Amokläufe und Anschläge - Wir terrorisieren uns selbst

Eine Woche nach Münster ist klar: Wir machen keinen Unterschied mehr zwischen Amoklauf und Terroranschlag. Es hat sich eine Angstkultur entwickelt. So machen wir es den Terroristen leicht. Von Matthias Heitmann

Paradoxerweise drückt die Frage nach dem Warum oft kein wirkliches Erkenntnisinteresse aus sondern eher Verzweiflung / picture alliance
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Autoreninfo

Matthias Heitmann ist freier Publizist und schreibt für verschiedene Medien. Kürzlich hat er das Buch „Entcoronialisiert Euch! Befreiungsschläge aus dem mentalen Lockdown“ veröffentlicht. Seine Website findet sich unter www.zeitgeisterjagd.de.

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Es fühlt sich an, als wäre es schon Wochen her. Dabei steuerte Jens R. erst vor acht Tagen seinen VW-Bus in die Außenterrasse des Lokals Kiepenkerl in Münster und tötete so zwei Menschen, bevor er sich selbst richtete. Die Zeit rast, und mit ihr die Anlässe für Aufregung, Hysterie und Hyperventilation. Ab dem Moment, an dem klar wurde, dass es sich nicht um einen islamistisch motivierten Anschlag, sondern um die Tat eines psychisch Kranken handelte, verflog die aufsteigende Wutangst ebenso schnell, wie sie zuvor aktiv geworden war. Man konnte förmlich das Gefühl der Erleichterung spüren, auch wenn dies nur wenige offen zugaben: Schließlich spielt das Mitgefühl eine große Rolle, und die neuen Kenntnisse über den Täter hatten ja die Zahl der Opfer nicht verkleinert.

Zwischen Betroffenheit und Erleichterung

Und dennoch ist die Erleichterung verständlich. Jedem ist klar, dass ein islamistischer Terroranschlag zwar Menschen vor Ort trifft, aber die komplette Gesellschaft meint. Dass die Tat von Münster kein zielgerichteter Angriff auf die Gesellschaft war, ist also durchaus ein nachvollziehbarer Grund für Erleichterung. Anschläge und tödliche Vorfälle sind eben auf mehreren Ebenen zu betrachten: Auf der Ebene des Persönlichen und Zwischenmenschlichen ist es in der Tat irrelevant, aus welchen Motiven nahestehende Menschen umgebracht werden. Auf gesellschaftlicher Ebene sind es auch die Hintergründe, die einer solchen Tat eine höhere Relevanz verleihen – oder eben nicht. Von persönlich betroffenen Angehörigen Verständnis für abstrakt anmutende Abstufungen zu verlangen, wäre unmenschlich. Nur: Die allermeisten Menschen in Deutschland sind von der grausamen Tat in Münster nicht persönlich betroffen. Wir meinen nur, es sein zu müssen. Es erscheint als moralische Pflicht und verleiht zudem ein Gefühl des gesellschaftlichen Zusammenhalts.

Es sind vor allen Dingen Ereignisse von historischem Ausmaße, die die uns angeborenen sozialen Charakteristika aufleben lassen. Der graue Alltag verschüttet allzu oft die bewusste Wahrnehmung der uns alle letztlich miteinander verbindenden Menschlichkeit. Wir brauchen Ausreißer, um diese Verkrustungen zu durchstoßen und in Mitmenschen mehr zu sehen als Sitzplatzdiebe in der Bahn, Blindgänger auf der Straße, oder sonstige potenzielle Störfaktoren. Es sind besondere Momente wie der Fall der Mauer, der sagenhafte Auftritte der DFB-Elf, sonstige Sommermärchen oder – die Älteren werden sich erinnern – positive ESC-Auftritte. Aber auch negative Erlebnisse können eine solche Funktion erfüllen: Der 11. September genauso wie Terroranschläge in Frankreich, Großbritannien und in Deutschland, aber auch Naturkatastrophen, Flugzeugabstürze und Amokläufe sind Ereignisse, die die Menschen zusammenrücken lassen. 

Amok und Terror – ein feiner Unterschied

Dass Menschen so auf außergewöhnliche Ereignisse reagieren, ist gut und verständlich. Wer sollte auch etwas dagegen haben, wenn Menschen mehr miteinander sprechen, sich austauschen und sich mehr gegenseitig wahrnehmen? Bedauerlich ist aber, dass unsere Gesellschaft dazu tendiert, in ihren Reaktionen die emotionale Betroffenheit in den Vordergrund zu stellen und sich auf das zu konzentrieren, was so ein Ereignis mit einem selbst macht. Es interessiert nicht mehr so sehr, wie Dinge zustande kommen und warum etwas passiert; was zählt, ist das Resultat und das Gefühl. Und da das Interesse an Ursachen weiter zurückgeht, verändert sich auch das gesellschaftliche Verständnis von Ereignissen, was wiederum die Fixierung auf die konkreten und die gefühlten Folgen weiter forciert. Und hier geschieht dann das Interessante: Von dieser Seite aus betrachtet gibt es keinen Unterschied zwischen einem Terroranschlag und einem Amoklauf. Bei beiden kommen unschuldige Menschen zu Schaden oder ums Leben, beide erscheinen unerklärbar und lösen Angst und Schrecken in uns aus.

