Flüchtlingspolitik - „Angela Merkel hat Applaus verdient“

Campino trat mit seiner Band „Die Toten Hosen“ als Top Act auf in Chemnitz. Immer wieder mischt er sich auch jenseits von Soli-Konzerten in die Politik ein. So wie in der heißen Phase der Flüchtlingspolitik im Herbst 2015 in einem Cicero-Interview

„Merkels Statement ‚Wir schaffen das‘ war gut. Es hat Applaus verdient. Punkt“, so Campino / picture alliance
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Autoreninfo

Timo Stein lebt und schreibt in Berlin. Er war von 2011 bis 2016 Redakteur bei Cicero.

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Glauben Sie, dass es Gründe gibt, stolz auf dieses Land zu sein?
Ich gehöre einer Generation an, die immer sehr schnell erschrickt bei dem Wort „stolz“. Aber ich war gerade häufiger im Ausland. Egal, wohin man kommt, die Leute sprechen einen darauf an, dass wir in Deutschland versuchen, in der Flüchtlingsfrage Verantwortung zu übernehmen. Und sie haben eine Begeisterung in den Augen, als ob wir hier gerade wieder Fußballweltmeister geworden wären.

Ich muss zugeben, die Frage war geklaut. Sie haben sie 1994 der heutigen Kanzlerin gestellt. In einem ungewöhnlichen Interview, um das Sie Journalisten beneiden, weil Angela Merkel nie wieder so offen über Kirsch-Whiskey und Döner gesprochen hat.
Das hat sie wahrscheinlich auch nur gemacht, weil sie mich nicht für voll genommen hat. Vermutlich hat sie versucht, die Sache in eine nette Richtung zu lenken. Da steht so ein Punk und der stellt diese Partyfragen. Da hat sie sich auf dieses Terrain begeben. Heute ist sie abgeklärter.

Damals waren Sie der Punk und Angela Merkel die Jugendministerin. Merkels Kritiker, die die Grenzöffnung für einen historischen Fehler halten, erwecken gerade den Eindruck, als sei Merkel heute der Punk, der gerade die Anarchie ausgerufen habe.
Bei allem Respekt, das bringe ich nicht übers Herz, Merkel als Punk zu bezeichnen. Aber sie hat, wenn auch spät, richtig reagiert. Angela Merkel ist jemand, der nicht der eigenen Partei hinterherpfeift, sondern durchaus eigene Denkwege geht.

Moment. Was bitte ist passiert, dass Campino Merkel lobt?
Was da passiert ist? Sie hat etwas sehr Gutes gesagt.

Sie meinen die Sätze „Wir schaffen das“ und „Dann ist das nicht mein Land“?
„Nicht mein Land.“ Das war der beste Satz. Der herausragende Satz. Dafür könnt ich sie fast umarmen. Man darf ihr das auch schon mal sagen, dass sie das großartig gemacht hat. Warum man es dann doch nicht tut? Ich weiß nicht. Es gibt noch viele andere Felder, wo zu lange gezögert wurde. Aber dieses Statement war gut. Es hat Applaus verdient. Punkt.

Besteht nicht wieder die Gefahr eines deutschen Sonderweges – wenn auch im Gewand des Guten? Darf sich Politik so von Emotionen leiten lassen? Stimmungen kippen ja bekanntlich…
Deutscher Sonderweg? Entschuldigung, Österreich hat sich ähnlich verhalten, auch Schweden macht ohne viele Geräusche einen ordentlichen Job. Dies ist kein Sonderweg. Deutschland ist ein sehr großes, einflussreiches Land. Das zwingt zu Vorsicht und Verantwortung. Das heißt aber eben auch, dass man aus allen möglichen Richtungen Ärger ertragen muss. So wie Deutschland ja auch auf eine teilweise überzogene Art und Weise als Erpresser Griechenlands hingestellt wurde.

In der Griechenlandkrise gab Deutschland den Zucht-, jetzt den Willkommensweltmeister.
Das ist das Schicksal des Klassenprimus. Ich kann nur hoffen, dass wir letztlich mit einer gewissen Entschiedenheit europäische Solidarität einfordern. Wenn Europa eine Wertegemeinschaft ist und nicht nur eine Geldmaschine und Trutzburg gegen die, die ärmer sind, dann ist das jetzt eine hervorragende Gelegenheit, dies zu beweisen. Und die Länder, die sich gerade dagegen wehren, müssen jetzt auf die Zähne beißen.

