Mittelalterforschung - „Heinrich Himmler sah sich als Nachfahre einer Hexe“

Der Historiker Günter Dippold spricht über die populärsten Mythen rund um die Hexenverfolgung in Mittelalter. Viele Irrtümer gehen auf einen Befehl von Heinrich Himmler zurück, Bibliotheken und Archive zu durchforsten. Der SS-Chef war offenbar besessen vom Thema Hexen

Ein Relief der letzten Hexenverbrennung im Rheinland / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Constantin Magnis war bis 2017 Chefreporter bei Cicero.

So erreichen Sie Constantin Magnis:

Anzeige

Es gibt eigentlich kaum ein historisches Ereignis, das derart mit Klischees und Mythen beladen ist wie das Thema Hexenverfolgung. Stimmen Sie dem zu?
Ja, unbedingt. Es ist tatsächlich beeindruckend, wie viele Irrtümer, Halbwahrheiten oder schlicht Unwahrheiten sich, beginnend im 19. Jahrhundert, aber bis heute anhaltend, um das Thema herumgesponnen haben.

Die landläufige Annahme über die Hexenverfolgung lautet: Im Mittelalter hat die katholische Inquisition millionenfachen Genozid an Frauen verübt. Können wir das mal mit den historischen Fakten abgleichen?
Zuerst einmal sind die Millionen, mit denen bis heute in vielen Publikationen hantiert wird, jenseits jeglicher Realität. Man schätzt, dass in der Hochphase der Hexenprozesse, also vom späten 16. bis ins späte 17. Jahrhundert, europaweit etwa 50.000 Menschen ums Leben gekommen sind.

Prof. Dr. Günter Dippold. Foto: Juri Gottschall/Uni Bamberg

Wie lässt sich diese zahlenmäßige Übertreibung erklären?
Man hat Zahlen aus regionalen Brennpunkten der Hexenverfolgung unzulässig hochgerechnet. Natürlich gab es Gegenden, wie die Grafschaft Vaduz, wo man Opferzahlen von bis zu zehn Prozent der Wohnbevölkerung schätzt, an Orten wie dem Hochstift Bamberg war es noch etwa ein Prozent. Aber anderswo ging es eben nie über Einzelfälle hinaus. Die Übertreibung stammt zum Teil aus dem Kulturkampf des 19. Jahrhunderts. Vor allem aber hat die Propaganda der Nazis eine Rolle gespielt.

Welches Interesse hatten die Nazis an der Übertreibung der Hexenverfolgung?
Dahinter steckte vor allem Heinrich Himmler. Offenbar sah er sich selbst als Nachfahre einer Hexe, vor allem aber wollte er damit Propagandamaterial gegen die Kirche gewinnen. Auf seinen Befehl hin unternahm die SS die bis dahin intensivste Forschung, die je zum Thema Hexenverfolgung betrieben wurde. Es gab ein „Sonderkommando Hexen“, das eine Kartei angelegt hat, für die so ziemlich alle deutschen Bibliotheken und Archive durchforstet wurden. Die Ergebnisse liegen bis heute im polnischen Posen. Übrigens sah Himmler, irre wie er war, hinter der Hexenverfolgung auch die jüdische Weltverschwörung.

Himmler verklärte das Hexenwesen außerdem zum Träger eines nordischen Urmatriarchats.
Richtig, das ist ein weiteres Motiv der NS-Forschung, hier alte, vorchristliche Religionen ausgraben zu wollen. Das geht auf Vorstellungen aus der Ära der Gebrüder Grimm zurück, die ja auch hinter dem alten Erzählgut Quellen für vorchristliche Epochen gesehen haben.

