Antisemitismus - „Als Jude war ich Bezirksfeind Nummer eins“

Als Sohn iranischer Juden wuchs Arye Sharuz Shalicar erst in Berlin-Spandau, dann im Wedding auf. Dort begann für ihn ein Leben in der Hölle. In seinem Buch beschreibt der ehemalige Offizier und Politologe, wie sich islamisch getriebener Judenhass in ganzen Stadtvierteln ausgebreitet hat. Ein Auszug

Bolzplatz in Berlin-Wedding: „Bist du ein Muslim?“ / picture alliance
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Autoreninfo

Arye Sharuz Shalicar ist ein deutsch-israelischer Politologe, Buchautor und Offizier. Der ehemalige Hip-Hop-Musiker diente seit 2009 als Presseoffizier bei den Israelischen Verteidigungsstreitkräften und bekleidete zuletzt den Rang eines Majors. Seit 2017 ist er Mitarbeiter der israelischen Regierung im Ministerium für Nachrichtendienst.

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Ich wollte nie anders sein als meine Mitmenschen. 

Mir war schon als Grundschüler in Berlin-Spandau klar, dass ich mit meinen tiefschwarzen Haaren und meiner dunklen Haut zu einer kleinen Gruppe von Deutschen gehöre, die einen Migrationshintergrund hatten. Von grob 30 Klassenkameraden auf der Konkordia-Grundschule am Elsflether Weg waren nicht mehr als fünf Kinder „dunkler Natur“. Vier von ihnen sprachen Türkisch mit ihren Eltern. Der Fünfte sprach Persisch zu Hause. Dieser Fünfte war ich.

Es war jedoch zwischen uns Zehnjährigen nie ein Gesprächsthema gewesen, wessen Eltern warum, wann, von wo nach Berlin gezogen sind und wer welche Sprache zu Hause spricht, welche Feiertage man hält, und vor allem nie Thema, wer welchen Gott anbetet.

Was hatte ich mit dem Judentum zu tun?

Überhaupt ging es damals in erster Linie nur ums Fußballspielen. Auch in zweiter und dritter Linie. In den Jahren um die Weltmeisterschaft in Mexiko 1986 und Italien 1990 spielten wir jeden Tag Fußball. Wirklich jeden Tag. Kein Sturm, kein meterhoher Schneefall und keine Hitzewelle konnten uns vom Kicken abhalten. Es spielte absolut keine Rolle, wessen Eltern von wo stammen und wer eventuell noch mit einer zweiten Muttersprache aufgewachsen ist. 

Das Wort „Religion“ existierte für mich und meine Freunde weder in der Theorie noch in der praktischen Ausübung. Religion war eine Sache der Vergangenheit, des Mittelalters, und hatte Ende der achtziger Jahre in der modernen Gesellschaft keinen Platz mehr. 

Deutschland war für mich ein areligiöses Land. Selbst die christlichen Feiertage der Deutschen, insbesondere Ostern und Weihnachten, hatten für mich nichts mit Religion zu tun. Es waren Feste, mit denen jeder Bürger Deutschlands sich identifizieren konnte, und auch ich forderte und bekam Geschenke zu Weihnachten, auch wenn meine Eltern versuchten, mir zu vermitteln, dass „wir“ andere Feste haben. Ich verstand unter „wir“ „wir Perser“, nicht „wir Juden“. Was hatte ich schon mit dem Judentum und dem jüdischen Volk zu tun?

Ich wusste, dass wir Juden sind. Es interessierte mich jedoch nicht die Bohne. 

Wir hatten keine jüdischen Symbole in der Wohnung, sprachen weder Hebräisch noch Jiddisch, gingen nicht in die Synagoge und hatten nicht einen jüdischen Bekannten weit und breit. 

Was hatte ich mit dem jüdischen Staat zu tun? Fast genauso viel beziehungsweise wenig wie zum Beispiel mit Italien. Schönes Meer, warmes Klima, leckeres Essen – Israel war für mich von Italien kaum zu unterscheiden. Beide Länder besuchten wir in den Sommerferien. Einen Unterschied stellte ich jedoch schon fest: In Israel lebten meine Großeltern und einige Geschwister meiner Eltern. 

Einen gewissen Bezug zu Israel fühlte ich dann doch tief in mir.

Von Spandau nach Wedding, ein Schritt ins Mittelalter

Kurz vor dem Mauerfall 1989 zog es meine Eltern mit Sack und Pack in den Berliner Bezirk Wedding. Ich war damals 13 Jahre alt. Während andere jüdische Kinder in diesem Alter ihre Bar Mizwa feiern, musste ich mich in einer neuen Nachbarschaft zurechtfinden. Als allererstes erkundigte ich mich nach dem nächstgelegenen Fußballplatz, um meinem einzigen Hobby nachzugehen und um neue Freundschaften zu schließen. Auf einem kleinen Bolzplatz, wenige Minuten vom Gesundbrunnen entfernt, schoss ich dann wieder euphorisch den Ball vor mir her, und weil ich dies damals ziemlich gut konnte, kamen viele der Jugendlichen auf mich zu und waren an mir interessiert. 

Im Gegensatz zu Spandau, wo ich Teil einer krassen Minderheit mit Migrationshintergrund war, waren fast alle um mich herum nun plötzlich Kinder von Einwanderern. 95 Prozent  von ihnen hatten pechschwarzes Haar und teilweise eine noch dunklere Hautfarbe als ich. Sie sprachen größtenteils entweder Türkisch oder Arabisch. Sehr schnell musste ich feststellen, dass die Dinge anders liefen als in Spandau und ich anders war, zumindest in ihren Augen, obwohl ich nie anders sein wollte.

