Neurochirurgie - Der Kampf gegen den Hirntumor

Auf kaum einem Gebiet der Medizin wurden in den vergangenen Jahrzehnten solche Fortschritte gemacht wie in der Neurochirurgie. Eine Reportage über wahre Wunder

(Julia Zimmermann) Er hat Nerven aus Stahl: Dr. Peter Vajkoczy
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Manchmal träumt er vom Ertrinken.

Dann versinkt er im Schlaf in Strömen von Blut. Tags zuvor hatte er oft mit störrischen Blutungen im Operationsgebiet zu kämpfen gehabt; schier unstillbar quoll der rote Saft, immer wieder, überflutete alles, verwischte die Konturen, verwehrte die Sicht – unter solchen Umständen im Gehirn zu operieren, hat der amerikanische Neurochirurg Donald Quest einmal bemerkt, sei wie „mitten in der Nacht im Regen ein Flugzeug zu landen“.

Wer Peter Vajkoczy beim Operieren zuschaut, hält das noch für untertrieben. Wenn er etwa einen Aneurysmen-Bypass im Kopf legt – sein Spezialgebiet: das Aneurysma, eine gefährliche Aderaussackung, wird mit einem Stückchen Ersatzader umgangen –, dann steht er da, die Augen fest am Okular des OP?Mikroskops, und näht in Gummihandschuhen mit einer 0,7 Millimeter langen Nadel ein winziges, glitschiges Gefäßstück ans andere.

Die Nadel führt er an einer langstieligen Pinzette, denn das Aneurysma liegt tief im Inneren des Gehirns. Der Faden ist so dünn, dass er mit bloßem Auge nicht zu sehen ist. Rund um die Nahtstelle blubbert und pulsiert rosaweißliche Gehirnmasse, vom Monitor um ein Vielfaches vergrößert. Das wirkt nicht wie „Flugzeug im Regen“, sondern eher wie „Uhrenreparatur im Schlamm unter Wasser“ – wobei hier das Wasser nicht durchsichtig, sondern blutrot-opak über das Arbeitsfeld sickert. Das ist atemberaubend. Auch dem Laien wird klar, dass hier eine internationale Koryphäe am Werk sein muss.

„Ach“, winkt er ab, „man sollte das entmystifizieren. Das ist eine Arbeit wie jede andere auch.“ Und in den meisten Nächten schlafe er gut. Die fünf, sechs Stunden pro Nacht, die seine 80-Stunden-Arbeitswoche ihm erlaubt, vergeude er nicht mit Albträumen.

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Hinter ihrem Schlaf lauert der Tod.

Seit Larissa Krüger im vergangenen August auf der Modemesse plötzlich stechende Kopfschmerzen bekam, das Gefühl im linken Arm und im Unterkiefer verlor und schließlich unter Krämpfen in Ohnmacht fiel, hat die 33-jährige Beelitzerin ihr Leben radikal umgekrempelt. Alte Feinde wurden um Versöhnung gebeten, Freundschaften erneuert. Sie isst keinen Zucker mehr, kein Fleisch, keine Weißmehlprodukte, und beim Reiki lässt sie sich Hände auflegen.

Rituale. Magisches Denken. Aber was bleibt dem Menschen, wenn das Böse so machtvoll in ihn eingedrungen ist? Die Diagnose damals war schlimm: Gehirntumor auf der rechten Kopfseite, apfelgroß. Ein Insel-Gliom. Gliome sind aggressive hirn­eigene Geschwulste, die häufig aus dem weißen Stütz- und Nährgewebe für Nervenzellen, der Glia, entstehen.

In der Gehirnregion der „Insel“ gelten sie als fast inoperabel, weil Operationsfehler dort maximale Schäden anrichten können – Lähmungen, Funktionsstörungen aller Art. Auf den CT- und MRT-Scans ihres Kopfes sah man Larissas Tumor als nebliges Gebilde mit Myriaden von fedrigen Tentakeln, die in die dunkelgraue Gehirnmasse ringsumher hineinragten.

Jetzt liegt sie in tiefer Narkose im Operationssaal zwei der Neurochirurgie im Virchow-Klinikum der Charité im Berliner Wedding. Es ist Mittagszeit. Zwei Anästhesisten, zwei OP-Schwestern, ein Pfleger, zwei Assistenzärzte und die Oberärztin Dr. Wibke Jakob, 39, bereiten den Eingriff vor. Zwei japanische Gastärzte, von Kopf bis Fuß steril vermummt wie das OP?Team, schauen zu. Larissas Kopf ist fixiert, ihr Körper bis auf einen schmalen rasierten Streifen an der rechten Stirnseite unter sterilen grünen Tüchern verschwunden.

