Meistgelesene Artikel 2016 - Nicht auf die Tricks der Islamverteidiger hereinfallen

Der meistgelesene Artikel im Mai 2016 war eine Replik des Menschenrechtsaktivisten Thomas Baader auf die muslimische Theologin Khola Maryam Hübsch. In der Debatte um die Kölner Silvesterereignisse dürfe man die religiösen und kulturellen Wurzeln des Sexismus nicht ausblenden, schrieb er

Khola Maryam Hübsch bei Anne Will / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Thomas Baader ist Sprecher von „peri - Verein für Menschenrechte und Integration“. 

So erreichen Sie Thomas Baader:

Anzeige

Erschienen am 17.05.2016:

Wenn es um die sexuellen Übergriffe der Silvesternacht von Köln geht, geht es immer auch um die Begleitumstände (wie um einen geschönten Polizeibericht) und vor allem um die wahren Hintergründe. Was uns alle letztlich umtreibt, ist die Suche nach der korrekten Interpretation der Ereignisse. Nun hat Alice Schwarzer eine solche Interpretation vorgelegt, indem sie in ihrem neuen Buch einen Zusammenhang zwischen Islam und Scharia auf der einen Seite und den Einstellungen und Taten der Männer der Kölner Silvesternacht auf der anderen Seite herstellt.

Khola Maryam Hübsch wiederum thematisiert einen vermeintlichen Widerspruch: Alice Schwarzer mache das Frauenbild des Islam verantwortlich für das Verhalten der Männer in der Silvesternacht von Köln, obwohl diese sich doch, so Hübsch, gerade nicht an islamische Regeln gehalten hätten – schließlich mache der Koran zum Genuss von Alkohol und zum Berühren fremder Frauen deutliche Aussagen.

Tatsächlich erweckt Hübschs Argumentation auf den ersten Blick den Anschein hoher Plausibilität – wie können Männer gleichzeitig islamischen Wertvorstellungen folgen und grundsätzliche Regeln des Islam missachten? Wer Letzteres tut, ist ja wohl eher ein schlechter oder vielleicht sogar gar kein Muslim, und in jedem Fall scheint es kaum nachvollziehbar, dass sein Handeln maßgeblich von der Religion beeinflusst sein soll, deren Richtlinien er gerade verletzt.

Die „falschen“ Moslems

Die Wirklichkeit ist allerdings komplizierter. Tatsächlich sind religiöse Menschen häufig sehr selektiv im Hinblick auf Gebote und Verbote. So ist mir der Fall eines Muslims bekannt, der sehr zornig darauf reagierte, als er erfuhr, dass ein anderer, ihm bekannter Muslim im Zuge seiner beruflichen Tätigkeit in einer Küche unter anderem auch Schweinefleisch zubereitet – dies sei eine sehr große Schande. Man wird nun überrascht sein zu hören, dass der erstgenannte Muslim selbst ein Verbot missachtet: Er trinkt Alkohol. Nun wird Hübsch möglicherweise argumentieren können, dass dieser Mann dann wohl auch kein echter Muslim sein könne – was aber, selbst wenn sie recht hätte, freilich überhaupt nichts daran ändert, dass sein Unmut wegen des Schweinefleischs eindeutig in seiner islamischen Religion wurzelt.

Dieses Beispiel macht deutlich, dass ein Mensch, der selbst nicht alle Werte seiner Religion verinnerlicht hat, sehr wohl bestimmte Teile davon sehr wichtig nehmen kann. In diesem Sinne gilt auch für die Männer der Kölner Silvesternacht: Das Missachten religiöser Regeln bedeutet nicht zwangsläufig, dass man gegen die Einflüsse eines religiös geprägten negativen Frauenbildes immun wäre. Wer den Sexualstraftätern von Köln abspricht, echte Muslime sein zu können, unterliegt einem Trugschluss, den der britische Philosoph Antony Flew als „No true Scotsman Fallacy“ bekannt gemacht hat: Individuum A könne kein echter X sein, weil ich X stets so definiere, dass A nicht Teil davon ist. Dies übersieht, dass es noch andere gebräuchliche Definitionen von X gibt außer meiner eigenen. Muslim sein kann man auf ähnlich vielfältige Weise wie Christ sein – auch auf eine Weise, die nicht der Definition von Hübsch entspricht.

Auch der Koran selbst ist widersprüchlich

Der Widerspruch, den Hübsch in Schwarzers Argumentation zu finden glaubt, entpuppt sich in Wahrheit als ein Widerspruch, der im eben beschriebenen Sinne sowohl im Verhalten von Religionsangehörigen als auch in den religiösen Schriften, und beileibe nicht nur in den islamischen, zu finden ist: Denn nicht nur das Verhalten des einzelnen Gläubigen im Hinblick auf seinen Glauben ist oft widersprüchlich, auch der religiöse Text selbst ist es. Den meisten von uns sind gewaltvolle und friedliche Bibelstellen bekannt. Im Hinblick auf den Koran ist es nicht viel anders. Hübschs Behauptung, Alice Schwarzer und Islamisten folgten beide einer pervertierten Lesart des Korans, übersieht freilich, dass es keineswegs einer großen intellektuellen Unehrlichkeit bedarf, um dem Koran eine Minderwertigkeit von Frauen im Allgemeinen zu entnehmen.

