Deutsches Schulsystem - Im Brennglas der Gesellschaft

Volle Klassen, Gewalt auf den Pausenhöfen, Helikopter-Eltern - funktioniert unser Schulsystem noch? Oder scheitert Schule gar an den Anforderungen, die von außen an sie gestellt werden? Ein Gastbeitrag von Katja Kranich und Bernd Saur

Scheitert unser Schulsystem mit den Lehrern oder an den Erwartungen an sie? / picture alliance
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Katja Kranich ist Schulleiterin des Stromberg-Gymnasiums in Vaihingen/Enz in Baden-Württemberg.

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Bernd Saur ist Vorsitzender des Philologenverbands Baden-Württemberg.

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„Viele Lehrkräfte sagen mir, dass sie durchaus dankbar wären, wenn man ihnen einmal sagte, was man genau von ihnen erwartet.“ So äußerte sich die baden-württembergische Kultusministerin Dr. Susanne Eisenmann Ende 2017 in einem Interview des Spiegel. Was auf den ersten Blick angesichts  verpflichtender Bildungspläne verwundern und irritieren mag, erschließt sich einem bei näherer Betrachtung durchaus als bedenkenswert. Aus dieser Äußerung der Kultusministerin spricht eine tiefe Verunsicherung gerade jener Zunft, für die das Lehren und die Wissenshoheit der Kern ihrer Profession sein sollte.

Aber weshalb ist die Erwartungshaltung an das Schulsystem und die Lehrkräfte so disparat und unklar geworden? In der Landesverfassung von Baden-Württemberg ist der staatliche Bildungs- und Erziehungsauftrag verbindlich definiert. Der Bildungsplan gibt die Inhalte inklusive sogenannter Leitperspektiven vor. Man sollte also meinen, dass damit Aufgabe und Auftrag von Lehrkräften klar umrissen sind und daher die Anforderungen an unsere Lehrkräfte eigentlich eindeutig sein müssten. Die in Frau Eisenmanns Zitat zum Ausdruck kommende Verunsicherung kann also jedenfalls nicht systemimmanent bedingt sein. 

Brennglas der aktuellen gesellschaftlichen Realität

Es kann sich also nur um die Anspruchshaltung handeln, die von außen an die Schulen herangetragen wird. Wie immer der Spagat der Lehrerschaft derzeit auch aussehen mag, um diesen diversen Ansprüchen gerecht zu werden, niveaufördernd scheint er nicht zu wirken. Die neuesten IQB-Ergebnisse belegen, dass das Bildungsniveau an unseren Schulen sinkt und dass unsere staatlichen Bildungseinrichtungen trotz aller Bemühungen den an sie gestellten Anforderungen offenbar nicht mehr gerecht werden können

Schule ist ein Brennglas der aktuellen gesellschaftlichen Realität und des Zeitgeistes. Das heißt konkret, dass Probleme in der Schule gesamtgesellschaftliche Probleme widerspiegeln. Wenn die Kultusministerin im selben Interview davon spricht, dass die Schülerschaft heterogener geworden ist, dann liegt das nicht ausschließlich am Wegfall der Verbindlichkeit der Grundschulempfehlung unter der grün-roten Landesregierung. Dann liegt das auch daran, dass unsere Gesellschaft zunehmend und mit beachtlicher Dynamik diffundiert und sich diversifiziert. Die individuellen Ansprüche steigen ebenso wie der Anspruch, persönliche Bedürfnisse möglichst unmittelbar zu befriedigen – und die Digitalisierung leistet dieser Entwicklung Vorschub. 

Dieser vorgelebte individualistisch-hedonistische Egozentrismus färbt selbstverständlich ganz automatisch auf die in unserer Gesellschaft Heranwachsenden ab. Auch wird von Eltern die Art und Weise, wie Wissen vermittelt wird, zunehmend in Frage gestellt. Dies ist zumindest bei akademisch gebildeten Elternhäusern am Gymnasium ein Trend. Die Unterrichtenden stehen damit immer öfter unter dem Zwang, sich zu rechtfertigen, warum es Bildung ohne Konzentration, Anstrengung, Fleiß und Disziplin nicht geben kann. 

Hohe Anforderungen an die Lehrer

Der Lehrer soll heute als Lernbegleiter die Selbststeuerung des Schülers so sanft wie möglich anstoßen, auf keinen Fall soll er instruieren oder gar dozieren. Dabei soll sich der Schüler nicht anstrengen. Der Lehrer soll seine Klasse mit einer natürlichen Autorität als Respektsperson führen, gleichzeitig aber auch Coach und Lernbegleiter sein. Und strafen soll er überhaupt nicht. Strafen wird als pädagogische Bankrotterklärung gebrandmarkt. Wenn eine Lehrkraft dies nötig hat, dann hat sie den Beruf verfehlt. Und spätestens an dieser Stelle wird nachvollziehbar, was Lehrkräfte meinen, wenn sie unserer Kultusministerin sagen, dass sie dankbar wären, wenn man ihnen einmal sagte, was man genau von ihnen erwartet.