Gerade im Feminismus wird die Hexenverfolgung oft als Geschlechterkampf interpretiert, die feministische Theologin und Philosophin Mary Daly etwa erklärte, Frauen hätten unter den Hexenprozessen mehr gelitten als alle Opfer von Rassismus und Völkermord. Ist diese Lesart richtig?
Es stimmt, dass Frauen weit überproportional unter den Opfern sind, auch aus der damaligen Überzeugung heraus, Frauen seien für dämonische Versuchungen empfänglicher als Männer. Was entgegen der populären Überzeugung keine große Rolle gespielt hat, war die besondere Verfolgung weiser, heilkundiger Frauen. Es kam zwar vor, dass eine Frau magische Praktiken ausübte und dadurch in die Mühlen der Justiz geriet. Das waren aber letztlich Einzelfälle. Am Ende hat die Justiz vor keinem Geschlecht, keiner Alters- oder Berufsgruppe halt gemacht.

Wie muss man sich denn „magische Praktiken“ aus dieser Zeit vorstellen? Gab es tatsächlich so etwas wie Hexenzirkel, wie sie heute in Neo-Paganistischen Milieus oder als Ableger des Wicca-Kultes existieren?
Es gibt aus der Frühneuzeit tatsächlich Belege dafür, dass Frauen und auch Männer in magische Praktiken involviert waren. Meistens handelte es sich dabei um ganz schlichte Vorgänge: Kinder reißen aus einem Acker irgendwelche Pflanzen aus. Die Betroffene hängt die Pflanzen in den Rauch, in der Erwartung, dass dann die Kinder zur Strafe ausdörren. Oder eine Kuh stirbt unversehens, und die betroffene Bäuerin trägt Lunge und Leber zu einem weisen Mann, der sie unter Beschwörungen verbrennt, und in der Folge soll der Verursacher dieses Kuhtodes ebenfalls sterben. Und es existierten auch überlieferte Zauberbücher, die heimlich weitergereicht wurden, zum Teil mit abgewandelten Formen der christlichen Liturgie. Aber die Existenz von Netzwerken oder Sekten im Sinne einer gemeinsamen Ausübung paganistischer Praktiken können wir bisher aus dieser Zeit nicht nachweisen.

Interessanterweise gab es in katholischen Ländern wie Italien oder Spanien kaum Hexenverfolgung. Die spanische Inquisition bekämpfte die Hexenprozesse und hat sie schließlich ganz verboten. Welche Rolle spielte die katholische Kirche bei der Hexenverfolgung in Deutschland?
Es gibt sehr wohl den Typus des geistigen Brandstifters, auf katholischer Seite etwa den Bamberger Weihbischof Friedrich Förner oder den Generalsuperintendent des Coburger Herzogs auf evangelischer Seite, die ihre Fürsten gedrängt haben, gegen die Hexen vorzugehen. Aber richtig ist auch, dass die römische Amtskirche sehr skeptisch gegenüber der Hexenverfolgung war und sie eher abgelehnt hat. Dabei ist die prinzipielle Überzeugung, dass es Menschen gibt, die mit dem Teufel im Bund stehen, damals kaum bestritten worden. Aber über die Frage, wie dem Problem beizukommen sei und ob man deshalb massenhaft Prozesse führen sollte, wurde intensiv gerungen. In Deutschland gab es dieses Ringen in katholischen wie evangelischen Fürstentümern. In Mitteldeutschland, etwa der Grafschaft Henneberg, in Eisenach oder Mecklenburg gab es zum Beispiel sehr viele Hexereiprozesse. Umgekehrt gab es in den großen katholischen Fürstentümern wie Bayern oder Habsburg eher wenige Fälle. Das alles war also keineswegs nur ein katholisches Phänomen.

Martin Luther soll ein ausgesprochener Befürworter der Hexenverfolgung gewesen sein. „Die Zauberinnen schaden mannigfaltig. Also sollen sie getötet werden“, wird er zitiert.
Da muss man vorsichtig sein. Luther war zwar ein Befürworter der Hexenprozesse. Allerdings in einer Zeit, in der das ein Randphänomen war. Die Reichstadt Nürnberg, damals das lutherische Kommunikationszentrum in Süddeutschland, bezeichnet die ganze Vorstellung von Hexen schon in den 1530er Jahren als „ein lauter Wahn“.

