Historikerstreit ums Kaiserreich - Nur ein Untertanenstaat?

Ein Streit um die Historikerin Hedwig Richter entpuppt sich als Wiederauflage einer klassischen deutschen Debatte. War das Kaiserreich mehr als die fatale Vorgeschichte von 1933? Wer die Frage bejaht, bekommt noch immer Schwierigkeiten.

Wie fortschrittlich war das Kaiserreich? / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Jens Nordalm leitete bis August 2020 die Ressorts Salon und Literaturen bei Cicero.

So erreichen Sie Jens Nordalm:

Anzeige

Es hat nicht die Dimensionen der großen Historikerstreite der Bundesrepublik, was da gerade um die Münchner Geschichtsprofessorin Hedwig Richter ausgebrochen ist. Nicht die Dimension des Streits 1986/87 um Ernst Nolte und die Singularität des Holocaust. Nicht die Dimension des Streits um Daniel Goldhagens Porträt der Deutschen als „Hitlers willige Vollstrecker“ 1996 oder um Christopher Clarks Buch „Die Schlafwandler“ von 2013, in dem es um die inzwischen längst international fruchtbar aufgenommene Revision der Vorstellung von einer deutschen Hauptschuld am Ersten Weltkrieg ging. Auch nicht die Dimension der viele Jahre lang geführten Debatten um einen fatalen deutschen „Sonderweg“ ins 20. Jahrhundert – im Vergleich zu einem westeuropäisch-atlantischen, demokratischen „Normalweg“.

Und doch, hierhin, in diese geistigen Auseinandersetzungen um jenen „Sonderweg“, zwischen linken und liberal-konservativen Historikern in der alten Bundesrepublik, scheint der Streit um Hedwig Richter dann doch zu gehören. Aber der Reihe nach.

Ein Shootingstar

Eine vergleichsweise junge Historikerin, Jahrgang 1973, seit 2019 Professorin an der Universität der Bundeswehr in München, wird zum Liebling einer gebildeten Öffentlichkeit. Sie schreibt kluge Texte in den Feuilletons. Dazu ist sie auf Twitter sehr präsent, mit über 18.000 Followern – was für eine geisteswissenschaftliche Professorin doch immer noch so neu ist, dass es auffällt. In der Fernsehsendung „lesenswert“ mit Denis Scheck nannte man sie den „Shootingstar der deutschen Geschichtswissenschaft“.

Sie schreibt nach ihrer Habilitation ein weiteres Buch, einen Überblick über das Verhältnis von deutscher Geschichte und Demokratie seit dem 18. Jahrhundert, das im August 2020 im renommierten Beck-Verlag erscheint: „Demokratie. Eine deutsche Affäre“, mit einem Akzent auf den Frauen in dieser Geschichte und mit der These, dass die Idee eines Rechts auf die Unversehrtheit des eigenen Körpers ein wichtiger treibender Faktor in dieser Geschichte war.

Helle Sicht aufs Kaiserreich

Vor allem findet man in diesem Buch einen auffallend optimistischen Blick auf die deutsche Demokratiegeschichte. Richter schreibt keine Geschichte der Defizite an Demokratie, sondern eine Geschichte ihrer vielfältigen Entstehung. Eine „Affäre“ der Deutschen nennt sie das ja schon in ihrem Untertitel – also eine Art heimliche Liebe oder Liebesabenteuer. Wo die vorherrschende Erzählung doch eher ist, die Demokratie sei uns Deutschen spät aufgezwungen worden. Und sie erlaubt sich dabei vor allem eine sehr helle Sicht auch auf das Kaiserreich.

In diesem 1871 gegründeten deutschen Nationalstaat erweiterte die Ausdehnung des Wahlrechts die politische Partizipation. Der Reichstag gewann ganz erheblich an Bedeutung. Auch ein vielfältiges Vereins- und Verbandswesen sorgte für zunehmende Politisierung der Bürger. Sozialstaat und Sozialversicherungen entstanden. Wirtschaft, Medizin, Forschung und Wissenschaft waren weltweit führend. Und das sind nur kurze Stichworte, die sich vermehren ließen.

Laudatio von Schäuble

Richters Buch wird zum Bestseller, auch wenn die Besprechungen in den Feuilletons gemischt ausfielen. Und zur Krönung wird ihr im Oktober 2020 in der Staatsbibliothek Unter den Linden der Anna Krüger Preis für Wissenschaftssprache verliehen. Laudator ist Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble. Insgesamt alles so glanzvoll, dass auch das die gleich zu besprechende ungewöhnliche Kritik zweier männlicher Fachkollegen provoziert haben mag.

Dann auf einmal erscheinen nahezu gleichzeitig zwei lange Rezensionen in den wichtigsten netzbasierten Rezensionsorganen des Fachs, „Sehepunkte“ und „H-Soz-Kult“, von Andreas Wirsching und Christian Jansen, Professoren in München beziehungsweise in Trier, Wirsching als Direktor des Instituts für Zeitgeschichte eine der zentralen Figuren des Fachs. Rezensionen mit einer Giftigkeit der Ablehnung, dass man aufhorchte.

Emotionalität und Erzählung

Sieht man sich die Kritik inhaltlich an, so scheint manches berechtigt, manches nicht. So trifft etwa die Kritik nicht zu, Richter schreibe dem berühmten Aufstand der schlesischen Weber 1844 demokratische Motive zu. Ihr geht es vielmehr um die Demokratisierungs-Wirkung der Vorgänge, um ihren einleuchtenden Platz in einem Demokratisierungsgeschehen oder -prozess – nämlich, weil der Aufstand zu einer fruchtbaren öffentlichen Erörterung von Missständen führte.

