Der irrsinn der Identitätspolitik - Das Recht der lautesten Empörung

Der Fall einer weißen New Yorkerin, die einen schwarzen Spaziergänger zu Unrecht als Angreifer denunziert hat, hat ein Licht auf den Rassismus geworfen. Der ist tief im liberalen Bürgertum verwurzelt. Und er hat dazu geführt, dass sich die Opfer verbünden und immer absurdere Forderungen stellen.

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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Wer sich noch immer fragt, was Rassismus ist und wie alltäglich er sich in unserer westlichen Gesellschaft zeigt, der schaue sich das kurze Video aus dem Central Park von Anfang Juni an, das im Internet millionenfach geklickt wurde.Das Video wurde von einem jungen Mann aufgenommen, der mit einer Frau in Streit geraten ist. Der filmende Mann ist selbst nicht zu sehen, sondern nur seine ruhige Stimme zu hören. Er bittet die Frau, nicht näher zu kommen und ihren Hund doch anzuleinen.

Die Frau regt sich darüber auf und droht dem Mann, die Polizei zu rufen. Der Mann fordert sie auf, das zu tun, denn er fühlt sich im Recht, da Hunde in diesem Teil des Central Parks angeleint werden müssen. Doch ungeachtet ihres Fehlers ruft die Frau die Polizei an. Und nun hört man die wenigen Sätze, die zu einem veritablen Skandal geführt haben: „Hier ist Amy Cooper. Ich gehe im Central Park spazieren und hier ist ein afroamerikanischer Mann, der mich filmt und belästigt. Er bedroht mich und meinen Hund.“ 

Rassismus als kalkulierte Technik

Die Anschuldigung ist offensichtlich falsch. Der filmende Mann ist ein Stanford-Absolvent, er arbeitet als Autor für eine Filmproduktionsfirma und ist homosexuell. Und er ist schwarz. Dieses Merkmal reicht aus, damit die junge weiße Frau ihn bei der Polizei anschuldigen kann: „Es ist ein afroamerikanischer Mann, der mich bedroht.“ In diesem Satz treten alle Probleme des Rassismus in Reinform auf. Die Frau setzt diese Aussage bewusst ein, weil sie weiß, was sie mit dieser Anschuldigung bei der Polizei auslösen wird. Sie kann davon ausgehen, dass ihr Wort mehr Gewicht hat als das des beschuldigten schwarzen Mannes, und sie setzt damit willentlich die gesamte Maschinerie eines institutionellen Rassismus in Gang. Dieser ist ihr offensichtlich so vertraut, dass sie ohne Zögern dazu greift, um aus einem harmlosen Streit, bei dem sie im Unrecht ist, einen Angriff zu konstruieren, bei dem sie als Opfer dasteht. 

Das kurze Video ist erhellend, weil man hier einer jungen New Yorkerin, die bei einem großen Finanzinstitut arbeitet und einen Hund aus dem Tierheim geholt hat, die also zu dem liberalen urbanen Milieu gehört, das überwiegend Trump verabscheut, dabei zusehen kann, wie schnell der Rassismus in ihr geweckt werden kann. Das Perverse an dieser Form von Rassismus ist, dass er nicht aus einer dumpfen Fremdenfeindlichkeit erwächst, sondern dass er eine kalkulierte Technik ist, um sich selbst einen Vorteil zu verschaffen. 

Das Individuum verschwindet in der Gruppe 

Amy Cooper hat sich inzwischen in einem Interview bei dem Mann entschuldigt. Sie sei keine Rassistin und habe niemandem schaden wollen, beteuert sie. Ich würde die These wagen, dass sie tatsächlich gar keine Rassistin im klassischen Sinne ist, dass sie aber genau weiß, was sie bei der Polizei auslöst, wenn sie die Kennzeichnung „afroamerikanischer Mann“ benutzt. Sie erfüllt damit die beiden Kennzeichen, die eine rassistische Handlung auszeichnen: Sie schreibt einem Menschen aufgrund eines äußeren Merkmals eine Eigenschaft zu, das heißt sie sieht nicht das Individuum, sondern ein Muster. Und zweitens wird dem äußeren Merkmal eine negative Eigenschaft zugeschrieben, die für alle Individuen gilt, die über dieses Merkmal verfügen. In dieser Logik bedeutet zum Beispiel „schwarz“ gefährlich, also sind alle Menschen mit schwarzer Haut gefährlich, auch wenn sie nur wie in dem Video Vögel im Park beobachten wollen und darum höflich auf den Leinenzwang hinweisen. 

Die historische Funktion einer solchen rassistischen Benennung lag ursprünglich in dem Legitimationszwang des Kolonialismus. Wollten die Europäer fremde Länder erobern und die Bevölkerung zu Arbeitssklaven machen, so brauchten sie vor sich selbst eine Ideologie, mit der sie diese kriegerischen Handlungen rechtfertigen konnten. Gerechte Kriege werden öfter gewonnen als Kriege aus purer Gier. Der Rassismus erfüllte genau diese Aufgabe. Nicht mehr der einzelne Mensch wurde gesehen, sondern nur noch die Gruppe, die über die oberflächlich gleichen Merkmale verfügt, die man mit negativen Eigenschaften versehen kann. 