Die Prozesse wurden in den allermeisten Fällen von weltlichen, nicht kirchlichen Gerichten geführt. Wenn es nicht Religion und Aberglaube alleine waren, was waren dann die entscheidenden Antriebskräfte für die Hexenverfolgung?
Einzelne Scharfmacher spielten dabei immer eine Rolle, allen voran der Dominikaner Heinrich Institoris, der 1486 mit dem „Hexenhammer“ das Grundlagenwerk zur Hexenverfolgung verfasst hat. Dann kamen die Krisen des 16. Jahrhunderts dazu: Ständiger Krieg, Glaubensspaltung, Klimaverschlechterung. Es gab Jahre ohne Sommer, Missernten häuften sich, die Bevölkerung wuchs explosionsartig, es kam zu Versorgungsengpässen und Hungersnöten. Weil man immer schon glaubte, dass Hexen das Wetter machten, gab man ihnen die Schuld. Es reichten dann einige wenige Scharfmacher in den Fürstentümern, um die Lawine ins Rollen zu bringen.

Es ist bezeichnend, wer den Prozessen alles zum Opfer fiel: Kleinkinder und Greise wurden verbrannt, Aristokraten genauso wie Bettler hingerichtet. Eine Selbstzerfleischung der Gesellschaft, der jeder zum Opfer fallen konnte.
Ja, niemand war sicher. Nicht einmal die Priester, von denen alleine in Würzburg fast 50 hingerichtet wurden. Soviel zur landläufigen Vorstellung von der katholischen Kirche als Urheber der Hexenverfolgung.

Man stellt sich vor, dass der Buchdruck damals die Verbreitung von Gerüchten ungemein vereinfacht hat, und ähnlich brandbeschleunigend gewirkt hat, wie heute die sozialen Netzwerke.
Bei der Glaubensspaltung spielte der Buchdruck tatsächlich eine zentrale Rolle. Der Erfolg der Reformation wäre ohne Buchdruck nicht denkbar gewesen. Aber im Fall der Hexenverfolgung war es kein besonders wichtiger Faktor. Es gab vereinzelt Flugblätter, aber die gab es zu hundert anderen Themen auch.

Gibt es Ihrer Erfahrung nach Grundvoraussetzungen, die erfüllt werden müssen, damit Menschen, Gesellschaften und Ortsgemeinschaften beginnen, sich gegenseitig umzubringen?
Gefährlich wird es immer dort, wo Ideologie über Menschlichkeit gestellt wird. Wenn man im anderen nicht mehr einen individuellen Mitmenschen sieht, sondern ein Mitglied einer Gemeinschaft, die als schädigend oder gefährlich wahrgenommen wird, und deshalb beseitigt werden soll.

Bei uns scheint die Angst vor Terror und Überfremdung täglich zu wachsen. Aus der Sicht eines Historikers: Wäre eine derartige Barbarei heute bei uns noch einmal denkbar? Und wie wappnet man sich als Gesellschaft dagegen?
Ich werde oft gefragt: „Wie konnten die damals nur?“ Ich bin mir noch nicht sicher, was man in 200 Jahren mal über unsere Zeit sagen wird. Natürlich wächst das Risiko für so etwas in Zeiten von Zukunftsangst und großer gesellschaftlicher Verunsicherung. Damals waren die Opfer fiktive Schuldige, also Menschen, die angeblich mit dem Teufel im Bunde stehen. Heute haben wir, wenn man das Stichwort Islam aufruft, ganz leicht Klischeebildungen, die zu Feindschaften führen können. Eine Tatsache, die gestern noch ganz normal war, nämlich dass der Nachbar Muslim ist, kann dann morgen schon zur Gefährdung werden. Wir müssen die Hochnäsigkeit gegenüber der eigenen Geschichte immer wieder in Frage stellen. Und wir sollten lernen, sowohl der Mehrheitsmeinung als auch den eigenen Ängsten zu misstrauen.

Vielen Dank für das Gespräch!

Günter Dippold ist Historiker und Honorarprofessor für Volkskunde und Europäische Ethnologie an der Universität Bamberg.

Anzeige