Deutschland und der Islam - „Wir Muslime sind doch normale Menschen“

Die Deutschen, auch ihre Wissenschaftler, sehen den Muslim entweder als unterlegenen Gewaltmenschen oder als „edlen Wilden“. Nichts davon ist wahr, schreibt Bassam Tibi in seinem Essay

Bassam Tibi: „Beim Bild des Muslim pendeln die Deutschen zwischen den Extremen“ / picture alliance
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Autoreninfo

Bassam Tibi hat in den Jahren 2007-2010 als erster Muslim am Center for Advanced Holocaust Studies in Washington D.C. als Resnick Fellow seine zuvor in 22 islamischen Ländern betriebene Forschung in dem Buch „Islamism and Islam“  zusammengefasst, das Yale University Press 2012 veröffentlichte. Darin argumentiert er mit Beweisen, wie die Islamisierung des Antisemitismus erfolgt. Tibi ist auch Mit-Autor des von Charles Small herausgegeben fünfbändigen Standardwerks „Global Antisemitism“ (New York 2013) und veröffentliche auch ein Kapitel in dem Buch „Yale Papers on Antisemitism“ (New York 2015).
Foto: picture alliance

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Ein unbeteiligter Beobachter, der die Wahrnehmung „des Muslim“ als homo islamicus in der deutschen Perzeption des Fremden verfolgt, gerät zuweilen in Unsicherheit darüber, was er überhaupt vernimmt. In dieser Unsicherheit stellt man sich eben verunsichert die Frage: Was ist denn dieser homo islamicus für ein Mensch? Ist er etwa der gleichermaßen verteufelte und dem Europäer rassenpsychologisch unterlegene Gewaltmensch des Dschihad? Oder ist er gar das Gegenteil hiervon, also ein dem Europäer überlegener homo islamicus, der wegen freier Sexualität zu verherrlichen ist? Und gibt es überhaupt diesen homo islamicus?

In beiden Fällen der Verteufelung oder Verherrlichung haben wir es eindeutig mit Extremen von Fremdbildern zu tun. Fremde Menschen werden entweder ganz negativ oder ganz positiv eingeordnet. Der Stereotyp des homo islamicus steht als Exempel dafür. Bei dieser Sichtweise scheint es sich um Schöpfungen der deutschen Islamwissenschaft zu handeln, die diese kulturellen „Images“ vom Anderen mit Besessenheit pflegt. Edward Said verwarf das negative westliche Bild vom homo islamicus als „Orientalismus“. Said und seine Anhänger kehrten jedoch das negative Bild positiv um. Der in Damaskus geboren und in Yale ausgebildete Philosoph Sadik J. al-Azm sieht darin nur einen „orientalism in reverse“, also keine Befreiung von den westlichen Vorurteilen des Orientalismus, sondern allein ihre Umkehrung.

Rassistisches Menschenbild des homo islamicus

Das rassistische Menschenbild vom homo islamicus findet man in den zweibändigen Islamstudien von Carl Heinrich Becker. Dieser deutsche Rassist gilt als Begründer der deutschen Islamwissenschaft, er avancierte später zum preußischen Kultusminister. Das entgegengesetzte Extrem gedeiht bei den manchen Islamwissenschaftlern; diese sprechen vom homo islamicus als sexuell freien Menschen. Dieses Muslim-Bild findet man in dem Buch „Kultur der Ambiguität“ von Prof. Thomas Bauer. Dieses Buch hat den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhalten. Was stimmt denn nun?

Ich habe als Muslim aus Syrien in Frankfurt neben meinem Studium der Kritischen Theorie bei Max Horkheimer und Theodor W. Adorno auch Islamwissenschaft bei Rudolf Sellheim studiert. Doch in meinen reifen Jahren seit den 1980er Jahren habe ich eine Alternative dazu in drei Buchtrilogien entfaltet. Diese Alternative nenne ich: Islamologie. Das ist kein Fremdwort für Islamwissenschaft, sondern eine neue Disziplin. Mit diesem Hintergrund möchte ich mein Wissen über den Gegenstand, das ich gleichermaßen in drei Welten – in Deutschland, in den USA und in der Welt des Islam – erworben habe, zur Beleuchtung der gestellten Fragen heranziehen.