Dort markiert Dr. Jakob – hellblond, porzellanhäutig, 1,80 Meter groß – mit schwarzem Edding die Schnittführung: Ein Längs-, mehrere Querstriche, „damit wir die Haut hinterher wieder gerade zusammennähen“. Um 14:33 Uhr heißt es: „Schnitt!“ Rasch ist die Stirnhaut zurückgeklappt. Dr. Jakob saugt Blut ab, verödet Blutgefäße, legt den Knochen frei und sägt mit einem surrenden Elektrogerät ein keksgroßes Stück heraus. Es riecht nach verbranntem Fleisch.

Das Knochenteil landet eingewickelt in einer Petrischale. Die Knochenränder werden mit Wachs verklebt. Die harte Hirnhaut unter dem Knochen, die Dura mater, schneidet Dr. Jakob auf und näht sie fest. Auch die weiche Hirnhaut wird geöffnet und beiseitegeschoben. Darunter erscheint, zart pulsierend, das Gehirn selbst: Rosa, wabbelig, von zahlreichen Äderchen durchzogen. Um 15:30 Uhr kann die eigentliche Operation beginnen.

Klamme Minuten während der Operation

Der Chef kommt. Professor Dr. Peter Vajkoczy, 43 Jahre alt, wirkt eher knabenhaft als respekteinflößend. Er ist schmal, hochgewachsen, hübsch, dunkelgelockt. „Wie isset?“, fragt er, während die OP?Schwester ihm in den sterilen blauen OP-Kittel hilft. Alles okay. Auf mehreren Wandbildschirmen sind die Scans aus Larissas Kopf zu sehen.

Ein Computer neben dem OP-Mikroskop zeigt den Tumor rot umrandet. „Das ist eine Art Navi. Mit den Entwicklern des Geräts arbeiten wir hier an der Charité intensiv zusammen. Es hilft uns bei der Orientierung.“ Ein weiterer Computer, von Assistenzärztin Katharina Faust bedient, überwacht die neuromotorischen Signale in Larissas linker Körperhälfte. Da das Gliom rechts sitzt, würden mögliche Bewegungsschäden links auftreten.

Durchs Mikroskop schauend, bahnt sich Vajkoczy nun mit Sauger und Koagulationspinzette den Weg zum Tumor. Zwei Monitore zeigen das Geschehen in Großaufnahme. „Hier rechts“, er weist auf zwei dicke bläuliche Würmer, „das sind die Gefäße, die beim Schlaganfall immer zugehen!“ Alles ist jetzt hochgefährliches Terrain. Denn dies ist schließlich die Kommandozentrale selbst, das Steuerungszentrum, das, was William Shakespeare das „zerbrechliche Gefäß der Seele“ nannte. Was den Menschen erst zum Menschen macht, befindet sich hier.

Allein mehr als 600 Kilometer Adern im Kopf sorgen für ständige optimale Nährstoffversorgung des hochkomplexen Gebildes. Denn obwohl die im Schnitt drei Pfund Gehirn nur 2 Prozent der gesamten Körpermasse ausmachen, verbrauchen sie 20 Prozent des Sauerstoffs und 25 Prozent der Glukose im gesamten Organismus.

100 Milliarden Nervenzellen arbeiten hier, durch 100 Billionen Synapsen miteinander verbunden und ständig parallel rechnend: Etwa 10 hoch 13 analoge Rechenoperationen pro Sekunde schafft das Organ – unendlich viel mehr als die größten heutigen Computer. Jede Bewegung, jeder Gedanke, jedes Gefühl, jedes Wort wird hier generiert. Und wehe, wenn etwa Nervenbahnen vom Gehirn zum Körper beschädigt werden. Die Folgen sind immer schrecklich.

15:55 Uhr. Auf den Monitoren erscheint der Tumor. Grellweiß, irgendwie an Sahnequark erinnernd. „Er ist von festerer Konsistenz. Man kann ihn kaum saugen“, murmelt Vajkoczy. Er legt die Blutgefäße still, die den Tumor durchziehen. Sorgfältig, in Zeitlupengeschwindigkeit, gräbt er die weiße Masse heraus. Es dauert. Es sieht monoton aus. Je kompletter er die Geschwulst entfernen kann, desto besser sind die Heilungschancen. Das Navi zeigt, wo er sich gerade befindet. Ein blutiger Krater von mehr als zehn Zentimetern Tiefe klafft nun in Larissas Kopf. Sie atmet regelmäßig. Die Zeit vergeht.

