Debattenkultur im Internet - Beipackzettel für den Netzgebrauch

In Zeiten des gesellschaftlichen Auseinanderdriftens wird Facebook zur Bühne für die eigene Weltsicht: je radikaler, desto größer ist die Aufmerksamkeit. Aber Haltung birgt das Risiko des Widerspruchs. Wie geht man damit um? Eine Anleitung

Die Meinungsäußerung sollte eine Länge von drei Sätzen nicht überschreiten, sonst droht Ausgewogenheit / picture alliance
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Autoreninfo

Die Schriftstellerin Sarah Stricker lebt seit acht Jahren in Tel Aviv. Ihr Debütroman „Fünf Kopeken“ (Eichborn) wurde unter anderem mit dem Mara-Cassens-Preis ausgezeichnet, dem höchst dotierten Preis für ein deutschsprachiges Erstlingswerk, und wird derzeit in mehrere Sprachen übersetzt.

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Therapeutikum: Meinung

Aktiver Wirkstoff: Ablehnende (in seltenen, weitgehend dem Sarkasmus vorbehaltenen Fällen auch zustimmende) Haltung zu einem Thema mit erwartungsgemäß hohem like-, share-, oder Kommentierungspotenzial.

Sonstige Bestandteile: schäumende Wut, historisch fragwürdige Allegorien, dystopische Zukunftsprognosen, Bekundung eines vermeintlichen Tabu-Bruchs, Stilisierung als letzte Stimme der Vernunft, Spott, Schadenfreude. Vorsicht: kann Spuren von Argumenten enthalten.

Anwendungsgebiete: Akute Empörungszustände, diffuses Opfergefühl, Selbstwahrnehmung als Teil einer undeutlich umrissenen Minderheit, mittlere bis schwere Aufmerksamkeitsinsuffizienz, chronisches „Das wird man ja noch sagen dürfen“-Syndrom.

Dosierung, Art und Dauer der Anwendung:

Die Meinung wird unverdünnt mit ausreichend Zorn und/oder Zynismus geäußert. Dabei ist von Anfang an klarzustellen, dass es sich hier um einen letzten, aber auch wirklich allerletzten Überzeugungsversuch handelt, ( „Was muss eigentlich noch passieren?“, „Wacht auf!“, „Geht’s noch???“), man sich der Zwecklosigkeit desselben jedoch von vorne herein bewusst ist („Aber darüber redet natürlich KEINER!“, „Und die Welt schaut zu“, #NoOneCares).

Zur besseren Absorption vonseiten der Crowd empfiehlt es sich, die Meinung stets durch ein oder mehrere aufmerksamkeitssteigernde Mittel zu unterstützen. In der Regel kann bereits der Einsatz einiger Wut-Emojis, einer halben Zeile Ausrufezeichen oder eines Angry Anime-Memes die Weiterwisch-Geschwindigkeit signifikant drosseln; quietschbunte Hintergrundfarben zwingen nahezu unweigerlich zum Scroll-Stopp und verleihen auch einem „Alle an den nächsten Baum!“ die Aura einer buddhistischen Lebensweisheit; Links mit empörungsfördernden Artikelüberschriften unterstreichen die Fundiertheit der Meinung (das vorherige Lesen des Artikels ist nicht nötig; ein in der Vergangenheit vielfach angenommener Zusammenhang zwischen Gefällt mir-Angaben und tatsächlichem Anklicken des Links besteht nach heutigem Erkenntnisstand nicht).

Warnhinweis:

Die Meinungsäußerung darf eine Höchstlänge von drei Zeilen nicht überschreiten. Längere Einträge führen nicht nur zu einer Verkleinerung der Schriftgröße und damit drohendem Wahrnehmungsverlust; mit jedem Wort wächst auch das Risiko der Ausgewogenheit durch mögliche Einschränkungen, Zwischentöne, Hintergrundinformationen, bis hin zum Herstellen eines Kontexts. Das kann zu einer akuten Versachlichung der Debatte führen. In dem Fall ist die Äußerung umgehend um alle Präposition zu kürzen und ein Nazi-Vergleich zu ziehen.

Wechselwirkungen:

Meinungen sind höchst widerspruchsanfällig. Daher rufen sie in Ausnahmefällen Reaktionen mit anderen Meinungen hervor.

Gelegentlich (1 bis 10 Anwender von 1.000)

– Anerkennung von Gegenargumenten

Die Akzeptanz der Daseinsberechtigung anderer Positionen neben der eigenen kann das Schwarz-Weiß-Denken beeinträchtigen und damit die Geschlossenheit des Weltbilds dauerhaft schädigen. Daher sollte bei jeder Meinungsäußerung darauf geachtet werden, Folgekommentare höchstens anzulesen und ihnen beim ersten Ausmachen eines Trigger-Worts aus dem persönlichen Erregungsspektrum („Palästina“, „KollegInnen“, „Fleisch“ „moderater Islam“) jegliche Berechtigung abzusprechen („ist kein Staat“, „ist kein Wort“, „ist Mord“, „ist eine Erfindung des linksversifften Gutmenschentums“). Achtung: Die Zurückweisung eines Kommentars erzielt nur dann ihre volle Wirkung, wenn auch der Kommentierende als Person herabgesetzt wird. Meist führt bereits das Infragestellen der geistigen Gesundheit oder eine diffamierende Bemerkung zum jeweiligen Lebensentwurf zu einer spürbaren Senkung des Niveaus, die ein Übergreifen der Diskussionsbereitschaft auf andere Teilnehmer verhindert. Zum Schutz vor einem abrupten Wutanfall sollte die Verleumdung jedoch intervallweise wiederholt werden, bis der Kommentierende das Beharren auf ein vermeintliches Missverständnis einstellt und selbst mit einem Tritt unter die Gürtellinie reagiert. Das erlaubt ein sofortiges Entfreunden mit positivem Effekt für die weitere Filterblasenbildung.