Der grundlegende Gedanke bei der anstehenden Auseinandersetzung mit dem deutschen Islambild am Beispiel der deutschen Islamwissenschaft betrifft das Verhältnis der Deutschen zu den Fremden im Kontext des Wandels von Fremdbildern. Anders formuliert: Ich wage zu sagen, dass die deutsche Islamwissenschaft mich nicht so sehr als akademische Disziplin interessiert, sondern als Feld der Spannung der deutschen Bilder von Muslimen im Pendeln zwischen dem homo islamicus als rassistisch unterlegener Gewaltmensch vs. dem Muslim als „Bon Sauvage“ (edlem Wilden) mit einer diesmal überlegenen „Kultur der Ambiguität“. Wir sind also wieder beim deutschen „Pendeln zwischen den Extremen“. Ich behaupte dies: Wir Muslime sind doch normale Menschen, unter uns befinden sich gute wie schlechte Menschen. Wir sind also weder Gewaltmenschen noch bisexuelle „lovers“ mit einer „Kultur der Ambiguität“.

Den Deutschen den Spiegel vorhalten

Mit diesen Ausführungen halte ich als ein in Deutschland als Migrant lebender Muslim „den Deutschen“ den Spiegel vor. In Deutschland redet man heute vom Bedarf, Respekt für andere Kulturen aufzubringen; einen Respekt, der bei manchen so weit geht, dass diese sogar für Kopftuch und für Burka als angebliche Scharia-Vorschriften eintreten. Ich bin ein liberaler Muslim und bitte um Respekt für weit weniger: nur um Respekt für meinen nichtdeutschen, also kulturell-orientalischen Schreibstil, der sehr persönlich ist. Ich bin ein arabisch-muslimischer Wissenschaftler, der die deutsche Abstraktion vom Menschen im Namen von Sachlichkeit nicht gutheißt; für mich lasse ich eine solche Verneinung des konkreten Menschen nicht gelten.

Mein Gegenstand bei der Anfertigung dieses Artikels ist der Versuch, als Muslim und Wissenschaftler zu verstehen, wie Deutsche anhand ihrer Islamwissenschaft mit der islamischen Zivilisation umgehen, aus der ich komme. Ich schaffte es als erster Syrer in der deutschen Geschichte, einen Lehrstuhl an einer angesehenen deutschen Universität, also in Göttingen, zu bekommen. Dies war in der Politikwissenschaft möglich, nicht aber in der damals rassistisch dominierten Islamwissenschaft. Selbst in der liberalen deutschen Sozialwissenschaft habe ich es nicht geschafft, dieselbe wissenschaftliche Anerkennung wie ein Einheimischer zu bekommen. Mit diesem Hintergrund nahm ich Abstand zu Deutschland; und ich ging in die USA zum Ort meiner dritten Sozialisation. Meine wissenschaftliche Karriere fand in den USA an Ivy-League-Universitäten ab 1982 erst in Harvard, dann bis 2010, also bis zum Ende meiner akademischen Laufbahn an der Cornell University statt. Ich erwähne dies deshalb, weil ich in den USA Abstand zum deutschen Islambild gewinnen konnte.  