„Achtung, Chef!“, ruft Assistenzärztin Faust plötzlich, „Arm und Hand nur noch 40 Prozent!“ Es ist kurz nach 17 Uhr. Auf Dr. Fausts Screen sind die neuromotorischen Kurven für Larissas linke Hand und den linken Arm in sich zusammengefallen. Das kann bedeuten, dass ein wichtiges Gefäß verletzt ist. Vajkoczy bleibt kaltblütig. „Jetzt spritzt er ein gefäßerweiterndes Mittel, um einen Infarkt zu verhindern“, erläutert Dr. Faust. „Sein Dilemma ist: Er möchte alles rausnehmen, aber ihr auch kein Defizit machen.“ Um 17:15 Uhr Entwarnung. Hand und Arm haben sich wieder erholt. „Wahrscheinlich war es nur ein Gefäßspasmus.“

Kurz vor sechs Uhr ist die Operation beendet. Das faustgroße Loch, wo das Gliom saß, wird sich mit Nervenwasser füllen. Weiche und harte Hirnhaut werden wieder verschlossen, das Knochenstück eingesetzt.

Markierung auf Markierung näht Dr. Jakob den 15 Zentimeter langen Stirnschnitt wieder zu. Ein kleiner Klumpen des Tumors liegt in einer Petrischale, für die histologische Untersuchung. Der Rest schwimmt mit dem abgesaugten Blut in einem hohen Plexiglasbehälter. Im Aufwachraum kommt Larissa Krüger langsam wieder zu sich.

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Die erste echte neurochirurgische Operation der Geschichte fand am 25. November 1884 in London statt. Im National Hospital for the Paralysed and Epileptic entfernten Sir Rickman John Godlee und A. Hughes Bennett einen Tumor aus dem Gehirn eines 25-jährigen schottischen Bauern. Der Patient überlebte sogar über einen Monat, starb dann aber an einer Gehirnhautentzündung. Zuvor hatte es zwar schon jahrtausendelang Schädelöffnungen, sogenannte Trepanationen, gegeben.

Und in einem 5000 Jahre alten ägyptischen Papyrus waren diverse Gehirnerkrankungen korrekt beschrieben worden. Aber einen direkten chirurgischen Eingriff im Kopf hatte vor den beiden Briten noch niemand gewagt. Je mehr man nun von den Strukturen und der Topografie des Gehirns verstand, desto mutiger ging man ans Werk.

In London, Berlin, Wien, Boston und New York sägten Ärzte Schädel auf und suchten, anfangs mit dem bloßen Finger, unter dem Knochen nach Tumoren. Sie operierten Epileptiker, Gelähmte, Nervenschmerzgeplagte – bei schlechter Beleuchtung, ohne Mikroskop, in Kaskaden von Blut. Die Überlebensrate während dieser Prozeduren lag bei 10 Prozent. Nebenbei verbrauchten die neurochirurgischen Pioniere Hekatomben von Versuchstieren, an denen sie forschten oder ihre Operationsmethoden verfeinerten.

Die meisten waren Fanatiker, obsessiv Getriebene. Erst der Amerikaner Harvey Cushing (1869-1939) stellte das neue Fachgebiet auf eine solide chirurgische und wissenschaftliche Basis. Ein Besessener allerdings war er auch. Für seine Assistenten am Peter Bent Brigham Hospital in Boston soll die Arbeit mit ihm die Hölle gewesen sein: Im OP pflegte er wüst herumzuschreien und sie permanent zu beleidigen.

Cushing klassifizierte und beschrieb die verschiedenen Arten von Gehirntumoren. Er führte das Narkoseprotokoll zur obligatorischen Kontrolle lebenswichtiger Funktionen und die routinemäßige Blutdruckmessung während der Operation ein. Er verwendete bereits in den neunziger Jahren des 19. Jahrhunderts Röntgenstrahlen für die medizinische Diagnostik und erfand die Elektrokauterisation zur Blutstillung während der OP.

