Europa - Die trügerische Ruhe

In Paris, in London, in Berlin und Madrid – überall in Europa machen sich Verdruss, Verdacht und Misstrauen breit: eine labile und schwüle Stimmung, konstatiert der Dichter Hans Magnus Enzensberger. Die erinnert ihn an den doch eigentlich so fern geglaubten Ersten Weltkrieg

Grabstätte der Schlacht von Verdun: Wie weit sind wir von 1914 entfernt? / picture alliance
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„Drehend und drehend in immer weiteren Kreisen, hört der Falke seinen Falkner nicht; Alles zerfällt, die Mitte hält nicht mehr; Und losgelassen nackte Anarchie, und losgelassen blutgetrübte Flut, und überall ertränkt das strenge Spiel der Unschuld; Die Besten haben keine Überzeugung mehr, die Schlimmsten sind von Kraft der Leidenschaft erfüllt.“ Der irische Dichter und Nobelspreisträger William Butler Yeats schrieb diese Zeilen 1919. Der erste Weltkrieg war gerade zu Ende gegangen, Yeats selbst hatte hautnah erlebt wie der irische Bürgerkrieg 1916 blutig niedergeschlagen wurde und sah nun aus der Ferne zu, wie die Bolschewiken das Zarenreich Russland auseinanderrissen. All das weckte in ihm ein beunruhigendes Gefühl von unumkehrbarer Veränderung.

Dieses Gefühl hat wohl auch einen anderen Dichter beschlichen, einen der bedeutendsten, den wir in Deutschland haben. Hans Magnus Enzensberger hat dieses Gefühl für die Neue Zürcher Zeitung in Worte gefasst. Im Vergleich zu den Religions- und Bürgerkriegen auf anderen Kontinenten sei „Europa zwar immer noch eine Insel der Seligen“, schreibt Enzensberger. Man könne hier gewöhnlich die Straße überqueren, ohne dass geschossen wird. „Aber die Ruhe ist trügerisch, und keine Regierung kann den Europäern versprechen, dass sie sicher vor organisierten, freiwilligen und spontanen Terroristen sind“. Und Enzensberger stellt die Frage: Wie weit von 1914, dem Anfang von so viel Zerrüttung und Zerstörung, sind wir tatsächlich noch entfernt?

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