Kommentar - Fatale ferne Verwandte

Die Deutschen tun sich schwer mit einer verbindlichen Leitkultur. Selbstverständlichkeiten des Rechtsstaats stellen sie stattdessen infrage

Erschienen in Ausgabe
Illustration: Anja Stiehler/ Jutta Fricke Illustrators
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Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

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Die Schweizer Boulevardzeitung Blick, Zürcher Pendant der Bild-Zeitung, lancierte am 19. April dieses Jahres einen „Integrationsvertrag“ für Ausländer, die dauerhaft in der Eidgenossenschaft leben möchten: je fünf Rechte, Pflichten und Normen, sachlich-kühl formuliert, zu denen sich Migranten bekennen sollen, also beispielsweise „Das Recht steht über der Religion“, oder auch „Mann und Frau sind gleichberechtigt“. 
Republikanische Selbstverständlichkeiten. 

Auch Umgangsformen nennt der Vertrag als Bedingung für das Zusammenleben, etwa „Man zeigt sein Gesicht“, oder „Man reicht einander bei der Begrüßung und zum Abschied die Hand“. 

Bürgerliche Anstandsregeln. 

Christian Dorer, Chefredakteur der Blick-Gruppe: „Jeder Flüchtling, der in der Schweiz leben will, soll einen Integrationsvertrag unterschreiben.“ 
Die Aktion stieß auf viel Zustimmung, auch in der Politik. Das Bundesparlament in Bern erwägt verpflichtende Vereinbarungen für alle nichteuropäischen Zuwanderer. Sogar die Konkurrenz würdigte den Vorstoß. Die Neue Zürcher Zeitung, die andere große Tageszeitung der Schweiz, schrieb: „Der Blick hat diese Bestrebungen plakativ auf den Punkt gebracht.“

So geht es zu in der Schweizer Demokratie. Wie geht es in Deutschland zu? 

Zehn-Punkte-Kanon deutscher Leitkultur

Bild am Sonntag drehte die Blick-Idee weiter und ließ Innenminister Thomas de Maizière einen Zehn-Punkte-Kanon deutscher Leitkultur erstellen, teils Verhaltensnormen, teils gemeinsame Lesarten, beispielsweise der jüngeren Geschichte. 

Selbstverständlichkeiten des demokratischen Rechtsstaats. 

Die Debatte, die de Maizière auslöste, kreist seitdem um die Frage: Gibt es das überhaupt – eine deutsche Leitkultur? Und falls es sie gibt: Ist es zulässig, Migranten darauf zu verpflichten?

Für einen Schweizer sind solche Fragen absurd: Es gibt unzweifelhaft Schweizer, also gibt es ebenso unzweifelhaft Schweizer Rechte und Schweizer Pflichten und Schweizer Freiheiten und Schweizer Gewohnheiten und Schweizer Eigenschaften und Schweizer Geschichte, also eine Schweizer Kultur – „Leitkultur“. 

Keine andere Wahl, als sich zu fügen

Aus Schweizer Sicht bleibt Migranten, die in diese Leitkultur einwandern, in ihr folglich auch leben wollen, gar nichts anderes übrig, als sich mit ihr vertraut zu machen, sich ihren Regeln und Gesetzen zu fügen. 

In Deutschland sind solche Selbstverständlichkeiten offenbar nicht selbstverständlich. Dies belegt ein Leitartikel der Zeit vom 4. Mai. Sie findet de Mai­zières „Selbstbesinnung darüber, welche Werte und Identitätsmerkmale ein Land vermitteln und verteidigen möchte“, zwar akzeptabel, schreibt aber auch: 

„Mit der deutschen (Ideen-)Geschichte im Gepäck ist es ebenso nötig wie möglich, intelligenter für den strikten Vorrang weltlichen Rechts vor religiösen Geboten zu werben, für Glaubens- und Gewissensfreiheit, für Gleichberechtigung.“

Schön klingt das, salbungsvoll. Doch die Zeit verwendet das Tätigkeitswort „werben“. Was hat es im Zusammenhang mit Selbstverständlichkeiten der deutschen Demokratie zu suchen? Meint das Wochenblatt tatsächlich, man müsse bei den Migranten für verfassungsmäßig garantierte Grundlagen der Gesellschaft „werben“ – also für geltendes Recht?

