ESC in Tel Aviv - Kein bisschen Frieden

Ein Fest fürs Auge, Folter für die Ohren. Der 64. Eurovision Song Contest (ESC) in Tel Aviv löste nicht die hohen Erwartungen ein, die er geweckt hatte. Dabei begegnete einem dort ein völlig anderes Europa als das, was man aus der Politik kennt. Ein Fernsehabend mit einem syrischen Gast

Niederlage mit Ansage: Das deutsche Duo „Sisters“ wurde nur vor-vor-letzter in Tel Aviv / picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Die Weltmeisterschaft der Windmaschinen, auch bekannt als European Vision Song Contest (ESC) läuft schon seit über einer Stunde, da sagt der Freund aus Syrien einen Satz, der die ganze Absurdität dieses Spektakels entlarvt. „Ich dachte, das wäre ein Internationaler Gesangswettbewerb. Aber warum singen die Teilnehmer dann nicht in ihrer Landessprache? Machen die extra so komische Sachen?“  

Er starrt entgeistert auf eine Primadonna im weißen Ballkleid. Sie trägt einen Strahlenkranz auf dem Kopf und federt auf einer schwingenden Stange befestigt scheinbar schwerelos über die Bühne, während sie eine Opernarie trällert: „Zero Gravity.“ Nein, er hat das nicht geträumt. Das ist Australien.

Das Tel Aviv Convention Center. Schauplatz des 64. ESC. Viel Bling-Bling, ein Fest fürs Auge, eine Folter für die Ohren. 200 Millionen Menschen sitzen vor dem Fernseher, es ist der größte Gesangswettbewerb der Welt. Und vielleicht muss man es zur Abwechslung mal mit den Augen eines Fremden sehen. Dann entdeckt man Dinge, die einem schon gar nicht mehr auffallen, wenn man mit diesem Spektakel groß geworden ist, mit Käse-Igel und Nicole, mit „Bommi mit Pflaume“ und mit Abba, mit „Wadde hadde dudde da“ und „Ein bisschen Frieden“.    

Die zwei Europas

Das Europa, das Firas, dem Freund aus Syrien, hier begegnet, ist ein ganz anderes als das Europa, das er bisher nur aus den Medien kennt. Bilder von Rettungsbooten, die tagelang im Mittelmeer treiben, weil sich keine Regierung mehr für die Rettung Geflüchteter zuständig fühlt. Berichte über EU-Außengrenzen, die geschlossen werden sollen. Über Politiker, die sich darüber streiten, wer rein darf und wer nicht. Und dann der Brexit. Bilder von kilometerlangen Lkw-Staus im Kanaltunnel zwischen Frankreich und Großbritannien als Warnung vor dem Worst Case.

Es gibt zwei Europas, und es ist schwer zu sagen, welches Firas mehr befremdet – die Welt der Politik oder der grenzenlose Multi-Kulti-Zirkus in Tel Aviv. Israel ist ein rotes Tuch für ihn. Er war noch nie dort. Aber er hat in der Schule gelernt, dass das Land Araber wie Menschen zweiter Klasse behandelt und dass man es deswegen hassen muss. Er fragt: „Seit wann gehört Israel zu Europa?“ 26 Welten treffen im Convention Center aufeinander, die Teilnehmerliste reicht von A wie Aserbaidschan bis Z wie Zypern. Doch merkwürdig, findet Firas. „Wieso klingen die Lieder alle gleich?“ Das ist zwar übertrieben, die Opern-Arie der australischen Eiskönigin hat mehr Format als der spanische Beitrag, so eine Ballermann-Nummer zu buntem Dorf-Disko-Geflacker, die von dem deutschen Kommentator Peter Urban mit den Worten kommentiert wird: „Die hyperaktive House-Party im Ikea-Regal.“  

Aber tatsächlich folgen viele Lieder demselben Muster. Es geht leise los, dann wird es immer lauter. Es herrscht Dynamikzwang. Das ist in der Musik nicht anders als in der Politik. Aber Pop kennt keine Nationalitäten. Das macht die Songs austauschbar. Alle wollen wie Rihanna klingen oder wie Katy Perry. Gut kopiert ist halb gewonnen. Schnell noch ein junges Gesicht gecastet, fertig ist das Ein-Hit-Wunder – oder der Flop. Es entbehrt nicht der Ironie, dass der deutsche ESC-Beitrag „Sister“ eigentlich für die Schweiz bestimmt war. Eine Pop-Nummer, der die Seele fehlte, geschrieben von Produzenten, die nur der internationale Markt interessiert. Aber offenbar fand sich in der Schweiz niemand, der bereit war, sich mit diesem Song zu blamieren. Nur Deutschland griff beherzt zu. Das Ergebnis ist bekannt. Ein trauriger vor-vor-letzter Platz.

