Debatte um BDS - Meinungsfreiheit mit doppelten Standards

Das Plädoyer der „Initiative GG 5.3 Weltoffenheit“, das eine Gefährdung der Meinungsfreiheit durch den Bundestagsbeschluss zum BDS sieht, hat heftige Kontroversen ausgelöst. In einem Gastbeitrag widerspricht der Dramaturg und Autor Bernd Stegemann den namhaften Unterzeichnern der Initiative und stellt zugleich die Frage, wer hier eigentlich wen cancelt.

Pro-Israelische Demonstrationen während der Ruhr-Triennale 2018 / dpa
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Die Erklärung „GG 5.3 Weltoffenheit“ hat inzwischen einen Sturm in der deutschen Kulturlandschaft ausgelöst. Was ist passiert? Die Intendanten hochsubventionierter Kulturinstitutionen beschweren sich darin, dass sie in ihrer Meinungsfreiheit durch einen Bundestagsbeschluss eingeschränkt seien. In diesem Beschluss, den nachzulesen lohnt,  wird sachlich aufgelistet, dass antisemitische Organisationen wie der BDS (Boycott, Divestment, Sanctions) keine Steuergelder erhalten sollen und auch keine Veranstaltungen in Räumen machen dürfen, die der Bundestagsverwaltung unterstehen. Der Antrag wurde von der breiten Mehrheit des Parlaments mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD, Grünen und der FDP beschlossen. 

Die Unterzeichner der Resolution GG 5.3 fühlen sich durch diesen demokratischen Beschluss empfindlich in ihrer Meinungsfreiheit eingeschränkt. In dieser gewagten Interpretation des Bundestagsbeschlusses liegen zwei entlarvende Widersprüche verborgen. Der eine betrifft das Verständnis, das die Kultureinrichtungen gegenüber der Meinungsfreiheit haben. Und der zweite betrifft den blinden Fleck ihres Kampfes. Beginnen wir mit dem ersten Widerspruch. Die Kulturinstitutionen und ihre zahlreichen Unterstützer im Feuilleton vertreten einen Doppelstandard der Meinungsfreiheit. An einem harmlose Beispiel lässt sich die Wucht ihrer Doppelmoral zeigen. Vor einigen Wochen wagte es ein Musikredakteure der Süddeutschen Zeitung, sich in einem polemischen Text über den Twitter-Moralismus des Pianisten Igor Levit lustig zu machen. 

Ein antisemitischer Sonnenuntergang

Die Druckerschwärze war noch nicht getrocknet, als der Autor dafür deutschlandweit als Antisemit beschimpft wurde. Wer vorher nicht gewusst hatte, dass Igor Levit Jude ist, wäre erstaunt gewesen, denn diese Tatsache spielte in dem Text keine Rolle. Doch mit größter Selbstverständlichkeit sollte ein Journalist als Antisemit gebrandmarkt und damit aus dem Kreis derjenigen, die in der SZ veröffentlichen dürfen, hinausgeworfen werden.

Die Begründungen für seinen angeblichen Antisemitismus blieben zwar dürftig und mussten über seltsame Umwege hergeleitet werden, doch die Zeitung nahm die Beschuldigungen ernst und bat den Pianisten in einem reumütigen Text um Entschuldigung. Der um keine Polemik verlegene Maxim Biller sah sich daraufhin bemüßigt, seinem Freund Igor Levit sanft zu erklären, dass in dem Artikel eben soviel Antisemitismus stecke wie in einem Sonnenuntergang, nämlich gar keiner. Im Kontext solcher alltäglichen Debatten ist die Unterstellung des Aufrufs, dass durch den Bundestagsbeschluss ein missbräuchlicher Umgang mit dem Antisemitismusvorwurf befördert würde, besonders absurd. 

