Über Goethes „Faust“ - „...Bereit, den faustischen Pakt einzugehen“

Jedes Pudels Kern: Neun Bekenntnisse von prominenten Fans zur wichtigsten deutschen Tragödie

Erschienen in Ausgabe
Goethe-Gemälde in der Ausstellung „Du bist Faust“ in der Hypo Kunsthalle München / picture alliance
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„Ergreifend“

Foto: Felix Rachor

Ingo Hülsmann (Schauspieler): Goethes „Faust“ wird heut eher unter- als überschätzt. Einen so raffiniert-ausgefeilten, schön-gewaltigen Monolog wie die „Anmutige Gegend“ zu Beginn des zweiten Teils kenne ich sonst nicht. Für mich nach wie vor die ergreifendste Stelle: „Ach, neige du Schmerzenreiche...“, Gretchens Monolog im Zwinger. Fast jedes Mal kamen mir in Michael Thalheimers Berliner Inszenierung die Tränen, wenn ich auf der Seitenbühne diese verzweifelten Worte von meiner Kollegin Regine Zimmermann hörte.

 „Welche Fülle!“

Foto: Renathe Barth / Diogenes Verlag

Ingrid Noll (Schriftstellerin): In meinem jüngsten Roman „Goldschatz“ stammt die Protagonistin aus einer – wie man heute sagt – „bildungsfernen“ Familie. Ihre Eltern sind Geschäftsleute, bei denen sich die Gespräche hauptsächlich um finanzielle Gewinne drehen. Die Studentin Trixi will ihren Freunden deswegen mit klassischer Bildung imponieren und gibt ständig mit „Faust“-Zitaten an. Als Schülerin war sie Souffleuse bei einer „Faust“-Aufführung. Beim Erinnern und Heraussuchen passender Zitate wurde mir klar, welche Fülle an Lebensweisheit und zeitlosen Gedanken hier zu entdecken ist; ich fand eine solche Vielfalt an Zitaten, dass ich mich am Ende wieder von einigen trennen musste, um meine Leser nicht genauso wie meine Heldin zu nerven. Ich lasse den Roman mit den weisen Goethe-Worten enden: „Erquickung hast du nicht gewonnen, wenn sie dir nicht aus eigner Seele quillt.“ Goethe wusste schon sehr gut, wie sehr Fremdbestimmung unsere Lebensqualität negativ beeinflusst.

„Großartig!“

Faris Al-Sultan (Triathlet): Goethes „Faust“ hat mich als Heranwachsender tief beeindruckt. Ich habe ihn bereits vor der obligatorischen Behandlung im Deutschunterricht verschlungen. Ein großartiges Werk! Doch im realen Leben hat mich Faust noch nicht heimgesucht, auch wenn ich die innere Zerrissenheit zwischen Gut und Böse bereits gespürt habe.

„Nicht wie Faust“

Foto: picture alliance

Michael Groß (Olympiasieger im Schwimmen): „Das also war des Pudels Kern.“ Viele Jahre fuhr ich als Frankfurter Bub an der Sachsenhäuser Warte entlang. Dort lief das Tier, das sich später als Mephisto entpuppte, bei einem Spaziergang dem Faust zu, so die Legende. Und wie oft habe ich an schönen Plätzen auf dieser Welt gedacht, wenn nichts wichtig ist außer dem Moment: „Hier bin ich Mensch, hier darf ich’s sein!“ Nicht zuletzt das Streben nach Fortschritt, nach immer mehr oder Höherem, so wie Faust. Dabei erwische auch ich mich und halte es eben nicht wie Faust: Nun lass es gut sein, wie es ist.

 „Mein erstes Stück“

Foto: picture alliance

Valery Tscheplanowa (Schauspielerin): „Faust“ war das erste Stück, in dem ich auf der Bühne stand. Am Deutschen Theater Berlin 2006. Eine Kollegin war schwanger, und ich sprang ein als „Sorge“, die große Inge Keller spielte „Philemon und Baucis“. Während wir auf den Applaus warteten, wärmte sie mir die Hände und nannte mich Gretchen. „Faust“, vor allem „Faust II“ ist ein großes, krudes, geheimes Weltgedicht. Es führt über das Volkstheater zur Weltbühne, ist Geschichtswerk, Traum und Zukunftsvision. Am Anfang von „Faust II“ erfindet Mephisto das Geld, und am Ende von „Faust II“ ist er ein gelangweilter Teufel. Das ist für mich eine sehr wichtige Erkenntnis!

