Fake News - Diagnose: Wahrheitsschwund

Fake News haben Konjunktur. In dem Maße, in dem das Vertrauen in die Medien schwindet, gewinnen Verschwörungstheoretiker und rechte Parteien Zulauf. Ein gefährlicher Trend, sagt der Philosoph Jan Skudlarek. Wie kann man ihn stoppen?

Gefühlte Wahrheiten sind keine Wahrheiten, auch wenn man sich häuslich in ihnen einrichten kann / picture alliance
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Jan Skudlarek (*1986), ist promovierter Philosoph und Sachbuchautor. Zuletzt erschien "Wahrheit und Verschwörung: Wie wir erkennen, was echt und wirklich ist" bei Reclam. Twittert. Foto: Manuel Schamberger

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Es ist das Jahr 2089. Ein Nuklearkrieg hat die Menschheit tragischerweise vernichtet. Alles ist in Schutt und Asche gelegt. Alles? Fast alles. Wie durch ein Wunder hat ein Nudelsieb (Edelstahl, Made in Germany) die Apokalypse halbwegs intakt überlebt. Einsam und verlassen liegt es in den Ruinen der ehemaligen Hauptstadt. Keine Menschenseele weit und breit. Es ist kalt. Staubig. Niemand macht mehr Nudeln. Die Preisfrage dieses philosophischen Gedankenexperiments: Ist das, was da in den Ruinen liegt, überhaupt noch ein Nudelsieb?

Aus unserer Perspektive: klar. Ein Nudelsieb ist ein Nudelsieb. Immer. Das Problem an der Sache: Uns hat niemand gefragt. Wie auch? Wir sind nach dem Weltuntergang ja gar nicht mehr da. Das ist eine Tatsache. Eine Tatsache ist allerdings auch: Objektiv betrachtet ist ein Nudelsieb nur ein Stück Metall mit Löchern. Oder verbirgt sich die Wahrheit etwa unter der Oberfläche? Gibt es eine Wahrheit jenseits der Beschreibung? Wann ist etwas tatsächlich genau so, wie es scheint? Gar nicht so einfach zu beantworten.

Vertrauen ist ein knapper Rohstoff

Anscheinend. Wir sehen: Die Frage nach Wahrheit und Unwahrheit betrifft selbst ein Stück löchriges Metall, Apokalypse hin oder her. Das Nudelsieb-Gedankenexperiment stellt uns vor ganz grundlegende philosophische Fragen: – Was ist Wahrheit? – Wie beschreiben wir die Wirklichkeit? – Hängt Sinn immer von der Perspektive ab? Fest steht: Schon heute steht anscheinend nichts mehr fest. Wir brauchen gar keine Apokalypse, um in Schwierigkeiten bei der Deutung der Welt zu geraten. Die Wahrheit steht Anfang des 21. Jahrhunderts wieder einmal unter Beschuss. Oder scheint es nur so? Die Meinungen gehen auseinander. Nicht primär die Meinungen über Nudelsiebe, aber über so ziemlich alles andere.

Klimawandel, Migration, Visionen von Gegenwart und Zukunft. Was den einen als Fakt gilt, gilt den anderen als Verschwörungstheorie. Millionen Menschen fühlen sich von „den Medien“ belogen, Millionen andere vom US-Präsidenten (oder der Bundeskanzlerin). Überall nur Lug und Trug und Unwahrheit. Vertrauen ist im 21. Jahrhundert ein knapper, wertvoller und entsprechend begehrter Rohstoff geworden. Sie, lieber Leser, denken sich wahrscheinlich: „Wahrheit? Nudelsiebe? Was hat das alles mit mir zu tun? Sollen die doch machen, was sie wollen. Sollen die Leute doch für wahr befinden, was sie wollen. Sollen sie lügen, dass sich die Balken biegen. Alternative Fakten sind doch auch irgendwie Fakten. Gefühlte Wahrheiten auch irgendwie Wahrheiten. Nicht wahr?“ 

Strudel aus Zweifeln, Un- und Halbwahrheiten

Nein! Ich widerspreche! Stattdessen vertrete ich eine steile These. Mehrere sogar. Sie lauten: Wahrheit gibt es. Echtheit auch. Es gibt bessere und schlechtere Beschreibungen der Wirklichkeit. Und Verschwörungstheorien sind unwahr, sind gemeingefährlicher Quatsch – Quatsch, den wir ein Stück weit zu glauben veranlagt sind, aber das macht die Sache nicht besser. Im Gegenteil! Ich sage: Die Wirklichkeit bleibt nach wie vor erkennbar. Ich sage: Die Welt bleibt beschreibbar. Ich sage: Angemessen zu zweifeln kann man lernen. Wer das Gegenteil behauptet, lügt.

