Gesellschaftskritik - Die Ermatteten

Kolumne: Brief aus Tel Aviv. Lange war Deutschland ein Land des Konsenses. Doch seit der Terror vor der eigenen Haustür angekommen ist, driftet die Gesellschaft auseinander, die Zukunft scheint ungewiss – ein Prozess, den die Israelis schon lange kennen. Nur reagieren sie ganz anders

Die Sonne und das Leben genießen trotz permanenter Terrorgefahr? Alltag in Tel Aviv / picture alliance
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Autoreninfo

Die Schriftstellerin Sarah Stricker lebt seit acht Jahren in Tel Aviv. Ihr Debütroman „Fünf Kopeken“ (Eichborn) wurde unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet, dem höchst dotierten Preis für ein deutschsprachiges Erstlingswerk, und wird derzeit in mehrere Sprachen übersetzt.

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Als ich Ende 2009 von Berlin nach Tel Aviv zog, verließ ich ein Land, das keine nennenswerten Probleme hatte. Gut, die Mieten stiegen, die Löhne fielen, Karstadt-Pleite, Schweinegrippe, Stuttgart 21, schon klar. Aber im Vergleich zu Israel, wo man bisweilen eine Benachrichtigung im Briefkasten vorfindet, dass man sich doch bitte seine neue Gasmaske abholen möge, wo eine liegengelassene Tasche dazu führt, dass die Straße gesperrt wird und ein kleiner Roboter kommt, der sie zur Sprengung bringt, wo überall Schilder stehen, die den nächstgelegenen Bunker ausweisen und Menschen meines Alters ihre Kindheitserinnerungen anhand des dazugehörigen Kriegs verorten – im Vergleich zu all dem schienen mir die Sorgen der Deutschen dann doch, ich sag mal, überschaubar.

Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich meinen deutschen Freunden in den ersten Monaten mit diesen „im Vergleich dazu“-Sätzen gewaltig auf den Geist ging, dass ich bisweilen arg zu einem leicht spöttelnden, leicht herablassenden „Ihr wisst ja gar nicht, wie gut ihr’s habt, Kinder“-Ton neigte, der mir natürlich tatsächlich überhaupt nicht zustand. Zum einen, weil ich mir den Umzug nach Israel selbst ausgesucht hatte. Zum anderen, weil es ja völlig normal und verständlich und auch absolut richtig ist, dass einem die eigenen Probleme die wichtigsten sind; weil die Vorstellung, das eigene Schicksal würde dadurch leichter, dass es andere noch härter getroffen hat, an der menschlichen Natur vorbeigeht; weil der Rosenkohl nicht besser schmeckt, nur weil die Kinder in Afrika Hunger leiden, und ein gebrochenes Herz nun mal schweineweh tut, auch dann, wenn anderswo Raketen fliegen.

Auch in Israel keine pausenlose Angst

Vor allem aber war die Überheblichkeit auch ziemlich unehrlich, denn natürlich lebte ich in Israel nicht pausenlos in Angst. Ich glaube, ich habe mal irgendwo ein irisches Sprichwort gelesen: „Der Mensch gewöhnt sich an alles, selbst an einen Strick um den Hals.“ Anfangs riefen mir die bewaffneten Sicherheitsleute vor dem Einkaufszentrum die Bedrohung noch unangenehm ins Bewusstsein. Nach einer Weile gaben sie mir ein Gefühl der Sicherheit. Noch ein bisschen später nahm ich sie nur noch wahr, wenn ich Besuch aus Deutschland hatte, was ziemlich oft vorkam, denn ein paar der Freunde wollten sich das Ganze dann doch mal selbst ansehen.

Die einen waren überrascht, wie viel säkularer und linker und weltoffener die Israelis waren, als sie gedacht hatten. Die anderen waren schockiert, wie viel religiöser und rechter und rassistischer die Israelis waren, als sie gehofft hatten. Aber ein Begriff, der nahezu immer fiel, war der der „Energie“ – was für eine irre Energie dieses Land habe, wie man die überall spüre, wie sie sich fast zwangsläufig auf einen selbst übertrage.

Das mag damit zu tun haben, dass der Staat noch so jung ist, noch im Wachsen, die Dinge in Bewegung, dass vieles von dem, was bei uns als gesetzt gilt (oder es zumindest bis vor kurzem noch galt), sich hier erst noch entwickeln muss.