Jede Differenzierung weicht die Front der Guten auf

Dieser Fall zeigt hingegen, dass in Deutschland oft und gerne der Antisemitismusvorwurf gemacht wird. Und nicht immer muss er auch zutreffen. Umso erstaunlicher ist es, dass dasselbe Milieu für den Umgang mit dem BDS, der unverhohlen das Ziel verfolgt, den Staat Israel zu schädigen, um ihn abzuschaffen, jetzt so viel Langmut predigt. Der Kampf für Meinungs- und Kunstfreiheit scheint in diesem Teil des wohlmeinenden Kulturbetriebs an der Grenze des eigenen Geschmacks und der eigenen Weltanschauung zu enden.

Geht es um Feuilletondebatten oder beispielsweise die Frage nach Auftritten für AfD-Politiker oder um Kritiker des Islam, wird mit voller Überzeugung der Kampf gegen die böse Meinung ausgerufen. Hier ist man sich plötzlich ganz einig, dass man diesen Stimmen den öffentlichen Auftritt verweigern muss. Und jede Differenzierung dient nur der Aufweichung der Front der Guten. 

Zweierlei Maß

Doch geht es um den BDS, werden die großen Ideale der Toleranz beschworen. Ein einziges Zitat aus den zahlreichen Verteidigungsschriften, die gerade überall erscheinen, ist exemplarisch dafür: „Ist es wirklich so schwer zu verstehen, dass man gegen eine politische Haltung sein kann und trotzdem für das Recht dieser Person einsteht, sich zu äußern?“  

So fragt mit gespielter Naivität die Direktorin des Zentrums für Antisemitismusforschung der TU Berlin. Ich möchte ihr direkt antworten: Nein, es ist nicht schwer zu verstehen. Es ist nur auffällig, dass die Institutionen, die sonst keine Schwierigkeiten damit haben, unliebsame Meinungen auszuschließen, gerade in diesem Fall auf eine Voltairesche Toleranz verweisen. Entlarvend haben ihre eigenen Studierenden sogleich eine Protestnote gegen ihre Direktorin verfasst, in der sie ausführlich auf die einseitige Tendenz der Lehrangebote verweisen. 

Haben die Kritiker ihre Institutionen gefragt?  

Es fehlen ihnen vor allem kritische Auseinandersetzungen mit dem islamischen Antisemitismus. So stellt sich bei diesem Aufruf auch die Frage, in wessen Namen die Unterzeichner sprechen. Haben die Intendanten der großen Kultureinrichtungen zuvor eine interne Diskussion darüber geführt, und wurde darüber abgestimmt, oder haben sie, wie offensichtlich die Direktorin des Instituts der TU Berlin, alleine gehandelt und ihre Institutionen ungefragt mit hineingezogen? Was hat beispielsweise der Stiftungsrat des Humboldt Forums dazu gesagt, in dem auch die Kulturstaatsministerin sitzt, die den Bundestagsbeschluss aus Überzeugung gut heißt? 

Der blinde Fleck

Und damit kommt man zum zweiten Widerspruch. Doppelmoral produziert hartnäckige blinde Flecken, und dass keiner der vielen honorigen Unterzeichner den blinden Fleck des Aufrufs bemerkt, führt zur Ausgangsfrage zurück. Wie lässt sich die gemeinsame Front gegen den Bundestagsbeschluss erklären?

Oder anders gefragt: Woher kommt die Inbrunst, mit der man für die Freiheit kämpft, Israel in jeder denkbaren Form kritisieren zu dürfen, während man in allen anderen Bereichen wenig Probleme damit hat, unliebsame Meinungen auszuschließen oder ihren Ausschluss fordern zu dürfen? Diese Frage können die Unterzeichner des Aufrufs wohl nur selbst beantworten. Und ich hoffe, dass diese Diskussion dazu genutzt wird, etwas breiter über die Meinungskorridore in der deutschen Kultur nachzudenken, als es bisher der Fall ist. 

Keine Reflexion der Doppelmoral 

Was ich hingegen als Beleidigung des logischen Denkens empfinde, sind alle diejenigen, die es ablehnen, über Cancel Culture zu sprechen, weil es sie angeblich gar nicht gibt, und die nun dem Bundestag vorwerfen, er würde Cancel Culture betreiben. Dass die Unterzeichner ihre eigene Doppelmoral nicht reflektieren, stellt die eine Seite des Ärgernisses dar. Dass sie sich aber über die grundlegenden Unterschiede zwischen einem Israel-Boykott und beispielsweise dem Artikel eines Musikjournalisten nicht im Klaren sind, ist brisant. 

