Leipziger Buchmesse - Das politisierte Kinderzimmer

Mit Kinder- und Jugendbüchern soll politisches Bewusstsein geweckt werden. Die Empfehlungsliste der Buchmesse liest sich jedoch wie eine Wahlaufforderung für die Grünen. Und sollten die Kleinsten nicht generell von Politik verschont bleiben? Von Alexander Kissler

Sollten Kinder zukünftig mehr politische Bücher im Regal finden? / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

So erreichen Sie Alexander Kissler:

Anzeige

Am gestrigen Mittwoch wurde Deutschlands schönstes Lesefest eröffnet, die Leipziger Buchmesse. Sie findet in doppelt schwieriger Zeit statt: Die Branche lahmt, die Gesellschaft rast. Zur Eröffnung erinnerte Heinrich Riethmüller, Vorsteher des Börsenvereins des Deutschen Buchhandels, daran, dass die Zahl der Buchkäufer in den vergangen fünf Jahren um 18 Prozent gesunken ist. Er warb für das kriselnde Produkt: „Bücher bieten die Möglichkeit, für eine gewisse Zeit aus der Multi-Tasking-Gesellschaft herauszutreten.“ Und mahnte, „unsere Branche“ habe den Anspruch, „mit ihren Produkten Demokratie und Kultur in der Gesellschaft mitzugestalten.“ Und schloss: „Lassen Sie uns eintreten für Freiheit, Toleranz und Vielfalt – friedlich und im Dialog.“

Widerworte verbieten sich. Sollen Menschen, die Bücher schreiben, herstellen, verkaufen, etwa für Unfreiheit, Intoleranz, Engstirnigkeit eintreten? Sollen sie die Demokratie, von der sie als Marktteilnehmer zehren, bekämpfen? Bitte nicht! Dennoch sei die Nachfrage erlaubt, inwieweit „unsere Branche“, ein kommerzielles Gruppensubjekt, „Demokratie mitgestalten“ wollen muss. Gewiss tut sie es subkutan auf jenen Pfaden, auf denen Wort zu Wort findet: im Widerstreit, im Angreifbaren und Angreifenden, in der Bereitschaft also, sich öffentlich zu irren. Doch sollte sie es unbedingt direkt tun, indem sie politisch wird und Demokratie zum zentralen Thema macht? Es gibt keinen literarischen Politisierzwang.

„Vielfalt“ bedeutet vor allem grün

Wohin die Reise gehen soll, zeigt der „Trendbericht Kinder- und Jugendbuch 2018“, der am morgigen Freitag  vorgestellt werden soll und für den mit den Worten geworben wird: „Wie können Eltern, Lehrkräfte und Pädagogen Kindern und Jugendlichen politisches Bewusstsein und die Regeln einer fairen und offenen Debattenkultur vermitteln? Welche Möglichkeiten eröffnet das Medium Buch, Teilhabe und Mitbestimmung zu fördern, und welcher Konzepte bedarf es darüber hinaus, politisches Denken zu erlernen? Wie können sich Verlage, Buchhandlungen und Bibliotheken einbringen?“ Dazu werden die Arbeitsgemeinschaft von Jugendbuchverlagen, der Arbeitskreis für Jugendliteratur, der Börsenverein des Deutschen Buchhandels und die Stiftung Lesen Antworten geben. Sie wollen „politisches Interesse und Engagement fördern“. Bei den Jungen, Kleinen und Kleinsten, den Drei- bis 15-Jährigen.

Ist es sinnvoll, Kinder, des Redens, Denkens und Gehens gerade mächtig, zu politisieren? Welches „politische Bewusstsein“, welches „politische Denken“, welches „Engagement“ soll den Kleinsten vermittelt werden? Und falls es gelingt: Wäre es Indoktrination? Die beigefügten „Leseempfehlungen“ lassen kaum Raum zum Zweifel: In Kita, Krippe und daheim soll der neue Erdenbürger mit den Vorteilen des Vegetarismus, des Internationalismus und der globalen Willkommenskultur vertraut gemacht werden. Wer alle vorgestellten Bücher beim Wort nähme und nicht abseits schaute, nicht links, nicht rechts, der setzte bei seiner ersten Bundestagswahl das Kreuz bei den „Grünen“. Ein solch einsträngiges Ziel verwundert, zumal unter der Generaldevise „Vielfalt“.