Unterschiede zwischen Islamwissenschaft und Islamologie

Zwischen 1982 und 1996 hatte ich in Harvard in dem großen islamisch-irakischen Gelehrten Muhsin Mahdi einen vorzüglichen Mentor gefunden, der mich beim Schreiben meiner islamischen Ideengeschichte „Der wahre Imam“ geleitet hat. Professor Mahdi hatte bis zu seinem Tod 2007 den Lehrstuhl für islamische Philosophie an der Harvard University inne. Neben Mahdi war Maxime Rodinson von der Sorbonne der zweite Islamwissenschaftler, der einen großen geistigen Einfluss auf mich hatte in dem Prozess, mich von der deutschen Islamwissenschaft zu befreien. In den USA habe ich unter diesen Einflüssen in den 1980er Jahren meine erste Buchtrilogie zur Grundlegung der neuen Wissenschaftsdisziplin der Islamologie vorgelegt. Ich wiederhole meinen Anspruch: Für mich ist Islamologie die Alternative zur Islamwissenschaft. Worin bestehen die Unterschiede zwischen der altkolonialen deutschen Islamwissenschaft und der von mir begründeten Islamologie? Ein Unterschied ist politisch, der andere ist wissenschaftlich-methodologisch; es sieht wie folgt aus:  

1. Im Gegensatz zur deutschen Islamwissenschaft mit ihrer altkolonialen Verankerung ist Islamologie im Sinne von Maxime Rodinson eine entkolonialisierte Islamforschung.

2. Im Gegensatz zur philologisch-kulturwissenschaftlichen Islamwissenschaft ist die Islamologie methodisch und inhaltlich eine historisch-sozialwissenschaftliche und religionskritische Disziplin.

Doch wie ordnen deutschen Islamwissenschaftler die Zivilisation, in der ich sozialisiert worden bin, ein? Wandel erfolgt durch Veränderung und dies geschieht auch für die Wissenschaft, etwa durch Paradigmenwechsel; hat es in den vergangenen Jahrzehnten ein Wandel dieser Art in der deutschen Islamwissenschaft gegeben?

Ich betone mit allem Nachdruck, dass es mir hier nicht um klassisch-wissenschaftliche Fragen geht, wenn ich von dem erkenntnisleitenden Interesse in meinem Denken spreche. Mein Kampf um Anerkennung als Muslim im deutschen Wissenschaftsbetrieb leitete meine Erkenntnis bei der Suche nach Anschluss an die internationale Orientalismus-Debatte. Dies tue ich mit der Frage, wie sich die deutsche Islamforschung und somit deutsche Islambilder durch diesen Anschluss verändert haben. Wieder muss ich zwei Aspekte näher beleuchten:

Der erste Aspekt bezieht sich auf die Wissenschaftssystematik; es ist durch die bisherigen Ausführungen klar geworden, dass an der deutschen Universität die Islamforschung Islamwissenschaft heißt. Diese ist eine weitgehend philologische Disziplin, die in Arabistik, Turkologie, Iranistik, etc. untergliedert ist. Man nannte diese philologischen Fächer zu meinen Studienzeiten in den 1960er Jahren Orchideenfächer der Kulturwissenschaften. Unter dem politischen Einfluss der islamischen Migration nach Europa gewinnen diese Randfächer heute eine besondere Bedeutung und bewegen sich hierbei vom Rand zum Zentrum. Dies geschieht jedoch ohne Paradigmenwechsel und ohne Änderung der politisch folgenreichen Wissenschaftssystematik.

Im deutschen Geschichtsbild haben Araber keinen Platz

Im Gegensatz zu Deutschland sind die Islamic Studies in den USA in die Fakultäten der großen Disziplinen eingegliedert. Als studierter Sozial- und Islamwissenschaftler habe ich in meinen Harvard-Jahren mit großem Neid darüber gestaunt, dass etwa allein in Harvard‘s Fachbereich Geschichtswissenschaft drei große Lehrstühle für islamische Geschichte eingerichtet waren. Ich fragte mich 1982 und tue es heute 2016 immer noch, warum islamische Geschichte nicht innerhalb der deutschen Geschichtswissenschaft gelehrt und erforscht wird. Die Antwort auf diese Frage gab mir der deutsche Islamwissenschaftler Barber Johansen, als wir beide an der University of Calgary/Alberta/Canada an dem Forschungsprojekt „Middle Eastern Studies. International Prospectives“ mitwirkten.