Und vor allem senkte er die Sterblichkeit bei seinen neurochirurgischen Eingriffen von vorher 90 auf 6 Prozent ab. Am Ende seiner Laufbahn blickte er auf mehr als 2000 erfolgreiche Gehirntumoroperationen zurück.

Der lange Tag des Chefarztes Peter Vajkoczy.

Heute ist die Neurochirurgie ein hochangesehenes Fach innerhalb der Spezialchirurgie. „Der Mann fürs Feine“, titelten Berliner Zeitungen, als Peter Vajkoczy im Mai 2007 als jüngster Chefarzt – und jüngster Professor für Neurochirurgie in Deutschland – die Leitung der neurochirurgischen Kliniken in der Charité übernahm.

Vajkoczy kam aus Mannheim, wo er 15 Jahre lang bei seinem Mentor Peter Schmiedek das Handwerk gelernt hatte. Der Ruf des Genies eilte ihm voraus. Deshalb war die chronisch klamme Charité bereit, ihm mehr Stellen, einen großzügigen Etat für modernste medizinische Apparaturen und ein eigenes Forschungslabor zu bewilligen.

Dort arbeiten jetzt 25 Wissenschaftler. Auf seinen zwei Stationen mit insgesamt 100 Betten und sechs OP-Sälen unterstehen ihm zwölf Oberärzte und 24 Assistenten. Er selbst führt dort mehr als 700 Operationen im Jahr durch – fünf, sechs am Tag.

Der Tag, an dem Larissa Krüger operiert wurde, sah so aus: Morgens um sechs Uhr hat er sich mit den Forschern im Labor auf dem Campus Mitte getroffen, um das Arbeitsprogramm durchzusprechen. Das steht alle 14 Tage um diese mörderische Zeit auf dem Programm. „Der Termin ist günstig, denn dann sind die Wissenschaftler meist noch im Labor und die Kliniker noch nicht im OP.“

Die Verzahnung von Labor und Klinik liegt ihm enorm am Herzen, weil „wir Neurochirurgen ohne die wissenschaftliche Arbeit zu bloßen Handlangern der Neurowissenschaften werden würden“. „Die junge Generation setzt auf Forschung“, sagt er, „um im akademischen Feld mithalten zu können. Außerdem werden neue Erkenntnisse aus anderen Fachgebieten, etwa der Molekularbiologie oder der Genetik, immer relevanter für uns. Forschung kann heute nur noch interdisziplinär, in großen Teams funktionieren. Und aus der Klinik ergeben sich viele Fragestellungen, mit denen wir uns hier forschend beschäftigen können.“

Drei Arbeitsgruppen, im Labor lässig die „Stroke-Leute“, die „Tumor-Leute“ und die „Blood-Leute“ genannt, gehen hier Rätseln auf den Grund wie: Warum erholt sich das Gehirn nach Schlaganfällen nicht? Welche Rolle spielt das Immunsystem dabei? Und wie kann man Tumorwachstum regulieren? Es ist ein sehr junges, sehr fröhliches und sehr internationales Team, das hier in drei Acht-Stunden-Schichten rund um die Uhr Grundlagenforschung betreibt.

Die Doktoranden und Gastärzte kommen aus China, Japan, Pakistan, Polen, Peru, Kamerun, Mexiko, Finnland, der Schweiz, Russland und Spanien. Der Kameruner Etienne etwa, aus ärmlichsten Verhältnissen stammend, hatte einst im Wettbewerb unter 10?000 Mitbewerbern einen von 80 Medizinstudienplätzen an der Uni von Yaoundé ergattert.

Jetzt erforscht der 32-Jährige in Berlin an lebenden Mäusen, denen ein Schädeldach aus Plexiglas eingepflanzt wurde, wie Immunzellen in das Gehirn einwandern. Vajkoczy berät, behält den Gesamtüberblick, schafft Drittmittel heran: Pro Jahr werden an die 700?000 Euro benötigt.

Vom Labor eilt der Professor ins Virchow-Klinikum. Morgenbesprechung mit dem Team, dann ab acht Uhr OP. Der erste Patient an diesem Morgen ist Joachim Poß, 63, Bundestagsabgeordneter der SPD. Der Mann mit dem grauen Bürstenhaarschnitt leidet seit Jahren unter starken Schmerzen in der rechten Gesichtshälfte, die „vor ein paar Wochen zum Dauerschmerz mutierten“. Das Sprechen fällt ihm schwer.