Laut der „Ersten internationalen Studie zur Wertewelt der Deutschen, Deutsch-Türken und Türken“ lehnen vorehelichen Geschlechtsverkehr von Frauen (!) 7 Prozent der Deutschen, aber 56 Prozent der Türken in Deutschland und 84 Prozent der Türken ab. Es ist nur ein Beispiel von vielen und ließe sich leicht durch Studien über andere islamische Herkunftsländer und Ethnien ergänzen. Es zeigt, dass überwiegend gänzlich andere moralische Maßstäbe für die Frauen gelten als für die Männer. Und dies soll in einem islamischen Land tatsächlich nichts zu tun haben mit Werten, die der Islam vermittelt? Anders gefragt: Müsste die islamische Welt nicht eigentlich in heller Aufregung sein, wenn Studien ständig wiedergeben, dass ihre Männer trotz ihrer Zugehörigkeit zu einer vermeintlich frauenfreundlichen Religion mehrheitlich von frauenfeindlichen Einstellungen geprägt sind? Hat dieser frauenfreundliche Islam in den Jahrhunderten seiner Existenz denn gar nichts bewirken können?

Die kulturellen Wurzeln des Sexismus

Sexismus ist sicherlich ein gemeinmenschliches Problem, aber auch eines, das durch religiöse oder kulturelle Faktoren entweder verstärkt oder abgeschwächt werden kann. Dass der Islam Letzteres vermag, dagegen spricht die Alltagsrealität der islamischen Länder. Vielleicht sollte man in diesem Zusammenhang auf Ausführungen verweisen, die man auf der Website der Ahmadiyya-Gemeinde, der Frau Hübsch angehört, finden kann. Eine davon hört sich so an: „Eine Muslima, die Kopftuch oder Schleier trägt, wendet sich somit bewusst von allem ab, was ihre spirituelle Entwicklung beeinträchtigen könnte. Sie will erkannt werden als eine Frau, die zu innerem Frieden gelangt, indem sie den Geboten Gottes folgt. Darüber hinaus möchte sie nicht belästigt werden.“

Per Definition ist Belästigung etwas, was als schädigend oder beeinträchtigend wahrgenommen wird. Daraus sollte man folgern, dass eigentlich niemand belästigt werden möchte. Hier aber wird als einer der Gründe des Kopftuchtragens der Wunsch genannt, nicht belästigt zu werden. Was soll man daraus schließen? Dass die Frau, die kein Kopftuch trägt, dann auch kein eindeutiges Zeichen gegen Belästigung gibt? Dass sie belästigt werden darf? Diese Schlussfolgerung ist sicherlich nicht zwingend. Andererseits: Dass so mancher muslimische Mann einen solchen Schluss zieht, dürfte angesichts der Formulierung dann auch nicht weiter überraschen. Immerhin wird hier klargestellt, wie eine anständige Frau, die nicht belästigt werden möchte, sich anzieht. Und die anderen?

Kulturrelativismus – eines der gravierendsten Probleme unserer Zeit

Die Ahmadiyya-Gemeinde ist mitnichten jene progressive religiöse Kraft, als die Hübsch sie darstellen möchte. Der Menschenrechts- und Integrationsverein „peri“, dem ich angehöre, engagiert sich seit seiner Gründung für die Rechte vor allem muslimischer Frauen und Mädchen. Als vor diesem Hintergrund die Rechtsanwältin Brigitta Biehl im vergangenen Jahr für den Verein als Prozessbeobachterin im Fall Ehepaar Khan fungierte – die Khans gehören der Ahmadiyya-Gemeinde an und hatten ihre Tochter getötet – , kamen einige Äußerungen ans Licht, die man sich sehr genau ansehen sollte. Der als Zeuge geladene Vorsitzende der Gemeinde, Uwe Abdulla Wagishauser, machte deutlich, welche Pflicht gläubige Eltern hätten, wenn die Tochter eine voreheliche Beziehung eingeht: „Sie müssen ihre Tochter dann verstoßen, als Tochter musst Du wählen zwischen der Beziehung oder der Familie.“ Es verwundert dann auch nicht, dass es in der siebten Bedingung des Treuegelöbnisses der Ahmadiyya-Gemeinde heißt, der Glaube müsse als kostbarer erachtet werden als die eigenen Kinder. Und so bestätigte auch Frau Khan vor Gericht: „Kinder sind, bis sie 18 sind, Eigentum der Ahmadiyya-Gemeinde.“ Ist das etwa das „sozial vorteilhafte Verhalten“, von dem Hübsch spricht?

Spielten ähnliche antimodernde und antiliberale Vorstellungen auch eine Rolle in der Kölner Silvesternacht? Von Alice Schwarzer zu erwarten, dass sie für ihre These vom Scharia-Islam als entscheidende Ursache für das Verhalten der Männer der Kölner Silvesternacht auch Belege vorweisen kann, ist richtig. Grundsätzlich auszuschließen, dass die islamische Religion ein Faktor für frauenfeindliches Verhalten sein kann, wie es Hübsch tut, ist falsch – vor allem wenn man sich den tatsächlich hohen antiemanzipatorischen Gehalt von religiöser Schrift und religiösem Alltag vor Augen führt.

Trotz rhetorischer Kniffe und Täuschungsversuche der Gegenseite müssen wir uns das Bewusstsein dafür erhalten, dass der Kulturrelativismus, vor dem Schwarzer warnt, tatsächlich eines der gravierendsten Probleme unserer Zeit darstellt. Und weder die Hetze der populistischen Rechten noch die Relativierungen der regressiven Linken, am allerwenigsten aber religiöse Apologeten, werden dieses Problem lösen können.

Dieser Text ist eine Replik auf den Artikel „So hilft Alice Schwarzer den Islamfeinden der AfD“ von Khola Maryam Hübsch. Lesen Sie ihn hier nach.

Anzeige