Piep, piep, piep – der ESC hat alle lieb

Firas beißt ungerührt in ein Stück vom Käse-Igel. „Voll peinlich“ findet er den Beitrag. Wie hieß die Gruppe nochmal? Ach ja, Sisters.  Immerhin treffen Carlotta und Laurita, die beiden Sängerinnen der eilig für den ESC zusammengecasteten Gruppe den Ton. Was man von Superstar Madonna nicht behaupten konnte. Ihr Versuch, den ESC mit seinen 200 Millionen Zuschauern als Bühne für ein Comeback zu nutzen, geriet zur Blamage. Und auch ihre Antwort auf die Frage, warum in diesem Zirkus funktioniert, was in der Politik nicht funktioniert, klang merkwürdig schal: „Music makes the people come together, yeeeaaaah!“

Denn um Musik geht es hier schon lange nicht mehr. Längst wird der ESC von den Veranstaltern auch politisch instrumentalisiert. Wäre es nach Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu gegangen, hätte der Wettbewerb in Jerusalem stattgefunden. Eine Kampfansage an die Palästinenser, die den Ostteil der Stadt als Hauptstadt für sich reklamieren. Die Hamas revanchierte sich Anfang Mai, indem sie 700 Raketen auf Israel abfeuerte. Bilanz: vier Tote auf israelischer und 25 Tote auf palästinensischer Seite. Hinter den Kulissen war es der Veranstalterin, der European Broadcasting Union (EBU), da schon gelungen, Tel Aviv durchzusetzen. Die Party-Hauptstadt war der perfekte Rahmen für den ESC. Der ist heute nur noch ein Bekenntnis zu einer diversifizierten Gesellschaft, nicht mehr und nicht weniger. Piep, piep, piep. Der ESC hat alle lieb. Egal, welche sexuelle Orientierung oder welche Nationalität oder Hautfarbe jemand hat. The show must go on.

Das beeindruckt Firas. Dass ein schwarzer Soulsänger, John Lundvik, Schweden vertritt oder ein Araber Italien: Mahmood. In Italien musste sich der Sohn eines Ägypters von den Anhängern des rechten Innenministers Matteo Salvini fragen lassen, ob er, der Gewinner des renommierten Sanremo-Festivals, das Land überhaupt vertreten darf. In Tel Aviv rockt er die Bühne mit italienischem Rap – und landet umjubelt auf Platz zwei.

Allianzen wie in der Politik

Man kann sagen, der ESC hat einen Beitrag zur Völkerverständigung geleistet. So gesehen hat er seinen Zweck erfüllt. Als ihn Europas Rundfunkanstalten vor 64 Jahren aus der Taufe hoben, war die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg noch frisch. Die Nachbarn sollten sich besser kennen lernen, das war ihr Ziel. Und was öffnet Herzen besser als Musik?

Damals sangen die meisten Teilnehmer noch in ihrer Landessprache. Und wie waren die Zuschauer entzückt, als Vicky Leandros für Luxemburg „Après toi“ sang? Wie fieberten sie dem Höhepunkt entgegen, wenn die Sendung auf ihren Höhepunkt zusteuerte, wenn die Jury am Ende die Punktezahl für die Beiträge verkündete – dreisprachig. Luxembourg: douze points. Luxemburg: twelve points. Luxemburg: zwölf Punkte. Doch ach, auch dieses Ritual ist 2019 verschwunden. Verkündet wird nur noch die höchste Punktzahl, die die  Experten-Jury eines Landes für die Teilnehmer vergibt. Es ist wie in der Politik. Es gibt Allianzen, die gepflegt werden müssen. Die Skandinavier pushen die Skandinavier. Und auch der Ostblock hält zusammen. Blut ist eben doch dicker als Wasser.

Für komische Sachen gibt es RTL II

Brauchen wir den ESC noch? In einem Europa, das die Schotten herunterlässt, ist Verständigung wichtiger denn je. Aber dieser Wettbewerb trägt nicht mehr dazu bei. Er spiegelt nicht mehr die sprachliche und kulturelle Vielfalt Europas. Er befördert den Wandel zu einer Gesellschaft, in der regionale Eigenheiten wie ein Dialekt oder eine Tracht nur noch als Folklore herhalten.

Gut, dass am Ende ausgerechnet der Song gewann, der es auch ohne diese Windmaschinen-WM zum Hit gebracht hätte. Es ist die Ballade „Arcade“ des 25-jährigen Holländers Duncan Lawrence. Eher eine leise Nummer, kein Hoppla-Jetzt-Komm-ich-Stück. Firas findet ihn so la-la. Aber er würde sich  den ESC sowieso kein zweites Mal anschauen. Er sagt, wenn er komische Sachen sehen wolle, schaue er RTL II.

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