Unter demselben Namen des Projektes ist 1990 ein Buch in New York erschienen. In seinem Kapitel zum gleichnamigen Buch schreibt Barber Johansen offen und kritisch, dass die deutsche Geschichtswissenschaft seit Ranke und Meinecke nur eine Weltgeschichte anerkennt, zu der ausschließlich germanische und romanische Völker gehören. Johansen führt in aller Klarheit aus, dass Araber und Muslime nach diesem Geschichtsverständnis nicht zur Weltgeschichte gehören. Mit diesem kritischen Denken konnte Johansen sich an der deutschen Universität nicht mehr halten; er ging zunächst nach Paris und vor dort wurde er an die Harvard University berufen, wo er bis heute wirkt.

Es kommt noch schlimmer, es wird behauptet, diese Völker hätten gar keine Geschichte und gehörten daher nicht zur deutschen Geschichtswissenschaft. Es gibt im Englischen hierfür die Kategorie „People without Histoy“.  

Der zweite Aspekt betrifft die Ideologiekritik vom Herrschaftsdenken in der deutschen Islamwissenschaft, die gleichermaßen alt-kolonial und rassistisch vorbelastet ist. Wie eingangs hervorgehoben, versuchen heutige junge Islamwissenschaftler dieser Belastung zu entkommen; sie verfallen jedoch in das Gegenteil, also in das deutsche, von Plessner beschriebene „Pendeln zwischen den Extremen“. Seit der Veröffentlichung von Edward Saids Buch „Orientalism“ 1978 wurde eine Debatte losgetreten, die ich im Kapitel „Orientalismus-Debatte“ in meinem Buch „Einladung in die islamische Geschichte“ zusammenfasse. Im Rahmen dieser Debatte hat sich die akademische Welt in Bezug auf den Islam global und radikal verändert.

Mit Edward Said kam der Wandel

Seit jener Zeit der frühen 1970er Jahre hat der Aufstieg des Politischen Islam zu einer globalen Explosion der Islamic Studies geführt. Auch in Deutschland sind die Islamwissenschaften kein Orchideen-Fach mehr. Viele Studenten mit Migrationshintergrund studieren Islamwissenschaft in der Hoffnung auf eine bessere Karriere, zumal die „Drittmittel“ zur Finanzierung der Islamwissenschaften permanent wachsen. Wissen wir hierdurch mehr über den Islam? Die ehrliche Antwort ist: nein. Während des Golfkrieges 1991 musste ich mich über deutsche Professoren der Islamwissenschaft belustigen, die mit Textstellen aus dem Koran damalige politische Geschehnisse, etwa die Dschihad-Deklaration von Saddam Husein, erklären wollten.

Der Wandel begann ungefähr mit der Veröffentlichung von Edward Saids Buch. Obwohl Edward Said ein sehr hohes Ansehen bei mir genießt, kann ich seine Orientalismus-Kritik nicht voll teilen, eben wegen der Gefahren, die ihr inhärent sind. Eine dieser Gefahren nannte Sadiq J. al-Azm „orientalism in reverse“, also eine Umkehrung des Orientalismus. Zum besseren Verständnis dieser Kritik erlaube ich mir hier eine Parallele, nämlich Frantz Fanons „Les Damnés de la Terre“ und dem dazugehörigen Vorwort von Jean-Paul Sartre. Fanon zeigte in jenem Buch, dass Afrikaner auf den weißen Rassismus mit einem schwarzen Rassismus reagieren, indem sie das Schwarz-Sein heiligen statt dieses eben als rassistisch zu überwinden. Sartre nannte dies „antirassistischen Rassismus“. Ähnlich kann es der Orientalismus-Kritik von Said passieren und in der Tat – es ist schon passiert im postmodernen Saidismus.