„Goethe ist Mephisto”

Foto: picture alliance

Asfa-Wossen Asserate (Autor): Schon früh hat mich Goethes „Faust“ in seinen Bann gezogen. An der Deutschen Schule in Addis Abeba hatte ich in der zwölften Klasse die große Ehre, Mephistopheles aus dem „Urfaust“ zu spielen – wie ich dieses diabolische Spiel geliebt habe auf der Bühne! Vor allem der Mummenschanz des Mephisto in der nächtlichen Stube ist mir noch in guter Erinnerung. Goethe ist natürlich Mephisto und nicht Faust. Es ist dem jungen Goethe anzumerken, wie er im Sturm und Drang mit viel Akribie diese lebensfrohen Verse schrieb – kein Vergleich zum älteren, melancholischen Goethe in „Faust I“. Später, während meines Studiums in Cambridge, musste ich feststellen, dass für die Engländer Goethe synonym ist mit den „Leiden des jungen Werthers“ und nicht mit „Faust“. Grund genug, den „Urfaust“ in englischer Sprache mit der Magdalene Drama Society während der May Week uraufführen zu lassen. Es wurde ein fulminanter Erfolg! Auch wenn mir meine Seele viel wichtiger ist als meine Existenz auf Erden, wäre ich schon seit langem dazu bereit, den faustischen Pakt einzugehen, um Äthiopien von der seit fast drei Dekaden währenden Apartheid zu befreien. Nur eine demokratisch föderale Regierung, wie wir sie in Indien haben, wo es keine ethnischen Grenzen gibt, sondern nur administrative, würde einem Vielvölkerstaat wie Äthiopien mit über 120 Ethnien und 84 gesprochenen Sprachen gerecht werden.

„Begabte Hurenkinder“

Foto: Katrin Ribbe

Bernd Stegemann (Dramaturg): Hätten Max Reinhardt und Einar Schleef zusammen „Faust I“ inszenieren können, wäre wahrscheinlich die Aufführung herausgekommen, die Michael Thalheimer 2004 am Deutschen Theater in Berlin inszeniert hat. Eine solche imaginierte Zusammenarbeit des Unvereinbaren setzte die nötige Fantasie und Härte frei, die es braucht, um ein so heterogenes Drama spielen zu können. „Faust I“ ist das Werk einer Epochenschwelle. Das Aufeinandertreffen von alten Antworten auf neue Fragen bringt besonders lebendige und unreine Werke hervor. Der erzählte Stoff ist halb mittelalterliches Puppenspiel, halb bürgerliches Trauerspiel. Der Faust, den Ingo Hülsmann spielte, ist halb Gedankenscharlatan, halb von der Krankheit zum Tode Infizierter. Der Mephisto von Sven Lehmann ist sowohl zur Eiseskälte erschöpfter Teufel als auch psychotische Ichspaltung Fausts.

Goethe wusste um die Anfälligkeit des Denkens zur Prostitution. Sein Faust ist der künstlerische Beweis, dass dort, wo die Gedanken zu Huren werden, sie sehr begabte und widerstandsfähige Kinder zur Welt bringen, die auch vor Grausamkeiten nicht zurückschrecken. Die Zerstörungswut des Denkens, seine Anfälligkeit, gerade bei uns Deutschen, für falsche Führer und verblasene Ideen, gezeigt zu haben, machte die besondere Qualität der Aufführung aus. Dass bis heute kein anderes Berliner Theater eine Neuinszenierung dagegensetzen konnte, ist verständlich.

„Auf freiem Grund“

Foto: Gezett

Friedrich Dieckmann (Schriftsteller): Wenn man „Faust“ zum ersten Mal hört und sieht (es geschah mir Ostern 1950 im wiederaufgebauten Dresdner Schauspielhaus in einer Inszenierung des Intendanten Martin Hellberg), dann ist man überwältigt von Sprache, Gestalten, Bühnengeschehen und sucht nicht nach einem Kerngehalt, wohl gar einer Botschaft.