Die alltägliche Bedrohung vergisst man nicht

Es kann daran liegen, dass die Menschen, die diesen Staat aufgebaut haben, oft nicht viel mehr miteinander gemein hatten, als dass sie nirgendwo anders bleiben konnten, und die Bevölkerung bis heute enorm heterogen ist, – wenn sie der Glas-halb-voll-Typ sind, nennen Sie’s „vielfältig“, die meisten Israelis sprechen eher von „hoffnungslos zerstritten“ – während das Deutschland, in dem ich aufgewachsen bin, eins des Konsenses war, ein Land, in dem Parteien bisweilen absurde Verrenkungen unternehmen mussten, um sich überhaupt voneinander zu unterscheiden, in dem man sich weder sonderlich daran störte, dass ein SPD-Mann eine Agenda aufstellte, die vor allem der CDU gefiel, noch daran, dass die sich mit einer sozialdemokratischen Kanzlerin revanchierte.

Vielleicht liegt es auch an der Bedrohung selbst, daran, dass man sie, bei aller Gewöhnung, dann eben doch nie ganz vergisst, dass niemand weiß, was die nächsten Tage, Wochen, geschweige denn Jahre bringen. Aber Unsicherheit – das mag zynisch klingen, aber es zu leugnen, hieße genauso, die menschliche Natur zu ignorieren – Unsicherheit führt eben immer auch zu einem Gefühl von Lebendigkeit, weckt die Sinne, fordert einen heraus, treibt einen an.

Der Terror vor der eigenen Haustür

Oder zumindest dachte ich das, bis die Flüchtlingskrise begann.

Seither hat sich Deutschland gravierend verändert – die einen sagen wegen der Fremden, die anderen wegen des wachsenden Fremdenhasses. Fest steht, dass die Zeit der großen Einigkeit vorbei ist. Stattdessen erleben die Deutschen zum ersten Mal seit langem einen Mangel an Sicherheit, sowohl, was die Zukunft angeht, was so grundlegende Fragen betrifft, wie die, ob das eigene Land in 10, 20, 30 Jahren noch dem ähnelt, das man kennt, ob es bunter wird oder verschlossener, und was man davon hält; als auch ganz konkret im öffentlichen Raum.

Der Terror ist vor der eigenen Haustür angekommen und mit ihm vieles, was in Israel seit langem zum Alltag gehört. Auch in Deutschland halten jetzt die ersten Katastrophenwarn-Apps Einzug, die per Eilmeldung über mögliche Anschläge informieren, wie es sie in Israel für Raketenanagriffe gibt; auch die Deutschen mussten in den vergangenen Monaten lernen, was es mit dem Sicherheitscheck auf Facebook auf sich hat oder mit jenen Beton-Blöcken am Straßenrand, die in Anlehnung an den Anschlag am französischen Nationalfeiertag vergangenes Jahr meist „Nizza-Sperren“ genannt werden und in Jerusalem bereits seit 2014 an fast jeder Haltestelle eingelassen wurden.

Ich weiß, spätestens ab hier läuft dieser Text Gefahr, ein bisschen nach Schadenfreude zu klingen, nach „jetzt seht ihr endlich mal, mit was wir es hier zu tun haben“. Full disclosure: Bei Teilen der israelischen Bevölkerung mag tatsächlich ein bisschen was davon mitschwingen, was natürlich nicht sonderlich sympathisch, aber nach Jahrzehnten des Terrors, in denen sich das Verständnis der Deutschen doch sehr in Grenzen hielt, in denen ich auf jeden, aber auch wirklich jeden Artikel, den ich je von hier aus geschrieben habe, mindestens ein, zwei Nachrichten bekommen habe, in denen mir erklärt wurde, die Israelis hätten sich das alles schon selbst zuzuschreiben, vielleicht ja auch ein bisschen verständlich ist.

Energie in Israel, Apathie in Deutschland

Aber was auch immer bei mir mal an Spott da war – davon ist jetzt nichts mehr übrig. Vielmehr sehe ich mit Sorge, dass die deutsche Gesellschaft einen Prozess durchmacht, den die Israelis seit langem kennen – nur dass sie statt besagter Jahrzehnte dafür gerade mal zwei Jahre braucht, dass sie die Entwicklungsschritte in einem so irren Tempo durchläuft, dass man sich nicht nur fragt, was denn bitte als nächstes kommen soll; statt mit Energie reagiert sie in weiten Teilen auch eher mit Ermattung, mit Rückzug, mit Apathie.

„Es ist mir ein Rätsel, wie ein Volk, das zwei Weltkriege vom Zaun gebrochen hat, so schnell ans Ende seiner Kräfte kommen kann“, sagte neulich ein israelischer Freund zu mir, der geschäftlich regelmäßig nach München muss. Seit Jahren übernachtet er immer in derselben Pension. Als er 2015 dort war, erklärte ihm die Besitzerin noch, die Einwanderung sei ein Glück für die kinderarme Bundesrepublik.