Natürlich liegt es nahe, in einer scheinbar verrückt gewordenen Welt das Kranke mit dem Bösen gemeinsam diskutieren zu wollen – vor allen Dingen dann, wenn es um Fragen der öffentlichen Sicherheit geht. Und sicherlich sind auch Debatten über systemische Ursachen von Depressionen für den Einzelnen hilfreich. Dass wir aber den Eindruck haben, dass die Grenzen zwischen Terror und Amok verschwimmen, hat mit der Wirklichkeit nur wenig zu tun. Diese Einschätzung ist lediglich dem Umstand geschuldet, dass wir schlimme Ereignisse vorrangig von der Ergebnisseite aus betrachten. Wir behandeln sie dann ähnlich und reagieren auch ähnlich hilf- und verständnislos darauf. Die bei jeder Tragödie immer wieder auftauchende Frage nach dem „Warum?“ bringt dies auf den Punkt: Paradoxerweise drückt diese Frage oft gerade kein wirkliches Erkenntnisinteresse aus, sondern eher die Verzweiflung angesichts einer immer unverständlicher erscheinenden Welt. Probieren Sie es aus und versuchen Sie, emotionaler Betroffenheit mit Erklärungen zu begegnen. Sie werden spüren, wie schnell man Ihnen misstrauisch begegnen wird. Die Fixierung auf das, was mit uns geschieht, bringt uns in eine zunehmend passive Rolle und verstärkt das Gefühl der Angst. Und der Ängstliche sucht nicht nach Erklärungen, sondern nach Schutz.

Die Eigendynamik der Angstkultur

Es hat sich eine regelrechte Angstkultur entwickelt: Viele Menschen sehen die Welt durch das Prisma der Bedrohung und des Risikos. Die Reaktion der politischen Entscheidungsträger auf dieses sehr grundsätzliche und dumpfe Gefühl ist das nicht minder grundsätzliche und dumpfe Bedienen von immer neu entdeckten Sicherheitsbedürfnissen. Ob diese Maßnahmen tatsächlich greifen, ist dabei gar nicht so entscheidend: Da das Angstgefühl nicht begründet werden muss, reicht es auch, wenn ihm eine gefühlte Sicherheit entgegengestellt werden kann. Paradoxerweise führt dies nicht zu einem Zugewinn an realer oder gefühlter Sicherheit, sondern zu einer weiteren Ausbreitung des angenommenen Sicherheitsmangels – man könnte auch sagen: Das gesellschaftliche Streben nach gefühlter Sicherheit erhöht die Anfälligkeit für Ängste. 

In dieser Gemengelage ist es für Terroristen ein leichtes, erfolgreich zu sein. Es reicht völlig aus, kleine Taten auszuführen, um einen immensen Einfluss auf die Gesellschaft zu haben. Die Sensibilität der Gesellschaft für Terror und andere als überraschend und unerklärbar geltende Gewalttaten ist mittlerweile so stark, dass geradezu alle Ereignisse in diesem Bereiche quasi automatisch dem Terror zugeschrieben werden. Die Reaktionen auf die Tat von Münster sind ein gutes Beispiel, die Reaktionen auf den Amoklauf von München von 2016 ebenso. Und natürlich tappen insbesondere Menschen schnell in diese Vorurteilsfalle, die versuchen, in der reflexartig aufsteigenden Angst ein paar Punkte zu machen. Und besonders ungeschickte wie die AfD-Politikerin Beatrix von Storch geben diese Fehltritte im Nachhinein nicht oder nur halbherzig zu, um sich dann direkt im Anschluss in noch dumpferen Erklärungsmustern zu verfangen und sich als das zu outen, was sie eigentlich sind: Nutznießer der Angstkultur.

Die hysterische Gesellschaft

Die Storchschen Mutmaßungen darüber, ob der islamistische Terrorismus nicht doch auch Nachahmer und Trittbrettfahrer mobilisiere und damit letztlich auch für Taten wie die in Münster verantwortlich sei, sind nur ein weiterer Höhepunkt der bewusstlosen und zutiefst kontraproduktiven Reaktionen auf Terror und Gewalt. Tatsächlich stellt ihre Sichtweise die Realität auf den Kopf: Es ist gerade dieses hysterische Lauern auf den nächsten terroristischen Akt, das selbst dem größten Taugenichts und gescheiterten Kleinkriminellen noch in seinem finalen Akt die Garantie ausspricht, groß herauszukommen. Alles, was man heute braucht, um in die Abendnachrichten zu kommen oder Beatrix von Storch oder womöglich sogar Donald Trump zu einem Tweet zu ermutigen, ist ein Taschenmesser und die Bereitschaft, es gegen Menschen einzusetzen. In dieser Gleichmacherei des Entsetzens liegt der Schlüssel: Wenn der Effekt auf die Gesellschaft, der mit einem Messer oder mit einem Lkw ausgelöst werden kann, mit dem zu vergleichen ist, den man mit einem entführten Flugzeug erzielen kann – warum den riskanten Aufwand betreiben? 

Die Macht, die die hypersensible Gesellschaft kranken Geistern verleiht, ist atemberaubend. Terroristen können sich heute einen ressourcenschonenden Pragmatismus leisten, denn die Terrorisierungsleistung steuert ja die angegriffene Gesellschaft selbst bei. Es sind nicht Gewalttäter, die zu Gewalttaten anstacheln, es ist unsere ohnmächtige und bewusstlose Angstkultur. Die Debatte nach Münster zeigt eindrucksvoll: Das Terrorisieren übernehmen wir selbst. Attentäter können Menschen umbringen und materiellen Schaden anrichten. Sie sind damit tatsächlich so machtvoll wie psychisch kranke Amokläufer. Einen Einfluss darauf, wie die Gesellschaft auf solche Taten reagiert, haben sie alle jedoch nicht. Bei allem aufrichtigem Mitgefühl mit den Opfern von Terror und Gewalt: Wir bringen unsere freie und zivilisierte Gesellschaft nicht voran, wenn wir weiterhin so tun, als ob uns jede Messerattacke automatisch in unseren Grundfesten erschüttert. Diese Aufmunterung sollten wir Terroristen nicht zuteilwerden lassen. 

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