Das politische Buch - Jens Spahn über Gabor Steingarts „Weltbeben“

Der Journalist Gabor Steingart zeichnet in seinem neuesten Buch „Weltbeben. Leben im Zeitalter der Überforderung“ ein düsteres Bild unserer Zeit. CDU-Politiker Jens Spahn hat es für Cicero gelesen und kommt zu einem gemischten Urteil

Erschienen in Ausgabe
Mit den USA als „Weltmacht auf Abruf“ geht Gabor Steingarten hart ins Gericht / picture alliance
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Autoreninfo

Jens Spahn ist Parlamentarischer Staatssekretär beim Bundesministerium der Finanzen.

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Weltbeben: Das ist die Art von reißerischem Titel, die es braucht, um in Bestsellerlisten zu gelangen. Doch scheint der Lauf der Welt diesen Titel für Gabor Steingarts aktuelles Buch zu bestätigen: Europa in der Multikrise, die Zukunft der USA mit Donald Trump offener denn je, die Geißel des islamistischen Terrors, auftrumpfender Populismus, Überschuldung und digitale Beschleunigung allerorten. Folgerichtig vermisst Journalist Steingart diese Phänomene der Weltverschiebung in acht Kapiteln mit eindrucksvoller Klarheit in Sprache und Analyse.

Mit den USA als „Weltmacht auf Abruf“ geht er hart ins Gericht. Ohne Zweifel haben die Vereinigten Staaten im Inneren und Äußeren folgenschwere Fehler gemacht. Gleichwohl scheint der endgültige Abgesang auf die USA entschieden zu früh. Im Übrigen machte mir ein Europa, das zur wehrhaften Verteidigung seiner Freiheit und Werte auf sich alleine gestellt wäre, ob seiner Schwäche große Sorgen.

Sicht auf Politik zu negativ

Provokant und thesenstark liest sich Steingarts Herleitung vom Kampf gegen den islamistischen Terrorismus als „Drittem Weltkrieg“. Zum Nachdenken, auch in meiner eigenen antagonistischen Voreingenommenheit, hat mich seine Beschreibung der Sprachlosigkeit zwischen westlicher und muslimischer Welt und sein Appell, mehr Bereitschaft zum harten, offenen Dialog zu haben, gebracht.

Zu pessimistisch und gleichzeitig zu optimistisch scheint mir Steingarts Beschreibung zur Gegenwart und Zukunft politischer Prozesse und Kommunikation. Dass es Politikern generell nicht mehr um die realen Probleme ginge, sondern nur noch darum, die Realität zu verformen und massenmedial zu verarbeiten, ist zu pauschal und damit falsch. Klar, sowohl in den Auswüchsen des US-Wahlkampfs, die im Buch beschrieben werden, als auch in dem, was aktuell als Fake News diskutiert wird, findet eine nie da gewesene Verklärung und Verdrehung von Realität statt. Aber die allermeisten Politiker, die ich erlebe, wollen reale Probleme lösen, Menschen helfen, die Welt jeden Tag ein Stück besser machen. Die meisten Abgeordneten des Deutschen Bundestags dürften jeden Tag durch ihren direkten Kontakt mit Bürgern mehr von der Realität mitbekommen als die meisten Journalisten in Berlin-Mitte oder Düsseldorf. Das ist mir entschieden zu schwarzmalerisch.

Mehr Streit wagen

Zu optimistisch scheint mir die Vision einer permanenten Revolution der gelassenen bürgerlichen Deliberation, die mithilfe digitaler Medien ihrer Meinung und ihrem Recht gegenüber den bisherigen Eliten in Politik, Medien, Wirtschaft, Gesellschaft Geltung verschaffe. Sie erinnert mich an Habermas’ Konzept des idealen Diskurses, bei dem so viele Bedingungen erfüllt sein müssen, dass es ihn faktisch nicht gibt. Auch Steingarts Vision klingt gut, aber allein der Blick auf Art und Inhalt vieler Kommentare bei Facebook dürfte ihn zweifeln lassen. In einem jedenfalls stimme ich Steingart ausdrücklich zu: Um die gegenwärtige Krise auch der politischen Kommunikation und Legitimation zu überwinden, heißt „das Gebot der Stunde (…) deshalb Dialog, auch Streit, nicht Zurückweisung und Ausgrenzung“. Mehr produktiven Streit wagen, muss die Devise sein. Sein Buch bietet dafür eine gute, gut geschriebene und gut bekömmliche Grundlage.

 

Dieser Text stammt aus der Februarausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

 

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