„Nigger" wird als Mittel genutzt, um die Identität zu stärken 

In der Gegenwart hat sich der Umgang mit Rassismus stark verändert. Durch das, was man Identitätspolitik nennt, haben Gruppen, die vormals durch diskriminierende Zuschreibungen abgewertet wurden, einen Kampf dagegen begonnen. Die Identitätspolitik verfolgt dabei eine paradoxe Strategie, indem sie die vormalige Abwertung nimmt und sie umwendet, so dass sie als identitätsstiftendes Merkmal die Gruppe zusammenschweißt. Weil die Weißen die Schwarzen als Gruppe abgewertet haben, indem sie sie zum Beispiel  „Nigger“ genannt haben, verwenden Schwarze in den USA nun dieses Wort, um sich als Gruppe untereinander zu bestärken. Man wiederholt die vormals diffamierend gemeinte Zuschreibung und macht so aus einer Verletzung ein Mittel, um die eigene Identität zu stärken. 

Dieser Mechanismus ist erfolgreich, er ist aber, sobald er in die Mühlen des identitätspolitischen Aktivismus gerät, auch sehr folgenreich. Denn zum einen werden dadurch die Gräben zwischen den Gruppen vertieft, weil die Identitäten vor allem aufgrund ihrer gegenseitigen Differenzen verstärkt werden. Donald Trump ist der erste „weiße“ Präsident, denn er hat das Gruppenmerkmal des weißen Amerikaners zu einem aggressiven politischen Inhalt gemacht und damit die Spaltung der USA weiter beschleunigt. Zum anderen folgt aus der paradoxen Stärkung der eigenen Identität ein unlösbarer Konflikt. Denn nun wird jede Aussage vor allem daraufhin bewertet, wer sie getätigt hat. Die Frage, wer spricht, überschattet die Frage, was gesagt worden ist. Wenn sich zum Beispiel der „alte, weiße Mann“ zu Themen wie Metoo oder Rassismus äußert, dann gilt seine Aussage wenig oder führt sogar dazu, dass er dafür beschimpft wird. Die erbittert geführte Diskussion, wer gerade in Talkshows überhaupt zu den Ereignissen in den USA sprechen darf, ist eine der vielen Folgen einer solchen Logik. 

Die Logik der doppelten Standards

Die verhängnisvollste Konsequenz besteht jedoch darin, dass sogar der Wahrheitsgehalt einer Aussage immer öfter davon abhängig gemacht wird, wer sie getroffen hat. Das führt zu der Einteilung in Stimmen, denen immer geglaubt werden muss, und anderen, die nicht gehört werden sollen. In der Logik der Identitätspolitik gilt seitdem, dass dem Opfer immer geglaubt werden muss, und der Beschuldigte automatisch als Täter gilt und seine Verteidigung nicht mehr gehört werden muss. 

Der Anruf von Amy Cooper ist unter dieser Perspektive noch einmal brisanter. Denn hier ruft eine Frau bei der Polizei an, die identitätspolitisch zu der Gruppe gehört, der bei körperlichen Angriffen unbedingt geglaubt werden muss. Nun zeigt das Video aber, dass es keinen Angriff gibt, sondern dass die Anschuldigung erlogen ist. Das versetzt die gesamte Identitätspolitik in ein unlösbares Dilemma. Denn es stehen sich nicht nur zwei Opfergruppen – schwarzer, homosexueller Mann und weiße Frau – gegenüber, sondern die durch Metoo nochmal gestärkte Forderung, den Frauen unter allen Umständen zu glauben, wird als Machtmittel missbraucht, um einen schwarzen Mann bei der Polizei anzeigen zu können. 

Die Spirale drastischer Behauptungen 

Die eigentliche Lehre aus diesem Video ist, dass Identitätspolitik zwangsläufig zu Widersprüchen führt, die von der Logik der doppelten Standards nicht mehr aufzulösen sind. Eine Regel, die besagt, dass die Regel vor allem davon abhängt, wer sie gerade anwendet, führt ins Chaos unlösbarer Konflikte. Denn wie sollen die Aktivistinnen von Metoo auf ein solches Video reagieren? Nach ihrer bisherigen Logik müssten sie der Frau glauben, da es ja sein kann, dass sie sich subjektiv bedroht gefühlt hat. Die Unschuldsbeteuerung des Mannes würde an diesem Gefühl nichts ändern, weswegen ihrer Anschuldigung gefolgt und der Mann verurteilt werden muss. Zugleich ist offensichtlich, dass die Frau die Bedrohung erfindet und mit einem rassistischen Zusatz versieht, um sie noch gefährlicher erscheinen zu lassen. Das heißt, in diesem Fall muss nicht mehr unbedingt der Frau geglaubt werden, sondern der wahrheitsgemäßen Aussage des Mannes. 