Und damit ist man bei der Interpretation der Erklärung. Wie soll man ein vehementes Eintreten für den BDS verstehen, wenn er von einer Seite kommt, die sich sonst durch eine anti-Voltairesche Intoleranz auszeichnet? Wo sind die Veranstaltungen, bei denen mit der gleichen Inbrunst der Iran, Saudi Arabien oder Ägypten kritisiert werden?

Der BDS setzt Veranstalter unter Druck 

Warum meinen die Unterzeichner, dass es einen Mangel an scharfer Israel-Kritik in der Welt oder gar in Deutschland gebe, der dringend ausgeglichen werden muss? Warum bedienen sie damit das antisemitische Vorurteil, dass man alle kritisieren dürfe, nur nicht die Juden? Ich bin ein überzeugter Vertreter der Meinungsfreiheit, doch gerade der Bundestagsbeschluss ist kein Beispiel für Cancel Culture. Denn wenn der Begriff irgendeinen Sinn machen soll, dann meint er einen Ausschluss, der von einzelnen Aktivisten gefordert wird und dem sich dann eine Institution unterwirft.

Der BDS praktiziert erfolgreich diese Technik. Er setzt durch eine Empörungswelle Veranstalter unter Druck, diejenigen auszuladen, die sich nicht von Israel distanzieren wollen. Der postkoloniale Theoretiker Achille Mbembe praktizierte genau diese Cancel Culture, als er auf einer Tagung in Südafrika eine Rednerin auslud, nur weil sie einen israelischen Pass hatte. Im Kern verfolgt der BDS dabei eine alternative Geschichtserzählung. Israel soll nicht mehr die Folge des Holocaust sein, sondern eine Kolonialmacht, die das Land der Palästinenser besetzt hält. 

Das Existenzrecht Israels ist unverhandelbar

Der Beschluss des Bundestages lehnt diese Umdeutung der Geschichte kategorisch ab. Er ist sowohl in seinem demokratischen Verfahren als auch in seinen Empfehlungen das genaue Gegenteil zu den Cancel-Aktionen des BDS. Er stellt hingegen fest, dass das Existenzrecht Israels für die Bundesrepublik unverhandelbar ist. Aus diesem Grund sollen Steuergelder nicht für Veranstaltungen verwendet werden dürfen, auf denen die Existenz Israels bekämpft wird. Und der Beschluss ist eine Empfehlung und kein Gesetz, das heißt jeder ist frei, ihm zu folgen oder ihn zu ignorieren. 

Dass nun diese Klarstellung der Rechtsform des Beschlusses von den Initiatoren des GG 5.3-Aufrufs als ihr Erfolg gefeiert wird, verkehrt die Wahrheit. Der Beschluss war immer schon eine Empfehlung, und daran hat sich auch jetzt nichts geändert. Es stellt sich darum umgekehrt die Frage, warum die Institutionen so ein großes Problem mit dieser Empfehlung haben. So landet man wieder bei der Ausgangsfrage, warum für die Vertreter der Hochkultur der Unterschied zwischen dem BDS und anderen Meinungen so schwer zu verstehen ist. Wenn sie sich an dieser Stelle weiter dumm stellen und eine abstrakte Meinungsfreiheit einfordern, die sie im konkreten Fall selbst oft genug nicht gewähren, so muss man sie immer wieder auf diesen Widerspruch hinweisen. 

Mut zur Selbstbefragung

Über ihre Antriebe, warum sie gerade bei Israel keine Grenzen der Kritik akzeptieren wollen, müssen sie sich hingegen selbst Rechenschaft ablegen. Aber wenn sie nicht wollen, dass diese Einseitigkeit Anlass zu Spekulationen gibt, wäre eine öffentliche Selbstbefragung ratsamer als das Wehklagen darüber, dass man sich gerade bei der Israel-Kritik in seiner Meinungsfreiheit eingeschränkt fühlt. 

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