Im Herbst 2016 kam er wieder.

Die Flüchtlinge würden das Land kaputt machen, sagte dieselbe Pensionsbesitzerin. Vor kurzem habe sie beim Heimkommen eine Tasche vor der Tür stehenlassen. Nein, die Straße wurde nicht abgesperrt, die Tasche auch nicht gesprengt. „Aber du glaubst es nicht, diese Araber haben meine Einkäufe gestohlen.“

Ob es nicht sein könne, dass die einfach Hunger gehabt hätten, warf der Freund ein.

Das sei ja wohl kein Grund, meinte die Pensionsbesitzerin, es könne doch nicht jeder, wie er wolle, wo bleibe denn die Dankbarkeit, wenn es nach ihr ginge, würden die alle abgeschoben.

Was man wo wie sagen darf

Neulich war er noch einmal da. „Frag nicht“, sagte die Pensionsbesitzerin, noch ehe er etwas sagen konnte. Sie schaue schon gar keine Nachrichten mehr, sonst kriege sie die ganze Nacht kein Auge zu. Es werde ihr alles zu viel, die Welt immer schlimmer, man wisse gar nicht, wo einem der Kopf stünde. „Aber man darf ja nichts mehr sagen“, schob sie hinterher, „sonst ist man gleich Rassist.“

Letzteres höre auch ich ständig, das heißt, zumindest der erste Teil der Aussage ist immer mehr oder minder derselbe. Der zweite Teil, das „Sonst“, nimmt hingegen höchst unterschiedliche Formen an. Es gibt die Variante: Man darf ja nichts mehr sagen, sonst gilt man als AfD-ler. Als Pegida-Anhänger. Als Nazi. Aber auch: Man darf ja nichts mehr sagen, sonst gilt man als Gutmensch. Als gehirngewaschen. Als hoffnungslos naiv.

Nun verliert der Satz natürlich schon dadurch an Überzeugungskraft, dass er von so vielen aus so vielen Richtungen auf einmal geäußert wird. Dass er zu implizieren versucht, man stünde allein auf weiter Flur und müsse sich gegen eine Übermacht Andersdenkender zur Wehr setzen, es aber nun mal logisch unmöglich ist, dass ALLE gleichzeitig Teil der Minderheit sind.

Zum anderen zeigt sich in ihm aber auch ein bedenklich leichtfertiger Umgang mit dem Wort „dürfen“. Der saudische Blogger Raif Badawi veröffentliche 2011 mehrere Beiträge, in denen er islamische Autoritäten beleidigt und Muslime, Christen, Juden und Atheisten als gleichwertig bezeichnet haben soll. Er bekam dafür zehn Jahre Haft und 1000 Peitschenhiebe. Der chinesische Internet-Dissident He Weihua schrieb 2007 über Korruption in der Kommunistischen Partei Chinas. Er wurde daraufhin in eine psychiatrische Anstalt zwangseingewiesen. Fragen Sie mal den Welt-Reporter Deniz Yücel, was man in der Türkei sagen darf und was nicht.

Etwas nicht zu dürfen, bedeutet, dass Zuwiderhandlung geahndet wird. Ja, wenn Sie Politiker, Schauspieler oder sonst ein in der Öffentlichkeit stehender Mensch sind und sich dezidiert positiv oder negativ über Einwanderer äußern, besteht die Gefahr, dass ein Shit-Storm über Sie herein bricht, dass Sie Amt, Rolle, Buchvertrag oder ähnliches verlieren, im schlimmsten Fall Ihren Ruf. Ich will das nicht kleinreden; tatsächlich ist es besorgniserregend, dass viele der Demokratie so wenig zutrauen, dass sie glauben, jeder, der etwas extrem Rechtes oder Linkes oder auch einfach nur extrem Dummes von sich gibt, müsse aus der Gemeinschaft der Wohlanständigen ausgeschlossen werden. Aber für die meisten, die von angeblichen Sprech- oder Denkverboten reden, beschränken sich die Repressalien dann doch eher auf schräge Blicke, den einen oder anderen Protest, ein abgesprochenes Gespräch. Tatsächlich darf man in Deutschland so ziemlich alles sagen – nur eben nicht unwidersprochen.

Das scheint für viele aber schon mehr zu sein, als sie stemmen können. Oder wollen.

