ist, wie Fukuyama sagt, eine „tickende Zeitbombe“. Und was geschieht? Die Kritiker meines Konzepts der europäischen Leitkultur verwandeln die zugewanderten Individuen in Minderheiten und verteidigen diese als Kollektiv statt individuell.

Von 2000 bis 2017 nichts geändert

De Maizière will im Namen einer Leitkultur muslimischen Migranten aufzwingen, sich deutsch zu benehmen. Im Gegenzug kämpfen seine linken Gegner für die Definition der Muslime als Minderheiten, die faktisch in ihren Parallelgesellschaften leben. In einem solch verrückten Land, in dem weder eine europäische Leitkultur noch eine inklusive Identität auf positive Resonanz stoßen, kann es keine Integration geben. Die Leitkulturdebatte von heute unterscheidet sich kaum von jener des Jahres 2000 – beide werden von einer Nation getragen mit einer beschädigten Identität, die deshalb als neurotisch zu bezeichnen ist. Sowohl de Maizières Leitkultur als auch die linksgrüne Anti-Leitkultur-Propaganda nerven mich.

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