Selten (1 bis 10 Anwender von 10.000)

– Änderung der Meinung

Bei anhaltendem Befall der Facebook-Wall mit Fremdmeinungen kann es zu einer Schwächung der eigenen Position, in Einzelfällen gar zur Revidierung, kommen. Erste Anzeichen sind etwa spontane Betroffenheit beim Anblick ertrunkener Flüchtlingskinder, nachträgliche Zweifel am Like für „Der schwarze Block macht wenigstens was!“, generelles Unbehagen beim Teilen von Xavier-Naidoo-Songs oder wachsende Unsicherheit, ob Der Postillon wirklich die zuverlässigste Nachrichtenquelle ist.
Im Allgemeinen sind diese Symptome reversibel und bilden sich innerhalb weniger Stunden von alleine zurück. Bei Fortbestehen empfiehlt sich die intensive Nutzung eines Mediums wie „totally true facts“ oder „die Wahrheitspresse“. Das zusätzliche Posten von Links wie „Grüne fordern Geschlechtsumwandlungen im Kindergarten“, „Angela Merkel – Abscheu gegen die deutsche Flagge?“, oder „NEW STUDY SHOWS: 80 % of muslims are product of incest“ garantiert nicht nur das schnelle Ausscheiden von weltbildsunverträglichen Fakten; bei ausreichend hoher Dosis ist neben dem aktiven auch mit dem passiven Entfreunden zu rechnen, was zu einer weiteren, vorbeugend wirkenden Homogenisierung der Crowd führt.

Sehr selten (weniger als 1 Anwender von 10.000)

– Änderung des Verhaltens

In extremen Ausnahmefällen kann der Kontakt mit anderen Meinungen die eigene Überzeugung dahingehend steigern, dass das Bedürfnis aufkommt, mehr zu tun, als nur zu posten.

Davon ist dringend abzuraten!!!

Ein Aufeinandertreffen von Meinung und Realität birgt das akute Risiko der Einsicht, dass die Dinge komplizierter liegen, als erwartet. Mögliche Folgen sind das Einbüßen des Glaubens an einfache Lösungen, die Schwächung des Selbstgerechtigkeitsempfindens, Schwierigkeiten bei schnellen Schuldzuweisungen und daraus resultierender Aufmerksamkeitsverlust. Merke: Einerseits / anderseits ist der natürliche Feind des Likes.

Beim Aufkommen eines Engagement-Impulses ist sich sofort ins Gedächtnis zu rufen, dass man selbst ja ohnehin nichts ausrichten kann, weil die Politiker-Clique/ das Finanzwesen/ die Stumpfheit der Menschen wirkliche Veränderung verunmöglicht. Gleichzeitig ist jenen, die sich doch einsetzen, in schneller Folge Zeitverschwendung („Tropfen auf den heißen Stein“), Naivität („in welchen Taschen landet das Geld denn wohl?“) und Profilierungssucht („will sich nur interessant machen“) vorzuwerfen. Wegen der heute guten Abdeckung mit Aktivitätsblockern muss hier unter Umständen auf Prominente zurückgegriffen werden. Da es sich dabei um von Mainstream-Medien erschaffene Hologramme handelt, hinter denen sich keine echten Menschen verbergen, empfiehlt sich dringend eine weitere Dosissteigerung, wobei das Mindestmaß des Rufmords unbedingt eingehalten werden sollte. Bei guter Anfangsrezeptivität der Crowd kann die Frequenz der Hass-Posts schrittweise erhöht werden, bis die Facebook-Benachrichtigungen endlich so regelmäßig aufpoppen, dass sich das gute Gefühl einstellt, die Menschen zu bewegen, ohne sich dabei auch nur einen Zentimeter vom Fleck bewegen müssen.

Hinweis zur Aufbewahrung:

Meinungen sind allein zur äußerlichen Anwendung in den sozialen Netzwerken vorgesehen und für den inneren Familien-, Freundes- oder Bekanntenkreis unzugänglich aufzubewahren. Der Meinungsaustausch mit Menschen, die man tatsächlich kennt, kann unschöne Spannungen im Alltag hervorrufen, die man mit Rücksicht auf den lieben Frieden bitte vermeidet. Gespräche in der Kaffeeküche oder am Sonntagstisch sind für das Zeigen von Haltung ungeeignet und dienen ausschließlich dazu, den fehlenden Sommer zu beklagen, die neusten Katzenvideos auszutauschen, oder sich darüber zu wundern, warum unsere Gesellschaft eigentlich so auseinanderdriftet.

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