En passant - Die Welt als Krabbelgruppe

In ihrer Kolumne schreibt Sophie Dannenberg über beiläufige Entdeckungen. Diesmal wundert sie sich, warum wir nicht mehr erwachsen sein können

Erschienen in Ausgabe
„Wir bemühen uns so sehr um 'gesellschaftliche Vielfalt', aber wenn es um unsere Kinder geht, orientieren wir uns nervös an der Norm“
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Autoreninfo

Sophie Dannenberg, geboren 1971, ist Schriftstellerin und lebt in Berlin. Ihr Debütroman „Das bleiche Herz der Revolution“ setzt sich kritisch mit den 68ern auseinander. Zuletzt erschien ihr Buch „Teufelsberg“

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Auf dem Weg zur Krabbelgruppe meiner Kinder fällt mir jedes Mal auf, wie viele Psychotherapeuten es gibt. An ungefähr jedem dritten Haus in Berlin-Schöneberg prangt das Messingschild einer Praxis. Ständig lese ich in der Zeitung, dass Patienten monatelang auf einen Therapieplatz warten, und vermutlich gilt das auch für meinen Kiez. Aber die Schilder, manchmal mehrere übereinander, sind ein Fanal. Ich stelle mir im Vorbeigehen die Frage, ob wir alle so irre sind, wie die vielen Messingschilder es suggerieren.

In der Krabbelgruppe, wenn zehn erwachsene Menschen „Backe, backe Kuchen“ singen, während ihre Babys herumkugeln, stelle ich mir diese Frage erst recht. Nach der Singerei fragt die Kursleiterin in die Runde, wie es so läuft. Alle sind eifrig, aber unsicher, als wäre Elternschaft eine Form der Verstörung. Das Baby fremdelt nicht, ist das normal? Es will plötzlich nicht mehr alleine schlafen, ist das normal? Es krabbelt immer noch nicht, ist das normal? Die Kursleiterin beruhigt dann alle und sagt: „Jedes Kind ist anders, das wird schon!“

Warum können wir nicht mehr erwachsen sein?

Langsam glaube ich nicht mehr, dass das schon wird, die Messingschilder blinken ja bereits in der Sonne, ein Gruß aus der Zukunft, in der diesen Kindern dann ein Psychotherapeut beim Normalsein hilft. Vermutlich wird niemand auf der Welt so gut versorgt wie ein Mittelstandsbaby in Deutschland, medizinisch, pädagogisch, überhaupt. Die Eltern lieben ihr Kind über alles und haben sich bestens vorbereitet, und trotzdem sind sie durch den Wind. Das eigene Kind ist, kaum geboren, schon entfremdet.

Es gehört von Anfang an weniger zu seiner Familie als zu den Elternforen im Internet und den entzückenden Ratgeberbüchern. Wir bemühen uns so sehr um „gesellschaftliche Vielfalt“, aber wenn es um unsere Kinder geht, immerhin den Ursprung der Gesellschaft, orientieren wir uns nervös an der Norm. Jemand soll uns sagen, was das ist, jemand soll uns betreuen, ein Therapeut, vielleicht auch bald die neue Bundeskanzlerin. Die wird dann die Krabbelgruppenleiterin der Nation.

Ich weiß nicht, warum wir nicht mehr erwachsen sein können, vielleicht macht das einfach keinen Spaß. In meiner Krabbelgruppe müssen zum Abschluss die Erwachsenen vormachen, was für ein Tier sie heute sind und wie das klingt, und die anderen Erwachsenen machen es dann nach. Also: Ich bin eine Maus, piep, piep.

Dies ist ein Artikel aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie ab am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.













 

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