Deutschland hat Jahrzehnte gebraucht, um sich einigermaßen daran zu gewöhnen, ein Einwanderungsland zu sein. Muss man diesen Prozess den anderen Ländern nicht auch zugestehen?
Ja, muss man. Aber auch da hat Merkel einen vernünftigen Beitrag geleistet. Sie hat die Gespräche so geführt, dass jeder sein Gesicht wahren konnte. Es geht jetzt hier nicht um eine Entweder-oder-Frage oder etwa darum, anderen in Europa eine Quote aufzudrücken. Wir werden diese Herausforderung bestimmt nicht schaffen, wenn nicht alle Länder sie zusammen und geschlossen angehen.

Müssen wir nicht auch gleichzeitig die Gefahren thematisieren? Stichworte: Frauenbild, israelbezogener Antisemitismus, konservative Religionsauslegung.
Natürlich. Ich halte auch nichts davon, nur das Blaue vom Himmel zu versprechen. Man wird auch mit Menschen umgehen müssen, die gar keine Lust haben, sich zu integrieren und ein anderes Wertesystem besitzen als wir. Ich glaube aber nicht, dass man ein Tagträumer ist, wenn man versucht, das Beste aus der Situation zu machen. Wir haben die Chance, verkrustete Denkstrukturen aufzubrechen und kleingeistige Bestimmungen zu hinterfragen, die sich irgendwann ja auch ins Idiotische kehren. Jetzt ist nicht die Zeit, um über übertriebene Bauschutzmaßnahmen oder Denkmalschutz zu diskutieren. Es müssen Räume geschaffen werden. Die Leute, die kommen, können einen positiven Beitrag zur Volkswirtschaft leisten. Wer sich wirklich auf christliche Werte beruft, der kann doch nicht darüber diskutieren, ob die Bitte um Asyl in Ordnung ist oder nicht. Die Bibel ist das Flüchtlingsbuch Nummer 1. Die Gefahr, dass unter 10.000 ein Terrorist ist, legitimiert uns nicht dazu, 9.999 draußen stehen zu lassen.

Sie sind ein politischer Mensch, die Toten Hosen eine politische Band. Das ist in der Musik heute eher selten: Man ist nicht politisch, sondern ironisch, versteckt sich hinter einem Stil, der Distanz immer möglich macht.
Uns war Haltung immer wichtig. Ich verstehe unter unserer Musik mehr als nur Melodien und nette Zeilen. Meine Helden waren Bands wie „The Clash“ oder „The Jam“, doch mir ist es auch schon mal passiert, dass ich die Platte einer Band toll fand, zum Konzert gefahren bin, gesehen habe, was das für Idioten waren und dann nie wieder deren Musik gehört habe. Mir war immer wichtig, wer hinter der Musik steht. Vielleicht ist das etwas sehr Konservatives. Heute beschäftigen sich viele Musiker zu sehr mit der Frage, ob sie cool oder uncool sind. Es ist bedauerlich, dass so viele Angst haben, durch Bekunden ihrer Meinung in Schwierigkeiten zu geraten. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass es nicht schön ist, in einen Shitstorm zu geraten. Aber das versendet sich. Und es darf keine Rechtfertigung dafür sein, seinen Mund zu halten.

Einer Ihrer Songs „Willkommen in Deutschland“ ist über 20 Jahre alt und doch von erstaunlicher Aktualität. Darin heißt es: „Dies ist das Land, in dem man nicht versteht, dass fremd kein Wort für feindlich ist. In dem Besucher nur geduldet sind, wenn sie versprechen, dass sie bald wieder gehen.“ Oder: „Dies ist das Land, in dem so viele schweigen, …
… wenn Pegida auf die Straße geht.“ Diese Version singe ich in den letzten Monaten. Es gibt heute unheimlich viele Parallelen zu den 90ern. Zum Beispiel, was diese Mobbildung von rechts angeht bis hin zu der Tatsache, dass wahnsinnig viele Flüchtlinge auf einmal kommen. Damals flohen die Menschen wegen des Jugoslawienkrieges. Gleichzeitig gibt es Unterschiede zu früher. Obwohl wir immer dieses Drittel Dumpfheit in der Bevölkerung haben, das – in den Zeiten, wo es eng wird - nach Rechtsaußen zieht, gibt es heute eine viel entschlossenere und größere Gruppe von Menschen, die dieses Gedöns übertönen.

