Drittes Geschlecht - Das Regiment der Nebensachen

Kisslers Konter: In weiten Teilen der Öffentlichkeit fehlt es am Unterscheidungsvermögen. Nebensächlichkeiten verdrängen Zukunftsfragen, Randphänomene echte Probleme. So geht die Aufklärung verloren

Im Reich der Nebensächlichkeiten: Pro-Intersexualität-Demo in Berlin / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Deutschland ist wieder da, wo es sich gerne sieht: ganz vorne. Ein neuer Weg soll der Welt Vorbild sein, diesmal auf den Standesämtern. Dort muss künftig ein Kästchen auf den Meldezetteln für ein drittes Geschlecht vorgehalten werden, für jene im Promillebereich zählenden Menschen, deren Chromosomensätze nicht eindeutig männlich oder weiblich ausgeprägt sind. So forderte es gestern das Bundesverfassungsgericht, so trugen es die Agenturen hinaus in die ganze weite bipolare Welt. Ein großer Schritt für eine winzige Minderheit, heureka gewiss. Und doch auch ein neuer Aufzug im Endlosstück dieser Jahre. Es handelt vom Regiment der Nebensachen.

Zu allen Zeiten gab es ein Nebeneinander von Welt- und Lokalgeschichte, harter Politik und bunter Meldung, Oberstübchen und Unterleib. Anders kann es nicht sein; wo Menschen sind, da menschelt es. Jedoch ist Aufmerksamkeit ein kostbares Gut, die Öffentlichkeit ein umkämpfter Platz und jeder Diskurs ein Verdrängungswettbewerb. So wie man in der Ersten Klasse nicht für seinen eigenen Platz bezahlt, sondern für die Plätze derer, die dank des Preises draußen bleiben müssen, für die also, die nicht da sind, – so ist an jeder Nachricht, jedem Argument entscheidend, welche anderen Nachrichten und Argumente dadurch verdrängt werden. Unter der Oberfläche bleibt das Meiste.

Empörungstheater im hohen Moralton

Wer sich ernsthaft über den ollen Gassenhauer vom Steuervermeidungsehrgeiz der Reichen echauffieren will, der lese Stunde um Stunde die „Paradise Papers“ wie zuvor die „Panama Papers“: spannend im Detail, ermüdend in der Summe und fast gänzlich unoriginell. Wen wirklich die Lust überkommt, sich die mediale Verachtung für den US-Präsidenten noch einmal aktualisieren zu lassen, der greife zu am Tageszeitungskiosk, der schalte ein beim „heute journal“ oder bei den „Tagesthemen“ oder bei 3sat, wo Anti-Trump-Polemiken zu „Texten des Widerstands“ aufgeblasen werden, als wäre eine amerikanische Sophie Scholl nötig, um gegen Trump das Wort zu erheben: bestenfalls macht solche Monotonie dumm, auf jeden Fall tut sie, was sie soll, und frisst Zeit. Zeit, die fehlt für andere Gedanken. Für Gedanken überhaupt.

Wer unbedingt Apokalyptiker bleiben will, der lese die täglichen Titelseitenmeldungen von der globalen Klimakatastrophe, die endgültig drohe, wenn im ach so wichtigen Deutschland nicht diese oder jene dirigistische Maßnahme subito ergriffen werde: untauglich für das weite Feld der Selbstsorge macht solcher Untergangsradau. Wer der Provinzialisierung Deutschlands beim Werden zusehen will, der schaue ohne Unterlass auf den Berliner Balkon, wo ein abgelebtes Personal bei der Verwechslungskomödie „Jamaika“ dilettiert und auf Huldigung erpicht ist: Erkenntnis wächst nicht, Probleme schwinden nicht.

Und wer sich vom Hashtag #metoo und den im Sekundentakt herein purzelnden unbewiesenen Anklagen, tatsächlichen Vorfällen, den Entschuldigungsspektakeln und Reuetremoli bis zu jenem Endpunkt leiten lassen will, an dem eine für ihre anzüglichen Sprüche bekannte Komikerin „anzügliche Sprüche“ auf Partys im hohen Moralton beklagt: der höre nur Carolin Kebekus weiter zu und rechne nicht mit besserem Gedankenwetter.

Aufklärung statt Skandalisierung

Die Rangordnung hat sich verschoben. Auf der größten Bühne und in Festbeleuchtung spielt sich ab, was als Zwischenstück am Platz wäre. Wochenlang verbeißt sich eine vorurteilsfreudige, aburteilungsbedürftige, widerspruchsentwöhnte Mehrheitsöffentlichkeit in diesen oder jenen Sachverhalt, den sie Skandal nennt, weil der Skandal zur Grundwährung unseres Miteinanderredens abgewertet wurde, das darum zum Aneinandervorbeireden ausschlug. Das einmal billig Erahnte wird als teuer Errungenes verkauft und unter Bestandsschutz gestellt. Als Mut firmiert, was keine Preise kostet, als Eigenständigkeit die Losung der Menge und als Haltung der Karrierefortschritt.

Um zur Realität vorzustoßen, bedarf es eines Kompasses, bedarf es der Unterscheidung. Um Probleme zu erkennen, etwa den Versuch der Berliner Polizei, Gesetzeshüter und Gesetzesbrecher, Freund und Helfer und Organisierte Kriminalität unter einem Dach zu vereinen, etwa die wachsende Rechtlosigkeit in Deutschlands Innenstädten und den Kontrollverlust auf Deutschlands Marktplätzen, etwa auch den flächendeckenden Triumph der Unbildung, die Bildungsexperten als Bildung teuer an den Staat und in die Schulen bringen – um beispielsweise diese zentralen Probleme erkennen zu können, bräuchte es Eigensinn, Klarheit, Ausscherungsbereitschaft. Mit einem Wort: Aufklärung. Sie überwintert in Sonntagsreden. Deshalb stehen die Dinge, wie sie stehen, und sie stehen nicht zum Besten. Zeit, dass sich was dreht.

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