Bürgerliche Mitte - Jenseits von Bullerbü

Ist ein friedliches und sicheres Wohlstandseuropa machbar? Das Vertrauen, dass es so kommt, scheint derzeit auf einen Tiefpunkt gesunken zu sein. Es droht eine innere Abschottung der gesellschaftlichen Mitte. In der Politik und in der eigenen Familie. Von Sabine Bergk

Derzeit sind wir von Idyllen wie in Bullerbü weit entfernt / picture alliance
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Autoreninfo

Sabine Bergk ist Schriftstellerin. Sie studierte Lettres Modernes in Orléans, Theater- und Wirtschaftswissenschaften in Berlin sowie am Lee Strasberg Institute in New York. Ihr Prosadebüt „Gilsbrod“ erschien 2012 im Dittrich Verlag, 2014 „Ichi oder der Traum vom Roman“.

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Da waren Lasse, Bosse, Ole, Inga, Britta und Lisa. Generationen haben sich an den Geschichten der Schriftstellerin Astrid Lindgren festgehalten und versucht, für ihre Kinder ein ähnliches Umfeld zu erschaffen – eine Welt der Geborgenheit, in der man zugleich frei sein kann. Neugierde und Offenheit geben sich hier die Hand, Freiheit und Sicherheit sind gleichzeitig möglich und alles zusammen geschieht in einem Garten hinter den Wachholderbüschen. 

Die Geisterwaage aus Erfolgen und Krisen

Eine solche Welt wird wohl für immer Fiktion bleiben. Wer die Kriegstagebücher Astrid Lindgrens gelesen hat, weiß, dass sie sich mit Bullerbü eine warme Insel geschaffen hatte, die aus dem entschwundenen Land ihrer Kindheit stammt. Dass wir, trotz des anhaltenden Wohlstands, nicht in Bullerbü-Zeiten leben, wird im alltäglich nachbarschaftlichen Leben immer deutlicher. Exportweltmeister zu sein und gleichzeitig abgeschirmt von den Krisen der Welt in einer Bullerbü-Idylle zu leben, kann und wird uns nicht beschieden werden. Wie auf einer Geisterwaage gleichen sich Erfolg und Krisen immer wieder aus. Je strahlender und erfolgreicher ein Land ist, desto größer wird auch dessen Anziehungskraft. Als Folge haben wir zwar massenhaft Waren exportiert, importieren dafür aber auch massenhafte Armut.

Im Koalitionsvertrag wird noch diese doppelte Welt beschworen: Freiheit, Offenheit und – Sicherheit. Alles auf einmal zu stemmen, ist jedoch ein ziemlich umfangreiches Vorhaben. Die Gefahr, sich zu überheben, steigt. Und das Vertrauen, dass ein friedliches und sicheres Wohlstandseuropa machbar ist, scheint derzeit auf einen Tiefpunkt gesunken zu sein. Die Stimmung ist mies, Ängste potenzieren sich, eine neue Finanzkrise lugt um die Ecke, von links und rechts drohen Aggressionen. Falls es zu Neuwahlen kommt, besteht die Gefahr, dass sich die Bundesrepublik in einen Frusthaufen verwandelt. 

Die Last auf die Mitte nimmt zu

Ist nun Bullerbü an allem schuld? Die Erkenntnis, dass wir nicht mehr so geborgen leben können, wie wir es uns wünschen? Der Fakt, dass viele Menschen frustriert sind, weil sich Wunschwelt und Nachbarschaft so eklatant unterscheiden? Wer diesen Frust äußert, wird von rechts beklatscht und setzt sich linker Hetze aus. Also wird lieber alles herunter geschluckt, aus Angst vor aggressiver Stimmung. Die bürgerliche Mitte wird zu einer Art Packesel und bekommt vom vielen Tragen chronische Rückenschmerzen. 

Derzeit sind wir von Bullerbü-Idyllen weit entfernt. Die Gentrifizierung zerstört gewachsene Nachbarschaften, Familien kämpfen um Einkommen, Kitaplätze und Kinderärzte. Das moderne Leben ist zum Kampfplatz geworden, besser gesagt zum Kampf um Platz. Und zum Raummangel gesellt sich ein chronische Zeitmangel. Oft stehen in Familien beide Partner unter Dauerdruck. Hinzu kommt, dass in vielen Haushalten gar keine Partner mehr vorhanden sind. Die Emanzipation hat viele Frauen beflügelt – die Männer kneifen. 

Das Vertrauen in die Politik ist gebrochen

Auch politisch gesehen ist die Bullerbü-Zeit, in der die Parteienlandschaft stabil war, am Ende. Das Vertrauen in die großen Parteien ist gebrochen, sie sind nicht mehr mehrheitsfähig. Hat die Bundeskanzlerin zu lange Bullerbü gespielt? Dass die Beschwichtigungs- und Vermeidungsrhetorik der Kanzlerin irgendwann einmal zum Sturz in den Brunnen führen würde, war voraussehbar. Nach der Idylle kommt nun das harte Erwachen. Glaubhaftigkeit kann nur durch Selbstkritik, nicht allein durch Personalpolitik wieder hergestellt werden. 

Wenn der Spagat zwischen Offenheit und Sicherheit, das Stemmen in alle Richtungen, nicht gelingt, wird es zu einer inneren Abschottung der gesellschaftlichen Mitte kommen. Letztendlich wird Lindgrens Wunschidylle dann nur noch jenen vorbehalten sein, die sich eine kleine Prise Harmonie leisten können. 
 

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