Im Refrain singen Sie: „Es ist auch mein Land!“ Ist das nicht auch eine Form von Patriotismus?
Ich habe die Zeile damals geschrieben, um mein ambivalentes Verhältnis zu Deutschland auszudrücken. Ich bin halb Engländer, halb Deutscher. Ich will das nicht zu hoch hängen, aber ich wollte als Kind und Jugendlicher nicht zu Deutschland gehören. Doch Engländer bin ich eben auch nicht. Wenn wir heute als "Die Toten Hosen" im Ausland sind, empfinde ich mich selbstverständlich als Repräsentant dieses Landes. Ich erinnere mich an eine Pressekonferenz in Südamerika Anfang der 90er Jahre. Die Journalisten wollten wissen, was denn da bei uns los sei, in Solingen, in Rostock. In diesem Moment habe ich mich selber dabei erwischt, als überzeugter Deutscher zu sprechen. Um zu zeigen, wir Deutschen sind da nicht alle so wie ihr denkt. Da war ich ganz anders in der Verantwortung. So ist die angesprochene Zeile aufs Papier gekommen. Es ist eben auch mein Land.

Um Angst vor dem Fremden geht es auch im Märchen „Peter und der Wolf in Hollywood“, eine Neuauflage des russischen Klassikers, das Sie als Hörbuch eingesprochen haben. Peter, der gerade seine Eltern verloren hat, zieht von Russland nach Los Angeles, wo er von seinem Hippie-Großvater aufgenommen wird. Was können wir von Peter lernen?
Es geht um Courage. Auch da. Es geht um Alleinsein, sich einsam fühlen und um das Zurechtfinden in einer neuen Welt. Ein kleiner Junge widersetzt sich sämtlichen Verboten, um seinen Beitrag zu leisten bei dem Versuch, den Wolf zu fangen.

Das Fremde ist hier der Wolf. Nur der kleine Peter fürchtet sich nicht, weil er Wölfe aus seiner Heimat kennt.
Die Angst vor dem Fremden, vor der Berührung unbekannter Dinge, ist auch ein sehr deutsches Gefühl. Wir müssen dagegen ankämpfen und versuchen, auf das Unbekannte zuzugehen. Beim gegenseitigen Kennenlernen fangen wir an, die Dinge differenzierter zu betrachten.

Lesen Sie Märchen vor?
Ja, ich habe meinem Sohn immer gerne alles vorgelesen, was da gerade durchs Kinderzimmer trudelte. Er ist mittlerweile selbst ein begeisterter Leser.

Im klassischen Märchen sind Gut und Böse klar verteilt. Es fehlen allerdings oft die Grauzonen.
Wenn man klein ist, fängt man an, Unterteilungen zu machen. Gut und Böse ist das erste grobe Raster. Die ganzen Grautöne kommen dann schon mit dem Leben hinzu. Es gibt auch viele subtile Märchen und Sagen, die Raum haben für andere Farben. Das sind vielleicht nicht die bekanntesten. Die Gebrüder Grimm haben hierzulande dafür gesorgt, dass es meist so gehalten wird: Jeden Abend eine Geschichte, drei Minuten, dann muss das Ding gegessen sein.

Sie haben einmal gesagt: „Mit 50 komme ich also endlich da an, wo man mich schon immer verortet hat.“ Kommt man eigentlich mit einem bestimmten Alter auf die Welt?
Das war wohl eher eine spöttische Antwort auf die immer wiederkehrende Frage: Wie fühlt sich ein Rockmusiker mit 40, mit 50? Gott sei dank müssen die Rolling Stones diese ganzen Opafragen immer als erste beantworten. Jedes Alter hat seine Probleme, aber auch seine Qualitäten. In die Disco kann ich heute kaum noch gehen. Da würde ich mich in eine Welt mogeln, in die ich rein altersmäßig nicht mehr gehöre. Ich will mich nicht lächerlich machen. Wenn junge Leute zu unseren Konzerten kommen, dann freuen wir uns natürlich wahnsinnig. Das ist dann aber ihre Entscheidung und nicht unsere. Ich war gerade als Spieler bei einem Fußballturnier. Auf dem Platz ist völlig klar: Wenn du mit dem Ball plötzlich vor einem 25-Jährigen stehst, versuche erst gar nicht, noch mal an ihm vorbeizukommen. Das wird nicht funktionieren. Das ist zwar frustrierend, aber dafür gibt es andere Dinge, die ich heute besser kann als früher. Und wenn es nur das „Zuhören“ ist.

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