Gedanken zum Jahresanfang - Von Kugelblitzen und Lichtmaschinen

Kolumne: Morgens um halb sechs. Am Jahresanfang sind die Antennen besonders gespannt. Dennoch sind Entwicklungen oft schwer vorhersehbar. Kleine Signale, die richtungsweisend sein könnten, werden oftmals überhört

Wie ein Blitz erleuchtet uns die Klarsicht manchmal für Sekundenbruchteile / picture alliance
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Autoreninfo

Sabine Bergk ist Schriftstellerin. Sie studierte Lettres Modernes in Orléans, Theater- und Wirtschaftswissenschaften in Berlin sowie am Lee Strasberg Institute in New York. Ihr Prosadebüt „Gilsbrod“ erschien 2012 im Dittrich Verlag, 2014 „Ichi oder der Traum vom Roman“.

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Sie sind unscheinbar, leuchten kurz auf und verschwinden gleich wieder. In wenigen Sekunden lassen sie uns die Entwicklung ganzer Jahre wissen. Es sind kleine Bilder, die uns wie Kugelblitze unverhofft besuchen. Jedoch sind sie, bevor wir sie entschlüsseln können, schnell wieder verschwunden. Jahre später erinnern wir dieses kurze Zucken, das uns das Kommende bereits wie in einer übereinander getürmt kryptischen Erzählung gezeigt hat - nur konnten wir es weder entschlüsseln noch rational erfassen. Während Physiker dem lange Zeit nicht einfangbaren Kugelblitz immer schärfer auf der Spur sind, wird das Phänomen der blitzartigen Klarsicht immer noch unterschätzt. Der Verstand hinkt der pfeilscharfen Intuition hinterher wie eine Zielscheibe, die nicht weitreichend genug in der Zukunft aufgebaut wurde, um den rasenden Teilchenstrom auffangen zu können. 

Keine Zeit für geistige Elastizität

Teilchen zu fangen ist nicht nur die Hauptbeschäftigung des CERN, sondern auch ein täglicher Vorgang in unserem Kopf. Es gibt fast nichts Wichtigeres, als zu versuchen, diese exakten kleinen Pfeilspitzen verstandesmäßig zu erfassen und zu entschlüsseln. Durch eine immer stärkere Ablenkung, die zunehmende Licht- und Luftverschmutzung, Lärm und Geschwindigkeit, verpassen wir leider zunehmend unsere eigenen Pfeile. Kurz gesagt, verfehlen wir uns permanent selbst. Viele dieser zeitgemäßen Verfehlungen werden erst wahrnehmbar, wenn es bereits zu spät ist. Dabei würde jedes Kind (Kinder haben ja dieses Teilchenfangtalent noch in unberührter spielerisch traumwandelnder Art inne), in so mancher Angelegenheit sagen, dass es doch klar war, vorhersehbar, vollkommen logisch. 

Die kindlichen Anteile nicht zu verlieren, den spielerischen Geist wachzuhalten und nicht zu schnell in alte Gewohnheitsmechanismen zu verfallen, ist die Chance, die uns am Anfang des Jahres offen steht. Mit viel Geknall und Trara wird das Jahr begonnen. Meist landet man schon eine Woche später in einer Art Morast aus  zerfetzten Knallkörpern und Matsch. Der Januarnebel und der ununterbrochen laufende Kaffeemaschinentakt geben dem Jahresanfang dann den Rest. Für Intuition, geistige Elastizität oder gar innere Kugelblitzbeobachtungen bleibt wenig Zeit. Das überlässt man lieber internationalen Spezialisten. Der alltägliche Bereich bleibt auf der Ebene eines Flachbildschirms stecken. Kein Wunder, dass sich die Werbung für Hörgeräte bereits auf junge Menschen spezialisiert hat. Wir stumpfen ab. 

Wir tapsen im Nebel ungeahnter Phänomene

„Ich fühle Luft von anderem Planeten“, schrieb der Dichter Stefan George in seinem Gedicht „Entrückung“. Georges Gedicht endet mit den Versen „Ich bin ein funke nur vom heiligen feuer/ Ich bin ein dröhnen nur der heiligen stimme“. Arnold Schönberg übernahm den Text für sein zweites Streichquartett, das ein Werk der musikgeschichtlichen Schwelle werden sollte. 
Ganz so dramatisch und prophetisch muss die Jahreswende dann auch nicht beginnen. Dennoch ist jede Jahreswende eine Schwelle, die wir vorsichtig überschreiten. Keiner weiß, was das Jahr prägen wird. Wir tapsen im Nebel ungeahnter Phänomene und geben uns dabei siegesbewusst stabil. 

Für das Erkennen von Kugelblitzen braucht es nicht unbedingt die Luft anderer Planeten. Der Plasmaphysiker Gerd Fußmann von der Berliner Humboldt Universität füllte bereits 2008 ein Gefäß mit Wasser und setzte zwei Elektroden mit einer Spannung von 5 kV an. Für den Bruchteil einer Sekunde entstand ein Gebilde, das sich als Kugelblitz deuten ließ.

Es braucht kein großes Geknalle, kein Riesenfeuerwerk und auch keine Lichtmaschine, um einfache Signale einzufangen. Eine spannungsgeladene Wasserpfütze genügt. Wie das Jahr wird, hängt an vielen Wasserpfützenblitzen.
 

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