In späteren Jahren will man es genauer wissen. Man kommt darauf, dass der ganze große Lebenslauf, den das Werk ausbreitet, auf einen Satz zuläuft, in dem der Hundertjährige, dem es mithilfe avancierter Technik in Jahrzehnten geglückt ist, einen sumpfigen Küstenlandstrich in „dichtgedrängt bewohnten Raum“ zu verwandeln, seine Zukunftshoffnungen zusammenfasst: „Auf freiem Grund mit freiem Volke stehn!“ (Vers 11580).

Goethe hat an diesem Vers lange gearbeitet, er hat ihn (ich hatte das Glück, mir das in der im Weimarer Goethe-Archiv aufbewahrten Handschrift ansehen zu können) von Stufe zu Stufe präzisiert, ehe er seine endgültige Fassung erhielt, und wenn man ihn in die Sprache von heute übersetzt, so kommt man darauf, dass die Vision, die dem alten Faust vor Augen steht, auf nichts Geringeres gerichtet ist, als der Bodenspekulation Einhalt zu gebieten. Das steht in deutlicher Übereinstimmung mit jenem oft überlesenen Schlüsselsatz des deutschen Grundgesetzes, der da lautet: „Eigentum verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen.“

Faustens Hauptsatz sollte man sich nicht dadurch verkümmern lassen, dass die Gelegenheit, bei der der Erblindete ihn spricht, in einem Ohrentrug besteht: Faust deutet das Spatengeklirr derer, die auf Mephistos Geheiß sein Grab graben, als das Arbeitsgeräusch von Leuten, die weiter an der Trockenlegung von Sumpfland arbeiten. Germanisten und Regisseure kommen manchmal darauf, das eine – die Realsituation – gegen das andere – die seherische Überhöhung – auszuspielen. Das ist ebenso banausisch, wie es im untergegangenen Staatssozialismus war, die dort vollzogene Einschränkung privaten Grundeigentums für die Erfüllung von Fausts Zukunftshoffnung auszugeben.

Es ist dieses Hoffnungswort: Ein freies Volk auf freiem, also erschwinglich erwerb- beziehungsweise nutzbarem Grund und Boden, um dessentwillen die Engel dem Teufel in der folgenden Szene Fausts Seele mit einem überraschenden Manöver wegpaschen. Und es ist, recht besehen, dieses Streben, um dessentwillen die Faustens Unsterbliches tragenden Engel in der Schlussszene verkünden: „Wer immer strebend sich bemüht, den können wir erlösen.“

„Über Leichen“

Foto: Thalia Theater

Nicolas Stemann (Regisseur): Der Teufel flüstert in die Ohren: „Kümmer dich nicht um das, was uns Kirche, Gesellschaft und Tradition als ‚strebendes Bemühen‘ verkaufen – bediene dich deiner eigenen Wahrnehmung, deines Verstands, deiner Urteilskraft. Kurz: Sei dein eigener Maßstab!“ Dieser von Mephisto aus der Aufklärung entlehnte Imperativ führt zwar durchaus zum von Faust ersehnten Erkenntnis-, doch ebenso zu Wohlstands-, Herrschafts- und Machtgewinn. Frauen, Natur und Kolonien werden in der Folge unterworfen und zerstört – die Zerrissenheit in der Brust dient dabei als Antrieb und Ausrede gleichermaßen.

Die technischen und ökonomischen Errungenschaften in der Folge des Teufels­pakts – der vor allem eine Entscheidung zur Selbstermächtigung ist – sind zwar enorm, doch der Preis, den Natur und menschliche Seele dafür zahlen müssen, ist hoch. Außerdem stellt sich die Frage der Nachhaltigkeit: Die Einführung des Papiergelds führt zu schnellem Reichtum, aber auch zur Inflation, Homunkulus bleibt lebensunfähig, und auch das Landgewinnungsprojekt des letzten Akts von „Faust II“ misslingt, weil schließlich die Landschaft versumpft – statt Gräben ist es das Grab, das die Lemuren uns schaufeln (die ewig Liebenden der griechischen Mythologie, Philemon und Baucis, wurden völlig umsonst aus ihrem trauten Heim geräuchert, um der Großbaustelle Platz zu machen). So gelesen, beschreibt der zwischenzeitliche Weimarer Finanzminister Goethe in seinem Drama nicht nur die Geburt des modernen Kapitalismus, sondern auch erstaunlich spezifisch, wie dessen Drang nach immer mehr über Leichen geht und notwendig in der menschlichen und ökologischen Katastrophe endet.

Dies ist die Titelgeschichte aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie ab morgen am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.









 

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