Die stets gutmeinende Zeit meint unzweifelhaft just das. Und drückt damit eine weitverbreitete Malaise aus: 
Migranten genießen auf deutschem Boden die deutsche Willkommenskultur – doch auf dem Boden des deutschen Grundgesetzes stehen sie damit noch nicht. Die verbindliche Leitkultur wird ihnen gar nicht erst vor Augen geführt. Eine migrationsselige Elite behütet sie davor. Die wilden Kinder Arabiens und Afrikas sollen sich nach Maßgabe ihrer Traditionen – ihrer Leitkultur – in Deutschland tummeln dürfen. 

Was beispielsweise für den Schweizer automatisch gilt, sobald er den Bodensee überquert und deutsches Hoheitsgebiet betritt, gilt für den Migranten, der übers Mittelmeer nach Deutschland gelangt, nur eingeschränkt: das Grundgesetz. 

Werben um die Gunst der Migranten

Beim Migranten muss zunächst einmal für Rechte und Pflichten und allgemeine Ordnung geworben werden – auf dass er dem Grundgesetz doch bitte, bitte seine Gunst gewähre. 

Was aber bedeutet dieser von der Zeit so innig vorgebrachte Wunsch, für die geltenden Bedingungen deutschen Zusammenlebens zu werben? 
Er bedeutet eine Relativierung des Grundgesetzes. 

Diese Tendenz zur Aufweichung der gesellschaftlichen Normen und Regeln ist in Deutschland seit Jahren zu beobachten: in Form einer linksliberalen Toleranzkultur, die inzwischen in der Tat zu einer ganz eigenen Leitkultur gewuchert ist. 

Die Relativierung leitkultureller Normen ist auch in der höchsten Politik angekommen. Aydan Özoguz, Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, führt vor, wie das geht: „Das Zusammenleben muss täglich neu ausgehandelt werden.“ Das bedeutet: Leitkultur – lässt man sich auf den Begriff überhaupt ein – kann nur das Ergebnis von Verhandlungen mit Migranten sein. Deutsch ist das Ergebnis dann wohl kaum. 

Diese Praxis zeigt sich besonders deutlich in Glaubensfragen: Die Religion genießt erste Priorität unter den Grundgesetz-Werten, sogar Staatsrechtler segnen sie ab als allerhöchstes Gut, höher noch als die Gleichheit, also höher auch als die Gleichheit der Geschlechter. 

Längst gilt: Die Burka ist kein Ausdruck der Unterdrückung der Frau, mithin kein Verstoß gegen das Prinzip der Gleichheit. Nein, sie ist bloß eine exotische Kleidervorschrift, wenn nicht gar eine Modemarotte, wie sie auch von Karl Lagerfeld entworfen sein könnte. 

Auch werden Scharia-Gerichte still geduldet, mit dem Argument, sie würden ja lediglich kulturelle und religiöse Streitigkeiten verhandeln. Was aber ist im Islam nicht kulturell, nicht religiös? So urteilen Clanchefs und mittelalterlich gestimmte Religionsführer über alles, von ehelicher Gewalt bis zum Kindsmissbrauch – im Land des säkular verfassten Grundgesetzes. 

Könnte es sein, dass die Deutschen größte Mühe haben mit ihrer eigenen gesellschaftlichen und politischen Kultur? Könnte es sein, dass ihnen die Zuordnung zur westlichen Zivilisation insgeheim zuwider ist – diese kapitalistische Welt, so kalt, so unromantisch? 
Könnte es sein, dass dieses Unbehagen zu tun hat mit dem Scheitern des deutschen Bürgertums, das nie in einem revolutionären Akt ein eigenes freisinniges Staatswesen verwirklicht hat?

Deutschland ist eine verspätete Nation, der Islam ist eine verspätete Religion – fatale ferne Verwandtschaft. 
Das deutsche Grundgesetz, die wohl modernste demokratische Verfassung der Welt, ist Befreiung und Befreiern zu verdanken.

Und es ist nicht verhandelbar! 

Zumindest wäre dies zu hoffen.

 

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