Schriftgläubigkeit deutscher und muslimischer Wissenschaftler

Mein Mentor Maxime Rodinson hat in seinem Buch „La fascination de l’Islam“ vor einer Ideologisierung der Orientalismus-Kritik gewarnt und hervorgehoben, dass die Befreiung vom orientalistischen Geist nicht allein auf das Ideologische beschränkt sein darf, eben weil ein wissenschaftlicher Wandel dazu auch erforderlich ist. Er nannte das auf Französisch „la fin de l‘hégémonie de la philologie“. Diese Dominanz der Philologie ist nicht nur wissenschaftlich, denn der Skripturalismus, den sie beinhaltet, begründet auch eine politisch-religiöse Schriftgläubigkeit sowohl deutscher Islamwissenschaftler als auch der Muslime. Ich behaupte schroff, dass man hierbei nicht klar zwischen einem islamischen Salafisten und einem deutschen Islamwissenschaftler unterscheiden kann; beide sind auf den Text getreu dem Credo sola scriptura fixiert. Genau dies hatte ich im Blick, als ich die Islamologie begründete, um die Islamforschung vom philologischen Fokus hin zur sozialwissenschaftlichen Erforschung islamischer Realitäten umzusteuern.

Auf dem Jahreskongress der Middle East Studies Association in Chicago habe ich vor 2000 Hörern Edward Said eine Frage über die auseinander zu haltenden zwei Ebenen, nämlich Entkolonialisierung und Paradigmenwechsel (vgl. die oben angesprochenen zwei Aspekte) – leider hat er die Frage nicht beantwortet.  

Eintopf-Islam, den es nicht gibt

Said und die Orientalisten haben trotz aller Feindschaft eine Gemeinsamkeit: Beide reden vom Islam im Singular, also von einem Eintopf-Islam, den es in der Realität einer kulturell und religiös weitgehenden vielfältigen Zivilisation gar nicht gibt.

Fakt ist nun folgendes: Es gibt mehrere Islame und einer davon ist der Aufklärungs-Islam, für den wir liberale Muslime eintreten. In der Vergangenheit, zwischen dem 9. und 12. Jahrhundert wurde dieser vom islamischen falsafa-Rationalismus gegen den Scharia-Islam der fiqh-Orthodoxie und gegen Abtrünnige wie al-Ghazali vertreten. In der modernen Geschichte wird dieser Aufklärungs-Islam seit 1925 vom „enlightened Muslim thought“ repräsentiert. Diese Denkschule beginnt mit dem Werk von Ali Abdarrraziq und hat ihren Höhepunkt als neuzeitlicher islamischer Rationalismus im Werk des marokkanischen Philosophen Mohammed Abed al-Jabri, der 2010 in Rabat gestorben ist. Er schließt am mittelalterlichen islamischen Aufklärungsversuch von Ibn Ruschd/ Averroes (1126-1198) an.

Ein islamischer Aufklärer aus dem Irak, Ali Allawi, hat al-Jabri in einem Buch über die Islamkrise als „the most significant muslim thinker of the age“ gewürdigt. Sowohl al-Jabri als auch Allawi haben die Gemeinsamkeit diese Botschaft zu überbringen: Muslime befinden sich in einer Krise und es wäre eine grobe Vereinfachung, den Westen hierfür verantwortlich zu machen; eine vielversprechende Zukunft für die Muslime könne nur darin bestehen, in sich selbst kritisch hineinzuhorchen, die Krise zu verstehen und den Averrorismus als islamische Denkweise des Rationalismus neu zu beleben. Al-Jabri schreibt in einem seiner Werke, eine bessere Zukunft für Muslime könne „only be Averroist“ sein. Es ist schlicht empörend, zu sehen, wie diese innerislamische Diskussion von deutschen Islamwissenschaftlern übergangen und mit keinem Wort erwähnt wird; sie scheint deutschen Islamwissenschaftler nicht bekannt zu sein.

Warum Aufklärung im Islam?

