Frankfurter Buchmesse - Vor der romantischen Liebe muss gewarnt werden

Mit seiner unsterblichen „Madame Bovary“ zeigt Gustave Flaubert frisch wie ehedem die Spätfolgen wahlloser Lektüre

Erschienen in Ausgabe
Sind Frauen besonders anfällig für die Idee der romantischen Liebe? / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

So erreichen Sie Cora Stephan:

Anzeige

Was für ein Buch! Auch jetzt, nach der dritten Lektüre, reißt mich Flauberts „Madame Bovary“ hin und mit. Die detailbesessene Schilderung eines Lebens in der französischen Provinz Mitte des 19. Jahrhunderts hat nichts von ihrer Faszination verloren. Die Tragödie, in die sich eine Frau mit Einbildungskraft hineinträumt, bleibt spannend, obwohl man das Ende kennt. Manches Buch verliert im Lauf der Jahre seine Farben, dieses hier nicht.

Warum? Wegen des kalten Stahles, mit dem Flaubert das französische Kleinbürgertum seziert? Nein – oder ja, ein wenig. Flaubert moralisiert nicht und er verurteilt nicht. Seine Charaktere sind keine Karikaturen, nicht der unbeholfene Landarzt Charles Bovary, der seiner untreuen Ehefrau über den Tod hinaus ergeben bleibt. Nicht Homais, der Apotheker, ein von seiner eigenen Bedeutung betörter antiklerikaler Dorfintellektueller, der eigentliche Sieger der Geschichte. Und noch nicht einmal Rodolphe, einer der Liebhaber der Madame Bovary, ein kleiner Landadliger, der weiß, auf welche Worte Frauen fliegen. Alles normale Menschen, nicht bösartiger oder beschränkter als andere und ohne übersteigerte Vorstellungen vom Glück.

Die Erfindung der romantischen Liebe

Die hat Emma Bovary, was kein gelungenes Gegenprogramm bedeutet. Madame genügt das normale Leben nicht, sie träumt von Größerem. Nicht, wie Homais, von so etwas Irdischem wie dem Kreuz der Ehrenlegion, sondern von dem, was ihr die Literatur verheißen hat, angefangen mit schwülstigen religiösen Traktaten und galanten Geschichten über Herren, tapfer wie Löwen und sanft wie Lämmer, bis hin zu allem, was die Bibliothek hergibt. Emma liest Bücher, nein: verschlingt sie. Sie liest wahllos. Und vor allem glaubt sie an das, was sie liest. Sie gibt sich dem „Blendwerk der Welt der Empfindungen“ hin. Das ist, schien mir vor Jahrzehnten und scheint mir noch immer, das eigentliche Thema des Buches: wie die Erfindung der romantischen Liebe unempfänglich dem Leben gegenüber macht, ja, wie die schwelgerischen Worte der Leidenschaft das Glücksempfinden zerstören.

Mag sein, dass Emma am Spießertum ihrer Umgebung leidet. Aber sie verkörpert keinen Triumph der Fantasie, des Unkonventionellen, der Freiheit über die Enge der Provinz mit ihren eingespielten Riten. Sie begibt sich auf die trostlos unfreie Jagd nach dem Unerreichbaren. „Und die heißesten Küsse hinterließen auf den Lippen nur die unerfüllbare Begierde nach einer tieferen Wollust.“ Wie eine Süchtige versäumt sie über dem überbordenden Verlangen das Glück des Alltags.

Worte sind mächtig

So elend langweilig aber ist das Leben der Normalos nicht. Gefährlich sind die Versprechungen der Literatur – und das führt ausgerechnet einer vor, der sich auf Worte so gut versteht wie Flaubert. Einer seiner zeitgenössischen Kritiker hat ihm vorgeworfen, dass er seine Figuren ebenso wenig liebe wie Emma Bovary ihr Kind. Doch das ist, im Gegenteil, seine Stärke: Liebe macht blind, vor allem, wenn es sich um die romantische Liebe handelt, der oft gerade Frauen verfallen. Denn es müsse doch mehr im Spiel sein als Sexualität und Körperchemie, glauben sie, weil sie davon gelesen haben. Flaubert aber sieht hin – bis in die letzten Todeszuckungen der elend an Arsen gestorbenen Liebessüchtigen.

Worte sind mächtig, im Guten wie im weniger Guten. Sie umhüllen den unraffinierten körperlichen Akt mit Samt und Seide, überhöhen ihn mit religiöser Ekstase, und ist es vorbei mit dem Rausch, vergisst manch eine, was das größere Geschenk wäre: eine geglückte, manchmal sogar lebenslange Beziehung. Das wäre die Moral der Geschichte, wenn sie eine hätte: Man verachte das Glück des Spießers nicht. 

Gustave Flaubert: „Madame Bovary“. Neu aus dem Französischen übersetzt von Elisabeth Edl. dtv, München 2014. 768 Seiten, 16,90 €

Dieser Text ist in der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können. 

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

Anzeige