Hat man diese Einsicht gewonnen, so müsste daraus der wohltuende Schluss der universell gültigen Rechte folgen. Diese besagen, dass es nicht wichtig ist, wer etwas behauptet, sondern dass es wichtig ist, was jemand behauptet und ob es der Wahrheit entspricht. Genau dieser Universalismus wird von den identitätspolitischen Aktivisten jedoch abgelehnt, da er die privilegierte Position der Opfer mindern würde. So spaltet sich eine Gesellschaft, in der die Identitätspolitik die öffentliche Erregung kontrolliert, zwangsläufig in unversöhnliche Communities. Die Folgen sind alltäglich zu erleben, wenn die doppelten Standards immer ungenierter eingeklagt werden. So sind Abstandsregeln bei Demonstrationen für „Black Lives matter“ zu vernachlässigen, bei Demonstrationen für andere Belange drohen Strafen, sollte jemand zu dicht beieinander stehen. Und zugleich verliert die Empörung jede Realitätsanbindung, wenn zum Beispiel die SPD-Vorsitzende Esken der deutschen Polizei generellen latenten Rassismus attestiert. Ist die Spirale der möglichst drastischen Behauptungen einmal in Gang gesetzt, werden Argumente immer hemmungsloser durch die Empörung der „richtigen“ Opfergruppe ersetzt. 

Forderung nach Abschaffung der Polizei 

In den USA wird zu Beispiel gerade von einigen Demokraten gefordert, die Polizei abzuschaffen. Wer sich, wie der Bürgermeister von Minneapolis dagegen ausspricht, wird von einer aufgebrachten Menge vertrieben. Jeder, der nur eine Sekunde aus seiner Empörungswolke heraustreten würde, müsste erkennen, dass eine Gesellschaft, in der das Gewaltmonopol nicht mehr beim Staat liegt, zum Krieg aller gegen alle führt. Die Verlierer in einer solchen Welt sind immer die Schwachen.

Eine der Stadträtinnen, die für die Abschaffung der Polizei gestimmt hat, wurde darum von einer CNN-Reporterin gefragt, wen sie dann anrufen solle, wenn Nachts bei ihr eingebrochen würde. Die Antwort zeigt, zu welchem Irrsinn Identitätspolitik inzwischen fähig ist. Die Politikerin sagte: „Eine solche Frage stammt aus einer sehr privilegierten Position.“ Damit meint sie, eine solche Frage muss sie nicht beantworten. Denn wer etwas besitzt, das man noch klauen kann, der hat kein Recht auf Schutz, da er privilegiert ist. Sollte eine solche Politik jemals die Mehrheit bekommen, wird der Jubel der Kinderschänder und kriminellen Clans in aller Welt infernalisch sein. 

Der Rassismusbegriff als Druckmittel  

Der identitätspolitische Rassismusbegriff führt wie alle anderen Doppelstandards nicht nur zu unlösbaren Widersprüchen, sondern er wird zusehends zu einem moralischen Druckmittel, um der Mehrheitsgesellschaft ein schlechtes Gewissen zu machen. Das trifft auf ein seltsames Bedürfnis, denn nicht wenige Weiße scheinen überaus froh zu sein, sich ausgiebig in weißer Schuld und Demut zu üben. Und auf Seiten der Aktivisten sind die Rache- und Demütigungsphantasien gerade grenzenlos. So wird von Polizisten erwartet, dass sie in die Knie gehen, wenn vor ihnen Schilder geschwenkt werden, auf denen steht, dass alle Polizisten Bastarde sind. 

Ob das Zusammenspiel von empörten Vorwürfen und Schuldstolz sein Ziel erreicht und Gleichheit herstellt, ist wenig wahrscheinlich, da die Methode unweigerlich zu neuen unlösbaren Widersprüchen führt, wie das Video-Beispiel zeigt. Darum ist zu befürchten, dass die doppelten Standards der Identitätspolitik die Konflikte in zerfallenden Gesellschaften immer weiter anheizen werden, und dass am Ende niemand mehr übrig bleibt, der die undankbare Aufgabe übernimmt, die Scherben wieder aufzusammeln. Identitätspolitik kennt keine neutralen Instanzen mehr, sondern nur noch Freunde und Feinde. Das zerstört die zivilisatorische Leistung der universellen Rechte und macht die Kompromissfindung unmöglich. Dass der Kampf gegen die Gewalt des Rassismus dadurch zu gewinnen ist, dass man die Methode der gruppenbezogenen Ungleichbehandlung unter umgekehrten Vorzeichen anwendet, muss nach aktuellem Stand der zunehmenden Brutalität und Spaltung stark in Frage gestellt werden. Und ob die identitätspolitischen Aktivisten wirklich in einer Welt leben wollen, in der das Recht der lautesten Empörung gilt, wage ich zu bezweifeln. 

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