Umstrukturierungen institutioneller Art wie die derzeit in Baden-Württemberg anstehende Schaffung zweier neuer Institute, dem „Zentrum für Schulqualität und Lehrerbildung“ (ZSL) und dem „Institut für Bildungsanalysen“ (IBBW) im Rahmen des sogenannten Qualitätskonzepts werden wahrscheinlich ebenso wenig Effekte auf Art und Qualität des Unterrichts haben wie der verzweifelte Versuch, dem Ruf der Wirtschaft nach mehr Lebensweltbezug gerecht zu werden, indem man im Hauruckverfahren Informatik einführt, ohne dass die dafür notwendigen Lehrkräfte zur Verfügung stünden. Und ob der neue Leitfaden für die berufliche Bildung in der Oberstufe, die Studienabbrecherquote wirklich verringern wird, bleibt abzuwarten.

Spannungsfeld des Bildungsauftrags

In diesem Spannungsfeld zwischen staatlichem Bildungsauftrag einerseits und den verschiedenen Erwartungshaltungen von Eltern, Betrieben, Unternehmen und Hochschulen als zukünftige Wirkungsstätten der Schüler andererseits haben sich unsere Bildungseinrichtungen zu behaupten und zu bewähren. 
Vor diesem Hintergrund mag sich ein vages Gefühl einstellen, dass weder ein verändertes Konzept der Lehrerfortbildung noch ein alternatives Classroom-Management noch der Informatikunterricht ab Klasse sieben den Niveauabfall an den Schulen wirklich aufhalten wird. Das einzige, was den Schulen helfen würde, wäre ein breiter gesellschaftlicher Konsens darüber, dass die Schule mit ihrem klaren Bildungsauftrag nicht permanent in Frage gestellt wird und vor allem die Grenzen des Machbaren akzeptiert werden. 

Das heißt konkret, dass wir in unserem gesellschaftlichen Machbarkeitswahn keine diffusen Erwartungen an Schulen stellen dürfen, mit der der Lehrerschaft quasi automatisch Inkompetenz unterstellt wird. Diese überzogene Erwartungshaltung überträgt sich zwangsläufig auf die Kinder. Was diese diffundierende Gesellschaft bräuchte, wäre die Erkenntnis und das klare Bekenntnis dazu, dass schulische Bildung immer nur einen Teilbeitrag zu einer gelingenden (Bildungs-)Biografie leisten kann. Sie ist kein Ersatz für Erziehung im Elternhaus, sondern immer nur Ergänzung. Es wäre das Bekenntnis zu einer Schule, die mit ihrem klassischen Bildungs- und Erziehungsauftrag unsere Gesellschaft zusammenhält und damit auch als Garant für den Werteerhalt in unserer Kulturnation wirkt. 

Lösung Privatschulen

Unser Schulsystem ist an einer deutlichen Grenze des Leistbaren angelangt. Vielleicht sollten wir uns an dieser Stelle die Frage stellen, ob wir das Schulsystem so, wie es die vergangenen 200 Jahre gewachsen ist, nicht für eine umfassende Privatisierung und damit eine Art Komplett-Individualisierung zur Disposition stellen sollten. Sollte nicht der Bildungskonsens konsequenterweise aufgehoben werden zugunsten vielfältiger Schulprofile mit unterschiedlichen Ausrichtungen und Anforderungen? Angesichts der Nicht-Vergleichbarkeit der Abiturnoten in Deutschland ist eine Einheitlichkeit ohnehin nicht gegeben – von Fairness ganz zu schweigen. Mit einem facettenreichen Privatschulangebot wären viele bedeutend besser bedient. Man sucht sich das aus, was man seinem Kind angedeihen lassen möchte: von Laissez-faire bis hin zu klarer und hoher Leistungserwartung.

Wäre dies ein gangbarer Weg aus dem Schuldilemma? Mit dieser Lösungsvariante ist keine Wertung verbunden. Vielmehr soll eine Alternative aufgezeigt werden, eine Alternative zu einem staatlichen Schulsystem, das an seine Belastungsgrenze gekommen ist und Gefahr läuft, den Stresstest der nächsten Generation nicht zu bestehen. Oder wird sich unsere Gesellschaft besinnen können und endlich anerkennen, was Schule de facto leistet und was Schule uns allen wert sein sollte? So sehr dies zu wünschen wäre, so wenig dürfte es ernsthaft zu erwarten sein.

Mehr über das Versagen unserer Schulen können Sie in der Titelgeschichte „Der Klassenkampf“ unserer Mai-Ausgabe lesen.

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