Die Scans haben ergeben, dass im Gehirn hinter seinem rechten Ohr ein Gefäß an der Austrittsstelle seines Trigeminusnervs reibt; es ist schon eine richtige Delle zu sehen.

„Da machen wir einen Teflonschal drum“, sagt Vajkoczy. Durch ein Loch, so groß wie ein Zwei-Euro-Stück, legt er den Nerv frei. Mit der Pinzette umwickelt er ihn mit winzigen weißen Teflonfasern. Die Öffnung wird mit hellgrünem Knochenzement verschlossen. Um 9:10 Uhr rollt der Pfleger Poß aus dem OP. Eine Woche später wird er erleichtert feststellen, dass der Schmerz tatsächlich verschwunden ist.

Ein VIP-Patient bringt die ganze Station durcheinander.

Weiter geht’s mit dem Polizisten Andreas F., der eine künstliche Bandscheibe an der Halswirbelsäule eingesetzt bekommt. Vajkoczy operiert von vorn, durch einen Fünf-Zentimeter-Schnitt über dem rechten Schlüsselbein. Im Nachbar-OP wartet Andreas B., 43, Hypophysentumor. Die erbsengroße Hypophyse produziert unter anderem auch Wachstumshormon. Ist sie krank, führt das zu Gigantismus. ­Andreas B. ist 2,03 Meter groß, arbeitet als Türsteher in einem Berliner Nachtclub.

Der Tumor ist nur millimetergroß. Er wird durch die Nase entfernt. Dann ein Notfall: Oleksandr K. aus Dnipropetrowsk in der Ukraine hat sich hier schon im Oktober von Vajkoczy einen großen Tumor, ein Glioblastom, herausoperieren lassen. 20.000 Euro hat ihn die Operation in der Charité gekostet. Freunde haben dem IT?Spezialisten Geld dafür gespendet. Jetzt ist der 39-Jährige wieder da: Der Tumor kam zurück.

In den vergangenen zwei Wochen ist er explosiv gewachsen, auf Pampelmusengröße. „Leider liegt die Überlebensrate bei diesen aggressiven Tumoren nicht höher als ein, anderthalb Jahre“, sagt Vajkoczy. Fast zwei Stunden dauert es, bis die neue weiße Riesenwucherung aus dem rechten Seitenlappen herausgestanzt und -gesogen ist.

Nach diesen morgendlichen Operationen schwingt der Professor sich in seinen alten Opel Corsa und fährt quer durch die Stadt nach Neukölln, wo ein von ihm mitveranstalteter Kongress über Neuro-Intensivmedizin beginnt. Pressekonferenz, dann eilends wieder zurück. Denn nun wartet im Virchow ein VIP?Patient: Der Präsident eines großen südlichen Landes. Er leidet unter einer Wirbelsäulendegeneration, hat Lähmungserscheinungen. Seit Tagen schon hat seine Entourage den Ablauf der Station durcheinandergebracht.

Ständige Anrufe. „Der Präsident lässt fragen, wann er einen Wagen schicken kann, damit Sie zu ihm ins Adlon kommen?“ – „Der Präsident lässt fragen, wann er operiert wird?“ Das Staatsoberhaupt ist mit Leibarzt, Leibgarde, einem Neurochirurgen aus Washington und reichlich Personal angereist.

Jetzt wird er also im Terminplan dazwischengeschoben: Rund um den OP-Saal eins stehen Securityleute in blauen Chirurgenkitteln, ein ganzer Bettensaal ist abgesperrt worden. Nur ein rascher Blick durchs OP-Fenster lässt sich erhaschen: Auf dem OP-Tisch liegt bäuchlings ein fülliger Mann.

Vajkoczy pendelt zwischen OP eins und OP zwei, wo Larissa Krüger wartet, hin und her. Mittagessen? Keine Zeit. „Zwischendurch eine Brezel“, so sieht sein Lunch üblicherweise aus. Gestern erst ist ihm bei einer Wirbelsäulenoperation wie der des Präsidenten ein Malheur passiert. Gerade hatte er erläutert, dass „die lästigste Komplikation ist, wenn wir die Dura anritzen und Nervenwasser ausläuft“ – da, „Oops!“, reißt die Dura auf.

Er bleibt äußerlich ruhig. Nur ein gelegentliches „Mann, eh!“ verrät seine Anspannung. „Mann, eh, der Sauger saugt nich mehr!“ „Mann, eh, ich seh nix!“ Mit dünnstem Faden näht er das Loch wieder zu. „Wenn wir das jetzt ordentlich machen, ersparen wir ihm vier Wochen Qualen.“ Es dauert ewig.