Politische Anschauungen für Dreijährige

Bei den 21 empfohlenen Kinder- und Jugendbüchern dominieren die „Fluchtgeschichten“. Insgesamt sechsmal bilden reale oder erfundene Menschen die Hauptfiguren, die „aus der Heimat fliehen“. Bereits Fünfjährigen empfiehlt man „Gespräche mit Flüchtlingsfamilien (…) aus der Perspektive der betroffenen Kinder.“ Für 14-Jährige sind „fiktive Gespräche mit (…) dem somalischen Flüchtling Barkhad“ gedacht, deren Moral lautet: Angst ist ein schlechter Ratgeber, vor „Rückzug und Rückschritten“ wird gewarnt. Meinungsfreiheit und „Hetzfreiheit“ seien nicht dasselbe. Ein anderes Buch präsentiert Flüchtlinge „auf ihrem schicksalhaften Weg (…), auf der Suche nach einem besseren Leben“; „die Hoffnung treibt sie an, wie täglich tausende von Flüchtlingen.“ An wiederum anderer Stelle treffen eine Syrerin aufeinander und ein deutscher Neonazi namens Calvin, der „mit seiner Gang einen Anschlag auf das Flüchtlingsheim plant.“

Auch an Grundsatzfragen ist gedacht. Dreijährigen Menschen wird „ein Bild von wechselnden Machtverhältnissen“ präsentiert, Vierjährige sollen den „Umgang mit Autoritäten“ lernen anhand einer „unsichtbaren Grenze, die nicht überschritten werden darf“, ab fünf Jahren soll man reif genug sein für „das Durchexerzieren verschiedener Machtverteilungsmodelle“, dargelegt von Bestseller-Autorin und SPD-Mitglied Juli Zeh. Die grüne Heinrich-Böll-Stiftung ist mit einer Broschüre für mindestens Elfjährige vertreten, die „den Fleischkonsum unter verschiedenen Gesichtspunkten betrachtet und eine Fülle von Informationen zum Thema Tierhaltung, Fleischerzeugung und -konsum vermittelt“.

Einheitssound der Überkorrekten

Alle diese Bücher behandeln reale Probleme und spannende Themen. Sie werden, mal lauter, mal leiser, im Einheitssound der Überkorrekten und Dauerengagierten vorgetragen. Wer ganz mutig ist, der mache ein Gedankenexperiment: Wäre ein Empfehlungsbuch für die Kleinen und Kleinsten denkbar, in dem auf die Wichtigkeit solider Staatsfinanzen und ganz allgemein ökonomischer Grundkenntnisse hingewiesen wird? In dem Fluchtgeschichten aus der Perspektive einer aufnehmenden Kleinstadt erzählt werden, deren Bewohner nicht von irrealen Ängsten und verwerflichen Rückschritten, sondern von abgründigen realen Erfahrungen geprägt sind? Oder ein Buch, das Fünfjährigen erklärt, warum Fleisch so gut schmeckt und Genuss nicht verboten ist und auch Hilfsorganisationen Interessen haben? Bücher mit dem Siegel der liberalen Naumann-Stiftung oder gar, horribile dictu, des noch zu gründenden Pendants von der AfD?

Noch wichtiger ist die generelle Frage: Warum sollen Kinderzimmer politisiert werden? Man muss nicht zu Jason Brennan („Gegen Demokratie“) greifen, um zu wissen, dass Politik Streit bedeutet, Streit bringt. Erwachsenen muss die Bereitschaft zum demokratischen Streit abverlangt werden. Aber Kindern? Dreijährigen? Von nichts sollten Büchermenschen tiefer durchdrungen sein als vom Eigenwert des Literarischen. Sie sollten verinnerlicht haben: Wer die Welt verändern will, der muss sie poetisieren, nicht politisieren. Gezähmte Phantasie wird zu Propaganda. Für Kinder gilt das erst recht. In die Hände der Diskursverwalter fallen sie früh genug.

Anzeige