Ich wurde von jedem gefragt, ob ich Türke oder Araber sei, verbunden mit der direkten Anschlussfrage, ob ich Muslim wäre, so wie sie selbst. Ihr enormes Interesse an meiner nicht existierenden Religionszugehörigkeit verwunderte mich sehr. 

Für meine Eltern war unser Umzug ein Upgrade. Aus einer 3-Zimmer-Wohnung am Rande Berlins mit kleiner Terrasse wurde eine 5,5-Zimmer-Duplex-Wohnung mit Garten. Für meine Eltern ein Schritt nach vorne. Für mich ein Schritt ins Mittelalter!

Judenhass war weit verbreitet

Ich hatte nicht den blassesten Schimmer, dass ich zum Bezirksfeind Nummer Eins werde würde, sobald ich mich als Jude „oute". Judenhass war unter ihnen weit verbreitet. Es war eine Ausnahme, wenn ein junger Muslim den Juden gegenüber keine Vorurteile hatte und keinen tiefen Hass verspürte. Und das, obwohl keiner von ihnen je einem Juden über den Weg gelaufen ist. Ich war für sie alle der erste Jude und manch einer war bereit, die Freundschaft mit mir zu kündigen, nur weil er es nicht mit sich ausmachen konnte, mit einem Juden befreundet zu sein.

In der 9. Klasse auf dem Diesterweg-Gymnasium an der Pankstraße saß ich im Unterricht neben meinem besten neuen Freund, einem Deutsch-Inder namens Mahavir. Er war für mich ein Deutsch-Inder genauso wie ich für ihn ein Deutsch-Iraner war. Wir verstanden uns wirklich ausgesprochen gut. Wie ein Bruder war er für mich, bis er mich im Deutschunterricht vollkommen überraschend und abgrundtief enttäuschte. 

„Die Juden sind unsere Feinde“

Wir lasen ein Buch, das zur Zeit der Naziherrschaft über Deutschland spielte. An einer bestimmten Stelle ging es um ein kleines jüdisches Mädchen, das sich vor den Nazis verstecken musste, um ihr Leben zu retten. Mahavir drehte sich zu mir um und flüsterte mir zu: „Alle Juden sollten getötet werden.“ Ich war schockiert und fragte ihn, wieso er denn so etwas sagen würde, woraufhin er mir antwortete: „Die Juden sind unsere Feinde.“ Daraufhin konnte ich nicht anders, weil ich wirklich nicht verstand, was er mit „unsere Feinde“ meinte, genauso wie ich damals nicht verstand, was meine Eltern mit „wir“ meinten, und fragte ihn: „Was meinst du mit ‚unsere Feinde‘?“ 

„Juden sind die Feinde von uns. Die Feinde von uns Muslimen.“

„Ich bin aber kein Muslim.“

„Wie, du bist kein Muslim? Natürlich bist du Muslim. Du bist doch Iraner.“

„Ja, meine Eltern stammen aus dem Iran. Sie sind jedoch keine Muslime, sondern Juden.“

„Das kann nicht sein. Du verarschst mich gerade. Es gibt keine iranischen Juden.“

„Oh doch. Ich bin Jude, und was du gerade gesagt hast, hat mich sehr enttäuscht.“

„Sharuz, hör auf zu spinnen. Du kannst kein Jude sein. Erstens, weil ich Juden aus der Ferne erkenne und zweitens, weil du mein Freund bist.“

„Ich werde es dir beweisen. Morgen.“

Ich kann mich nicht mehr daran erinnern, wie wir uns, falls überhaupt, an jenem Tag verabschiedeten. Ich ging niedergeschmettert nach Hause und legte mir die goldene Davidsternkette um, die ich von meiner Großmutter bei unserem letzten Besuch in Israel geschenkt bekommen hatte. Es war ihr Geschenk zu meiner nie stattgefundenen Bar Mizwa. 

Das abrupte Ende einer Freundschaft

Am nächsten Tag ging ich mit der Kette unter dem Pullover zur Schule, und als wir dann wieder nebeneinandersaßen, holte ich sie raus, hielt sie Mahavir vor seine Augen und sagte: „Siehst du Mahavir, ich bin ein Jude.“

Ich konnte mitverfolgen, wie ihm das Herz in die Hose rutschte. Sein Gesichtsausdruck war die eines Menschen, der eine Leiche gesehen hatte. In jenem Moment, als ich ihm meinen Davidstern zeigte, begrub er unsere Freundschaft. Begrub er mich! Er stammelte nur noch die folgenden Worte: „Du bist tatsächlich ein Jude. Ein echter Jude.“

Mahavir setzte sich um. Nie wieder sprach er mit mir. Wenige Monate später zogen seine Eltern mit ihm zurück nach Indien und ich sah ihn nie wieder. 

Aber sein Gesichtsausdruck, als er meinen Anhänger zu Gesicht bekam, verlässt mich nicht. Es war ein bedeutender Moment, der für mich eine bittere Realität widerspiegelt. Es geht vielen Menschen, unter ihnen auch Muslime, nicht wirklich um den sogenannten Nahostkonflikt. Sie sind einfach voller Hass gegenüber den Juden erzogen worden. Wie sonst kann man sich rational erklären, dass ein 14-jähriger, in Deutschland geborener Junge, dessen Eltern aus Indien stammen, der Annahme ist, dass er Juden aus der Ferne erkennen kann und seinem besten Freund, einem Deutsch-Iraner, die Freundschaft kündigt, nur weil er Jude ist? 

Der Auszug stammt aus dem neuen Buch von Arye Sharuz Shalicar: Der neu-deutsche Antisemit. Gehören Juden heute zu Deutschland? Eine persönliche Analyse. Hentrich & Hentrich Verlag Berlin, 16,90 Euo

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