Warum Aufklärung für die islamische Zivilisation? Eine islamische Akkommodation der Aufklärung wird als westliche Nachahmung diskreditiert. Wir Aufklärungsmuslime widersprechen jedoch heftig. Die Fragen lauten: Was ist Aufklärung? Und warum soll diese für uns Muslime von Belang sein?  Mein akademischer Lehrer in Frankfurt war Jürgen Habermas, der auf die Frage nach der Aufklärung folgendes in seinem Buch „Der philosophische Diskurs der Moderne“ schrieb. „Kant setzt die Vernunft als den oberste Gerichtshof ein, vor dem sich rechtfertigen muss, was überhaupt auf Gültigkeit Anspruch erhebt.“ Kant lebte in den Jahren 1724-1804. Der islamische Philosoph Ibn Ruschd lebte viele Jahrhunderte vor ihm – 1126-1198. Die Charakterisierung des Kantischen Denkens im Habermas-Zitat kann als „Primat der Vernunft“ identifiziert werden. Dieses Primat finden wir bei Ibn Ruschd. Deswegen frage ich, warum westliche Islamwissenschaftler diese Leistung nicht als islamische Aufklärung anerkennen, ja sogar behaupten, dass Muslime „keine Aufklärung“ benötigen.

Die deutschen Extreme sind hier diese: Alt-Islamwissenschaftler behaupten, wir Muslime hätten keine Aufklärung und seien hierzu nicht fähig. Neu-Islamwissenschaftler gehen in das Gegenextrem und behaupten den Unsinn, dass Muslime keine Aufklärung benötigen. Das ist eine Beleidigung für uns islamischen Averroisten. Mit al-Jabri behaupten wir eine Aufklärung in unserer Geschichte gehabt zu haben, die durch die islamische fiqh-Orthodoxie erstickt worden ist. Primat der Vernunft ist ein Universalismus, den al-Jabri für die gesamte Menschheit, also auch für uns Muslime befürwortet. Dieser Rationalismus ist Bestandteil der kulturellen Moderne, die nach al-Jabri eine Brücke zwischen islamischem und europäischem Geist bildet.

Patriarchale Einstellungen bleiben

Heutige angeblich wohlwollende deutsche Islamwissenschaftler betreiben einen „orientalism in reverse“ und sprechen für uns. An der patriarchalischen Einstellung der Islamwissenschaft, wonach wir Muslime Objekte der europäischen Forschung - so wie die Tiere für die Zoologie - sind, hat sich trotz Umkehrung des Orientalismus nichts geändert. Das Muster des homo islamicus dominiert weiterhin. Heutige Islamwissenschaftler wollen keine Rassisten mehr sein, wie es der Begründer ihrer Disziplin C.H. Becker war; sie machen aus uns edle Wilde, die einen Vormund benötigen. Frank Griffel, Islamwissenschaftler an der Yale-University steht für diese Geisteshaltung und schreibt ungeniert, das „Unglück“ der Muslime sei allein „der Westen“ Fakt ist: Unserer islamische Zivilisation befindet sich heute in einer Krise und es wäre irrational, die Opferrolle zu spielen.

Es bleibt für uns Muslime mit al-Jabri die Shakespearesche Frage „To be or not to be“ zu stellen. Unser Unglück ist nicht der Westen, sondern der Sieg der islamischen Scharia-Orthodoxie gegen den Rationalismus im islamischen Mittelalter. Damals gab es weder den Westen noch eine westliche Hegemonie noch einen Orientalismus. Und wie steht es mit der islamischen Gegenwart?  

Heute ist die islamische Zivilisation herausgefordert, ihre Probleme mit der kulturellen Moderne selbst zu bewältigen. Keiner der großen islamischen Denker der Gegenwart bekommt den Leibniz-Preis von der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Diesen bekommt der Islamwissenschaftler Thomas Bauer für die Ideologie einer Kultur der Ambiguität. Für die folgenreiche Konfrontation der islamischen Zivilisation mit dem hegemonialen Westen bietet dieses preisgekrönte Buch keinerlei Hilfe dafür, die Hauptprobleme der islamischen Länder zu bewältigen. Weder in ihrer alt-kolonialen noch in ihrer heutigen postmodernen saidistischen Gestalt ist die deutsche Islamwissenschaft für Muslime von Bedeutung bei der Bewältigung der von Ali Allawi genannten „Crisis of Islamic Civilization“.

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