„Er ist wahnsinnig nervenstark“, sagt Oberärztin Wibke Jakob hinterher über ihren Chef. „Und wenn er jemanden beschimpft, dann meistens sich selbst.“

Nachmittags gegen vier sind alle Operationen des Tages gemacht, alle Patienten, inklusive des Präsidenten, wohlauf. Jetzt kann die Schreibtischarbeit erledigt werden. Briefe, E?Mails, Unterschriften. Ein amtliches Dokument entpuppt sich als Anklageschrift. „Ah, zur Abwechslung mal nicht gegen mich.“ Das habe sehr zugenommen, erzählt Vajkoczy. „Geklagt wird wegen allem und jedem. Es gibt wohl viele unterbeschäftigte Anwälte in Deutschland.“

Nächster Programmpunkt: drei Stunden lang Patientensprechstunde. Eine lange Prozession, vom Ehepaar aus dem deutschen Hochadel bis zur Thüringer Marktfrau und dem türkischen Gemüsehändler, breitet Krankenschicksale aus und diskutiert Diagnosen. Das meiste ist erschütternd. Vajkoczy ist konzentriert, mitfühlend, ehrlich, tröstlich.

Eine junge schwangere Polin etwa, mit Ehemann und Dolmetscher angereist, hat einen Tumor in der oberen Brustwirbelsäule. „Sie müssen jetzt entscheiden, ob Sie die Schwangerschaft austragen oder die OP machen lassen wollen“, erläutert er der schmalen Frau. Er rät zur OP. Die Chancen, dass der Tumor gutartig sei, stünden 50 zu 50.

Bei dem Türken ist ein Glioblastom zurückgekehrt. Seine ganze Familie, die bei dem Gespräch dabei ist, möchte, dass er sich noch einmal operieren lässt. „Vielleicht besser nix machen?“, fragt er zögerlich. Er kann kaum noch sprechen. „Sie sehen noch sehr jung aus. Trauen Sie sich diese Operation überhaupt zu?“, will die adelige Dame wissen.

Die Marktfrau bringt lautstark ihre Wut darüber zum Ausdruck, dass ein Neurologe in der Krankenakte ihrer mausigen Tochter etwas von psychischen Auffälligkeiten geschrieben hat. „Se hat doch keen an der Waffel, Herr Professor! Ändern se das!“ Seine Trigeminus-Operation sei aber doch okay gewesen, fragt Vajkoczy freundlich nach. „Ja, 100 Mal, 1000 Mal danke, Herr Professor!“ Zum Abschied kramt sie ihre Fremdsprachenkenntnisse hervor: „Viszontlátasra, Herr Professor!“

Vajkoczy grinst. Seine Eltern waren Ungarn aus Budapest, seine Vorfahren eine Melange aus Donauschwaben und ungarischem Adel. Aber er selbst spricht die Sprache kaum noch. Er ist in München geboren. Dahin war sein Vater, ein Thoraxchirurg, 1967 emigriert.

Gegen 20 Uhr sieht er noch einmal nach den frisch Operierten. Dann verlässt er die Klinik und fährt nach Schmargendorf. Hier wohnt Familie Vajkoczy in einer elegant restaurierten Villa aus den dreißiger Jahren. Die Töchter Theresia, 6, und Elisabeth, 2, schlafen schon.

Warum Demut in diesem Beruf das Wichtigste ist

Warum wird man Neurochirurg? Als Junge habe er Tennisprofi werden wollen, sagt Peter Vajkoczy. Er habe hart trainiert, einmal sogar im selben Turnier wie die kleine Steffi Graf gespielt; aber er sei „einfach nicht gut genug“ gewesen. Ein Glück, denkt man. Was für eine Talentvergeudung, wenn dieser Mann nur Tennisspielen gelernt hätte.

