Demokratie - Welt aus Glas

Kolumne: Morgens um halb sechs. Demokratie, Musik und Glas haben eine ähnlich zerbrechliche Geschichte. Das Spektrum der Klänge reicht von komplexer Polyphonie bis hinein in einen stechenden Scherbenhaufen. Nicht jeder hat das Fingerspitzengefühl, Gläser zum Klingen zu bringen

Die Reichtstagskuppel in Berlin aus der Innensicht / picture alliance
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Autoreninfo

Sabine Bergk ist Schriftstellerin. Sie studierte Lettres Modernes in Orléans, Theater- und Wirtschaftswissenschaften in Berlin sowie am Lee Strasberg Institute in New York. Ihr Prosadebüt „Gilsbrod“ erschien 2012 im Dittrich Verlag, 2014 „Ichi oder der Traum vom Roman“.

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Auf einer Brücke der Berliner Museumsinsel steht dann und wann ein Glasharfenspieler. Er steht dort und lässt die Gläser singen und ist selbst ganz stumm. Passanten werfen ihm Geldstücke zu, Kinder bleiben staunend vor ihm stehen. Während er spielt, fallen Regentropfen in die Gläser und klingen mit. Sie fallen vom Himmel direkt auf seinen Handrücken, rinnen über die Fingerspitzen, rutschen an den Rand und perlen ab.

Der Mann hat nicht viel. Einen ausgewaschenen Anzug, einen Klapptisch und einen festen Stehplatz an der Spree. Morgens baut er die Glasharfe auf, abends räumt er sie zusammen. Bricht ein Glas, ist es wie ein Atemstillstand. Etwas zuckt kurz, als ginge einer davon.

Es ist nicht einfach, einen ausgewogenen Klang hinzubekommen. An manchen Tagen schreien ihn die Gläser regelrecht an. Sind sie träge, stupst er sie an, sind sie aufgebracht, beruhigt er sie mit einem Fingerstrich. Zuviel Druck lässt die Gläser scharf klingen. Zu wenig Druck erzeugt einen fahlen Klang. Jeder Tag mit der Glasharfe gleicht einem Balanceakt. Wird die Mitte zu matt, gewinnen die Extreme. Übernehmen Extreme die Mitte, stirbt der Zusammenklang.

Der Klang der Demokratie

Einen Spreeweg entfernt, unter der gläsernen Kuppel, geht es ähnlich zu. Stimmenvielfalt prägt das tägliche Geschehen. Während der Mann auf der Museumsinsel bei jedem Wetter mit den Fingerkuppen Klänge ertastet, entsteht unter der gläsernen Kuppel des Reichstags der tägliche Balanceakt Politik. Unter der Kuppel teilen sich Stimmen und schließen sich zusammen, wettern gegeneinander, halten zueinander und drehen sich blitzschnell ins Gegenteil. Dabei sind sie geschützt, modernste Technik sorgt für sanftes Tageslicht und optimale Luftzufuhr.

Dass die Demokratie wie ein vielstimmig klingendes Glas sein kann und unter einer schützenden Kuppel bewahrt wird, ist nach wie vor ein hoffnungsvolles architektonisches Zeichen. Zerbrechlich ist das Gefüge der Stimmen. Herrscht im Saal ein gegenseitiges Hauen und Stechen oder kann eine vielstimmige Harmonie erklingen?

Das Glasharmonikafieber

Musik, Politik und Glas haben eine gemeinsame zerbrechliche Geschichte. Einer der Gründerväter der amerikanischen Verfassung, Benjamin Franklin, erfand 1761 neben einem nichtrußenden Ofen und dem Blitzableiter auch die große Schwester der Glasharfe – die Glasharmonika. Er nannte sie schlicht „Harmonika“. Franklin hatte den verrückten Iren Richard Pockrich als Wegbereiter, der neben einer Gänsezucht und einer pleite gegangenen Brauerei zwei Mal erfolglos für das Parlament kandidierte und 1741, während er an einem Patent für unsinkbare eiserne Schiffe arbeitete, die „Angelic Glasses“ erfand. Richard Pockrich unterrichtete das Spiel auf Gläsern und hatte viele Nachahmer, unter anderem Christoph Willibald Gluck, der 1745 eine Komposition für 26 wasserabgestimmte Gläser im Londoner Little Haymarket Theatre uraufführte. Mit Glucks Komposition reisten die singenden Gläser bis an den Kopenhagener Königshof.

Komponisten und Virtuosen wurden im 18. Jahrhundert vom Glasharmonikafieber erfasst. Mozart war von der Glasharmonika sofort begeistert und hätte sich das Instrument am liebsten gekauft, konnte es sich jedoch nicht leisten. Sein letztes Kammermusikwerk schrieb er für Glasharmonika. Beethoven soll sich am Bleigehalt einer Glasharmonika vergiftet haben. Der Wiener Arzt Anton Mesmer nutzte das Instrument für seine berüchtigten hypnotischen Sitzungen. Benjamin Franklin wiederum hörte Mesmers Spiel in Paris, lehnte jedoch dessen Lehren ab, während George Washington Mesmer Anerkennung zusprach. Die Glasharmonikawelt war klein und kannte sich.

Nach dem 18. Jahrhundert verschwand die Glasharmonika für ein Jahrhundert. Sie war zu leise für die großen romantischen Orchesterapparate. Erst das 20. Jahrhundert entdeckte sie wieder. Von Carl Orff und Richard Strauss bis zu Hans Werner Henze und Karlheinz Stockhausen, im 21. Jahrhundert von Arvo Pärt bis zu Jörg Widmann, schrieben zahlreiche zeitgenössische Komponisten Werke für Glasharmonika.

Mut zur Virtuosität jenseits professioneller Politik

Dass sich Politiker und Musiker heutzutage noch anlässlich eines Musikinstruments treffen und sich etwa über eigene Spielerfahrungen austauschen, klingt unvorstellbar. Während für die Spieltheorie Nobelpreise verliehen werden, rückt das gemeinsame Spielen in den Hintergrund. Alles Handeln ist auf persönliche Vorteile ausgerichtet. Spielerische Herangehensweisen, Neugier und Erfindergeist gehen in einer rein realpolitisch geprägten Atmosphäre unter. Überhaupt gibt es nur wenige Politiker, die ein Instrument spielen können. Emmanuel Macron gehört zu ihnen.

Politik, Musik und Glas haben immer wieder eine gemeinsame Geschichte. Nicht jeder hat das Fingerspitzengefühl, Gläser zum Klingen zu bringen. Dann und wann hilft vielleicht ein Spaziergang an der Spree. An der Brücke zur Museumsinsel steht gelegentlich ein Mann mit Klapptisch und ein paar Gläsern.

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