Wenn jede Zeit ihre Diagnose hat, lautet die unsere wohl: Wahrheitsschwund. Die Gewissheiten vergangener Jahrhunderte lösen sich mit beeindruckender Geschwindigkeit auf – in einem antifaktischen Strudel aus Zweifeln, Un- und Halbwahrheiten. Das Vertrauen in Wissenschaft, Presse, Fakten und Experten ist heute überraschend fragil und vor allem überraschend schnell fragil geworden. Mit beängstigendem Tempo verlassen uns disziplinenübergreifend die Sicherheiten. Zumindest gefühlt. Beispiele? Gerne.

Bevölkerungstausch durch Migration? 

Beim Bau des Wiener Krankenhauses Nord kam es 2018 zu einem Eklat. Für fast 100 000 Euro war ein „Bewusstseinsforscher“ engagiert worden, um das Gelände „energetisch zu reinigen“. Der Esoteriker – ein ehemaliger Autohändler – habe einen Schutzring um die Gebäude gelegt, „der verhindert, dass negative Energien des Umfelds Einfluss auf das Haus und die Menschen darin nehmen“. So ein Quatsch? Sicherlich. Aber kein Einzelfallquatsch. In Deutschland wiederum wachsen laut Verfassungsschutzbericht der Einfluss und die Zahl der sogenannten Reichsbürger. Das sind Menschen, die die Bundesrepublik Deutschland
anzweifeln (!), die Zahlung von Steuern verweigern, auf ihren Privatgrundstücken eigene Staatsgebiete ausrufen (!!) und sich nicht selten mit mehr oder weniger rechtsextremer Gesinnung bis an die Zähne bewaffnen (!!!). Ihre Zahl geht in die Zehntausende.

In die Millionen gehen die Wähler der sogenannten „Alternative für Deutschland“(AfD). Die vermeintlich gesteuerte Presselandschaft („Lügenpresse“), ein angeblicher Bevölkerungsaustausch durch Migration („Umvolkung“), die militante Leugnung des Klimawandels – die rechtsnationale Partei und ihre Diagnose bieten seit Jahren einer beeindruckenden Bandbreite von Verschwörungstheorien ein demokratisches Zuhause. Unsinn, für den man vor wenigen Jahren noch ausgelacht oder aus einer Partei geworfen wurde (oder man hat es wenigstens versucht, siehe Panikmacher Sarrazin), wird heute erschreckend selbstbewusst vertreten.

Antifaktischer Wind im Weißen Haus

Der Publikumsliebling und Hobby-Verfassungsrechtler Xaiver Naidoo reimt „Volksvertreter“ auf „Volksverräter“. Der Schutzpatron der aggressiven Unwahrheit heißt natürlich: Donald Trump. Kaum ein anderer Politiker in der Geschichte hat jemals so viel dafür getan, Unsagbares und Unsägliches sagbar zu machen. Ob auf Twitter oder im Interview: Wahr ist für Trump stets nur das, was Trump persönlich für wahr erklärt. Alles andere ist, aus seiner Sicht, Lüge und Verschwörung. Wer ihm widerspricht, wird zum Verräter deklariert.

Die Medien? „Der wahre Feind des Volkes“, so Trump. Wirklich kein einziger Monat des Jahres 2018 verging ohne Fake-News-Tweets des Präsidenten (in 500 Tagen an der Regierung soll er mehr als 3000 Mal die Unwahrheit gesagt haben). Ein antifaktischer Wind weht durchs Weiße Haus. Nicht nur die Liebe zum Antifaktischen ist ansteckend. In Deutschland sind zwischen 2007 und 2017 etwa 190 000 Menschen an Krankheiten gestorben, gegen die man hätte impfen können. Geradezu virulent ist die Zahl der selbsternannten Impfgegner.

Das Internet, eine Echokammer der Konspiration

Viele von ihnen: Knallharte Anhänger von Verschwörungstheorien. Sie machen Experten zu korrupten Scharlatanen und die Wirksamkeit medizinischer Stoffe zur Glaubensfrage. Zwischen 2016 und 2017 verdreifachten sich die Masernfälle in der EU. Im Januar 2019 erklärte die WHO Impfgegner zur globalen Bedrohung. Das Internet? Eine Echokammer der Konspiration. Auf YouTube raten medizinische Laien bei gefährlichen Krebsarten zur Rohkostdiät statt zu Chemotherapie. Kondensstreifen werden zu Giftangriffen („Chemtrails“) umgedeutet.