Nach dem Medizinstudium in München und der Dissertation über Transplantationen habe bei der Entscheidung für die Neurochirurgie letztlich sein „Ersatzvater“ Professor Peter Schmiedek den Ausschlag gegeben. Fachlich wie menschlich überragend sei der gewesen, sein großes Vorbild. „Er war auch besessen von seiner Arbeit. Und ich glaube ganz ernsthaft, diesen Job kann man nur machen, wenn man davon besessen ist. Wer sich nur durchquält, wird entweder unglücklich oder er scheitert.“

„Er verlangt enorm viel von seinem Team“, sagt seine Oberärztin Wibke Jakob, „aber das geht in Ordnung, denn von sich selbst verlangt er am meisten. Wir alle brennen hier für das, was wir machen. Auch wenn es, ehrlich gesagt, sehr schlecht bezahlt wird.“

Leistungssport in der Jugend, findet Vajkoczy, sei für eine solche Tätigkeit eine gute Grundlage. „Die Disziplin und das unbedingte Wollen, das kriegt man da gut beigebracht. Und man lernt, sich für seine Ziele zu quälen. Außerdem profitiert man von der Fitness.“

Eine „Ausnahmefigur“ sei sein Zögling ganz sicher, sagt Peter Schmiedek, inzwischen 68 und pensioniert, am Telefon. „Extrem fleißig, begabt, fokussiert. Und die Anforderungen sind ja gewaltig: Man muss fingerfertig sein, physisch ausdauernd, mitfühlend, man muss einen Stall von Mitarbeitern führen können, ein starkes Ego haben und bereit sein, Opfer zu bringen. Er kann das. Es war ein Spaß, ihn 15 Jahre lang auszubilden.“

Aber er grummelt auch in den Hörer: „Warum schicken Sie ihn nicht gleich ins Dschungelcamp? Ich habe keine Lust, ihn jetzt alle 14 Tage in der Bunten zu sehen!“

Demut, Demut – das war Schmiedeks Mantra. Vajkoczy hat es übernommen. „Sonst heben Sie ab. Wenn etwas Schwieriges gut gelungen ist, halten Sie sich für den Allergrößten. Aber am nächsten Tag kann wieder alles schiefgehen. Da gehen Sie dann ganz klein mit Hut nach Hause.“

Wie einst römische Liktoren hinter dem triumphierenden Feldherrn herliefen und ihm ständig ins Ohr flüsterten: „Respice post te, hominem te esse memento! – Sieh hinter dich und erinnere dich daran, dass du ein Mensch bist!“, so sorgt das Schmiedek-trainierte Über-Ich für Bodenhaftung.

Und Gott, zu dem der Katholik Vajkoczy durchaus eine Beziehung pflegt: „Man muss schließlich eine Instanz haben, bei der man sich bedanken kann.“

Von den hierarchischen Zuständen, die unter früheren Ordinarien herrschten, ist die Neurochirurgie der Charité jedenfalls weit entfernt. Das Team, das hier arbeitet, ist jung, enthusiastisch, leistungsbereit und handverlesen; die Türen stehen offen.

Status scheint eine eher geringe Rolle zu spielen. „Das ist wohl eine Generationenfrage“, hat Vajkoczys Ehefrau Susanne, eine Anästhesistin, beobachtet. „Die 40-Jährigen verhalten sich relaxter, kumpelhafter als die Alten. Sie konkurrieren zwar wissenschaftlich, aber sie sind trotzdem alle miteinander befreundet.“

Der emeritierte Ordinarius Schmiedek hat sein Können weltweit zur Verfügung gestellt. Aufenthalte in Afghanistan, Kuwait, Ecuador und zuletzt für acht Monate im Jemen haben ihn zu der Überzeugung gebracht, dass die Neurochirurgie „eine absolute Luxusdisziplin“ ist. „Ich war da überflüssig. Die Dritte Welt hat ganz andere Sorgen. Außerdem ist die große Zeit der Chirurgie sowieso vorbei. Die Medizin ändert sich rasant. Das Handwerkliche ist nicht mehr so gefragt.“

Neurochirurg Vajkoczy findet das überhaupt nicht. „Sicher wird das Fach komplexer, interdisziplinärer. Aber Tumore wird es immer geben. Und wer sagt denn, dass wir nicht eines Tages auch Alzheimer operieren können? Etwa mit Zell-Transplantationen, oder mit im Labor modifizierten Makrophagen, die die Plaques fressen? Es gibt so vieles, was wir noch nicht wissen. Wir arbeiten daran. Die Neurochirurgie hat ihre Zukunft noch vor sich.“

***

Larissa Krügers Tumor hat sich als bösartig entpuppt. Aber sie kann laufen, Arm und Hand bewegen, sprechen, Pläne machen. Wenn die Bestrahlung in einem Jahr vorbei ist, dann, sagt sie, „wollen wir ein Kind haben“.

Bilder: Julia Zimmermann

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