Über Politik reden? Besser nicht

In den vergangenen Wochen haben sich drei meiner Freunde von Facebook abgemeldet, mit der Begründung, die Plattform tue ihrer seelischen Gesundheit nicht mehr gut. Nun bin ich die Erste, die es versteht, wenn jemand mit seiner Zeit etwas anderes anfangen möchte, als sich das hundertste „Zehen im Sand“-Foto anzusehen. Aber den Dreien schien es gerade ums Gegenteil zu gehen. Eine schrieb wörtlich (denn um einfach zu verschwinden, ist man dem Medium dann doch zu verbunden): „Früher war Facebook etwas Positives für mich, wo man mitbekam, wenn jemand ein Kind gekriegt oder einen schönen Urlaub gemacht hat. Aber jetzt gibt es hier nur noch endlose Diskussionen. Das will ich mir nicht mehr geben.“

Natürlich mag da auch mit reinspielen, dass man sich Facebook-Freunde oft eher zufällig zuzieht und einen deren Meinung im Zweifelfall nicht sonderlich interessiert, dass die Umgangsformen gern ruppig und die Argumente nicht zwangsläufig bereichernd sind. Aber auch unter meinen analogen Freunden kommt es immer häufiger vor, dass jemand zu Beginn des Telefonats erstmal vorausschickt, dass er nicht über Politik reden wolle. Dass einer ein Familienessen schwänzt, weil er der Diskussion mit der immer fanatischer werdenden Schwester aus dem Weg gehen möchte. Dass sie sich darüber beklagen, wie sehr ihnen die aktuelle Lage zusetze, dass sie müde seien, eine Pause bräuchten.

Die wünschen sich die Israelis auch. Auch sie sind zermürbt, desillusioniert, wahrscheinlich noch viel desillusionierter als die Deutschen. Oder zumindest tun sie das mal gerne kund, denn Pessimismus gehört hier quasi zum guten Ton. Letzten Samstag war ich auf der Großkundgebung in Tel Aviv gegen die Besatzung des Westjordanlands, die diese Woche ihr trauriges 50-jähriges Jubiläum feiert. Jedes Mal, wenn einer der Redner das Wort „Hoffnung“ in den Mund nahm, stießen die Jungs neben mir ein heiseres Lachen aus, so sehr passten sie auf, auch ja nicht als Optimisten verkannt zu werden.

Leitkultur statt Streitkultur

Aber sie kamen trotzdem. Und mit ihnen rund 20.000 Demonstranten. Das mag angesichts der Tragweite des Themas wenig sein. Aber: Viele von ihnen machen das seit 50 Jahren. Diskutieren. Protestieren. Gegen alle Widerstände. Von außen. Von innen. Streiten weiter, vielleicht, weil sie sowas wie Einklang gar nicht kennen, vielleicht, weil sie einfach nicht anders können.

In Deutschland hingegen reden wir dieser Tage nicht über Streitkultur, sondern über Leitkultur, scheint es eine schier unbändige Sehnsucht zu geben, sich auf etwas Verbindendes, Verbindliches zu einigen, eine Sehnsucht nach jener Homogenität, die es einem erlaubte, seine Meinung zu äußern, ohne größeren Gegenwind fürchten zu müssen.

Ja, es gibt sie natürlich, die Engagierten, sowohl die, die lautstark eine Schließung der Grenzen fordern, als auch jene, die bei sich zu Hause Flüchtlinge aufnehmen. Aber nach der kurzen Euphorie 2015, als so mancher die Republik am Scheideweg sah und sich in die eine oder andere Richtung aufmachte, weisen viele heute einen Erschöpfungsgrad auf, als stünden sie seit Jahren unter Dauerstrom. Auch das ist völlig verständlich, zeugt sicher auch von Empathie, davon, dass einen die Situation nicht kalt lässt, man sie sich zu Herzen nimmt. Aber: Es geht gerade erst los. Ja, die Lage ist schwer. Aber es ist nicht davon auszugehen, dass sie auf absehbare Zeit leichter wird. Wem etwas an seinem Land liegt, der legt sich dafür an. Ruhiger Schlaf kann da nicht das Maß aller Dinge sein.

Einen Satz, den man in Israel oft hört, ist: Was dich nicht umbringt, macht dich stärker. Ich halte diesen Satz für falsch. Manche werden durchaus auch schwächer, halten der Belastung nicht stand, zerbrechen daran. Was ich jedoch glaube, ist, dass die Frage, ob man nun zur einen oder anderen Gruppe zählt, keine ist, die das Schicksal für einen beantwortet. Vielmehr ist es eine Entscheidung, ob man aus einer Krise Stärke zieht, oder sich unterkriegen lässt.

Oder zumindest bin ich noch so sehr Deutsche, dass ich an solchen Hoffnungen festhalte.

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