War vor wenigen Jahren noch der 11. September unangefochtenes Steckenpferd sämtlicher Verschwörungstheoretiker, findet sich nun zu jedem noch so kleinen Zwischenfall ein Video oder ein Blogeintrag, der sich die „offizielle Story“ vornimmt. Sogar das jahrhundertealte Konzept einer kreisrunden Erde: Für die sogenannten flat earther hat die Erde noch Pfannkuchenform. Wer das Gegenteil behauptet: Teil der Verschwörung (doch bevor Sie jubeln, weil Sie mich beim Fake-News-Verbreiten erwischen: Ich gebe es zu; unser Planet ist keineswegs kreisrund; er ist oval, kartoffelförmig).

Das Geschäft mit der Angst

Für viele scheint aber mittlerweile nichts so, wie es scheint. Eine Aura der Fälschung umgibt die Gegenwart. Selbst die Geschichte ist nicht sicher. Literatur zur Holocaustleugnung? Bekommt man auf Amazon. Ein Verlag, dessen Namen man leicht mit dem eines Fußballtrainers verwechseln könnte, verdient Millionen mit dubioser Literatur über die angeblichen Machenschaften der Mächtigen. In ihrer Gedankenwelt ist Angela Merkel entweder eine Marionette, das Mastermind hinter der „Umvolkung“ oder die Galionsfigur des „Merkelregimes“ – oder gleich alles zusammen.

So oder so: Das Geschäft mit der Angst läuft gut. Mehr noch: Es läuft blendend. In den Vereinigten Staaten ist Alex Jones wiederum eine der einflussreichsten Internetpersonen. Vor ein paar Jahrhunderten wäre er als verrückter Wanderprediger durch die Gegend gezogen. Heute bespielt der cholerische Lügenbaron mit seiner Mischung aus Verschwörungstheorien und Hetzkampagnen die halbe US-amerikanische Mittelschicht. Beeinflusst Wahlen. Diejenigen, die an seinen Lippen hängen, kriegen wahlweise Konstrukte serviert, wonach die ehemalige demokratische Präsidentschaftskandidatin Hillary Clinton zum Beispiel einen Kinderpornoring aus einer Pizzeria heraus betreibt („Pizzagate“), Satanisten die USA bedrohen, die Regierung das Wetter kontrolliert, diverse Terroranschläge mitverantwortet oder Amokläufe an Schulen inszeniert (mit Unterstützung einer komplizenhaften Presse); Letzteres nur, um in der Öffentlichkeit Stimmung gegen harmlose Waffenbesitzer zu machen.

Der Kampf um Wahrheit ist ein Kampf um Worte

Und solche Kopfgeburten sind keineswegs Randerscheinungen, sondern seit Jahren tief verwurzelt im Mainstream. Donald Trump besuchte die Sendung des Königs aller Verschwörungstheoretiker Jones während des Wahlkampfes 2016 und meinte brüderlich: „Dein Ruf ist fabelhaft. Ich werde dich nicht enttäuschen.“ Und so kam es. Alex Jones wurde nicht enttäuscht, sondern zum wichtigsten Megafon rechtskonspirativer Ideen in Trumps Amerika. Wir stellen fest: Immer weniger Menschen sind willens, geschweige denn fähig, zwischen Fakten und „alternativen Fakten“ zu unterscheiden, wobei Letztere oft nicht mehr sind als eine dreiste Form der Täuschung.

Wie man es auch dreht und wendet: Die Wahrheit steht unter Beschuss. Wir sehen Verschwörungstheorien an allen Ecken und Enden. Lächerliche und 15 weniger lächerliche Unwahrheiten werden salonfähig gemacht von denen, die von diesen profitieren. Manche Unwahrheiten, Dümmlichkeiten und Manipulationsversuche haben eine irgendwie faktische Grundlage (wie unser Nudelsiebproblem, das sich ja auf ein tatsächlich vorhandenes Stück Metall bezieht). Andere sind geradewegs hirnrissig. Allen gemein ist der Kampf um die passende Beschreibung der Wirklichkeit. Deshalb ist der Kampf um Wahrheit auch ein Kampf um Worte. Weil Worte etwas bedeuten und selbst hinter ähnlichen Begriffen niemals identische Konzepte stehen. 

Dieser Text ist ein Auszug aus dem Buch von Jan Skudlarek, Wahrheit und Verschwörung, Wie wir erkennen, was echt und wirklich, Reclam, 208 Seiten, 18 Euro. 

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