Was aber jenseits solcher Fragen auffällt, ist die Heftigkeit, mit der in beiden Besprechungen Richters Arbeit die Wissenschaftlichkeit abgesprochen wird – aus Gründen, die insgesamt nicht einleuchten. Etwa, es handele sich bei ihrem Buch im Wesentlichen um eine Ansammlung von Bekanntem. Ja, aber das Buch ist keine Forschungsarbeit, sondern ein Überblick für das breite Publikum. Und sie formuliere diese „Banalitäten“ stets in „emotionalem Überschwang“ (Jansen). Nüchtern, wäre das traurige Gebot! Oder sie fröne in ihrem Buch einer der modischen Serienkultur abgeguckten Häppchenform, weil es sich um sehr viele kleine Kapitel handele. Und im Vorwort bekenne sie sich sogar fröhlich zu einer solchen Erzählidee. Damit ist sie – anders als ihre beiden Kritiker – allerdings auf der Höhe einer Geschichtswissenschaft, die inzwischen verstanden haben sollte, dass Geschichte immer erzählt werden muss und deshalb Formfragen durchaus mitten hineingehören in die Arbeit.

Doch nur düstere Vorgeschichte?

Offenbar aber ist es im Kern Hedwig Richters helle Sicht aufs Kaiserreich, die gar nicht geht – merkt man mit Erstaunen, weil man dachte, der alte Streit ums Kaiserreich sei vorbei. Aber man hätte es wissen können. In diesem Jahr, in dem sich die Gründung des Bismarck‘schen Reichs zum 150. Mal jährt, hatte die lauteste Veröffentlichung des Marburger Historikers Eckart Conze ganz in Schwarz dekretiert, am Kaiserreich sei nichts zu feiern, nichts zu loben. Es bleibe die direkte und düstere Vorgeschichte von 1933, nichts sonst.

Hierher scheint nun die größte Energie des Widerspruchs gegen Richter zu stammen, bei Wirsching, aber auch bei Conze selbst, der sich ebenfalls bei den Richter-Richtern findet.

Und selbst wo es ganz düster ist in dieser deutschen „Affäre“ mit der Demokratie – und das schlug dem Fass den Boden aus –, ist es trotzdem eine Art Demokratiegeschichte, so Richter: Auch der Aufstieg des Nationalsozialismus stehe in einem Zusammenhang mit Demokratie. Man kennt eigentlich diese Denkfigur des totalitären Potenzials einer nicht liberal eingehegten Politisierung breiter Massen. Aber für die Kollegen ging dieser Gedanke nun gar nicht. Wirsching fassungslos: „Am Ende stehen auch die dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte und mit ihnen der Nationalsozialismus in einem strukturellen Zusammenhang mit der Demokratie.“ Andere Fachkollegen fanden inzwischen in diesem Streit, damit habe Richter doch völlig Recht.

Ein alter Streit

Wirsching findet gar, mit diesem ganzen Ansatz spiele Richter der AfD in die Hände. Er nennt Richters Deutungen mit einem alten Kampfbegriff gegen differenzierende Deutungen der deutschen Geschichte „schlicht apologetisch“: „Tatsächlich spielt Richter jenen neo-nationalistischen Kräften in die Hände, die die deutsche Geschichte gerne im Sinne einer gerade im internationalen Vergleich harmlos-demokratischen Linearität umschreiben würden.“

Dabei betont sie nur, was etwa der größte liberal-konservative Historiker der alten Bundesrepublik, Thomas Nipperdey, der gebildetste, weiseste, in den 70er und 80er Jahren stets ruhig und überzeugend gegen den Verdammungsfuror seines linken, ungetrübt gegenwartsstolzen Kontrahenten Hans-Ulrich Wehler ins Feld führte: „Die wilhelminische Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Reformbewegungen und der Reformen gewesen … eine Gesellschaft auch der politischen Veränderung. … Die deutsche Gesellschaft vor 1914 … hat sich verbürgerlicht und liberalisiert, und sie entwickelte aus sich auch das wachsende Potential einer kommenden Demokratie.“ Die Ambivalenzen und "Schattenlinien" ins Spätere, wie er das nannte, hat er daneben nie verschwiegen.

Thomas und Heinrich Mann

Ins Feld führte Nipperdey dies gegen eine Einseitigkeit des Urteils, die schon Thomas Mann aufgeregt hatte. In seinen „Betrachtungen eines Unpolitischen“ aus den Jahren 1915 bis 1918 (die ein viel liberaleres Buch sind als man immer meint) verwahrte er sich gegen eine Position, „die mit dem Namen des Deutschen Reiches durchaus die Vorstellung einer Prunk- und Reklamefassade hatte verbinden wollen, hinter der es nichts als Fäulnis und Moder, Brutalität und Sklavenmisere gäbe“. Man wird wohl allerdings sagen müssen, dass Thomas in dieser Frage gegen seinen Bruder verloren hat. Heinrichs Geschichte vom Untertanenstaat hat sich durchgesetzt.

Und wer sich einmal wieder mehr an Thomas hält, bekommt es mit Wirsching und Conze zu tun. Erzählungen gegen den hässlichen deutschen Sonderweg sollen offenbar aus dem deutschen Geschichtsbewusstsein verschwinden.

Hedwig Richter schlägt – auch in ihrem neuen, gerade erscheinenden Buch „Aufbruch in die Moderne“, einem Essay über das Kaiserreich – einen anderen Ton gegenüber diesem Nationalstaat von 1871 an, der in so vielem eben doch zu unserer heutigen Vorgeschichte gehört, mit vielen Leistungen, nicht wegdenkbar. Möge der optimistische Klang von Richters deutschen Demokratie-Erzählungen dem Fach und dem Publikum erhalten bleiben.

 

Anzeige