Moral zum Mitnehmen - Das I-Wort und das Z-Schnitzel

Nichts beschäftigt die Deutschen so sehr, wie die Suche nach sich selbst. Der Publizist Reinhard Mohr hat diesem oft verkrampften Selbstfindungsprozess ein Buch gewidmet. In „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung“ zeichnet er das Bild eines Landes, das zwischen Unsicherheit und Ideologie festklemmt. Ein Auszug.

Das Kollektive Unbewusste kann oft schon im nächstbesten Kühlschrank lauern / dpa
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Autoreninfo

Reinhard Mohr (*1955) ist Publizist und lebt in Berlin. Vor Kurzem erschien sein Buch „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt“ (Europa Verlag, München).

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In seinem aktuellen Buch „Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung“ geht der Publizist Reinhard Mohr auf gewohnt humorvolle Weise der Frage nach, warum es nach 75 Jahren erfolgreicher demokratischer Entwicklung in Deutschland immer noch an republikanischem Selbstbewusstsein mangelt. Im Zentrum seines gerade im Europa Verlag erschienenen Buches steht die Frage: Wo ist – zwischen Rechts- und Linksaußen, AfD und Antifa – eigentlich die politische Mitte geblieben, die so ausgezehrt, leblos und konturlos wirkt? Wofür stehen eigentlich CDU und CSU nach 16 Jahren Kanzlerschaft von Angela Merkel? Erst recht die SPD? Angesichts der bevorstehenden Bundestagswahl sind diese Fragen dringlicher denn je. Wir bringen im Folgenden einen Auszug aus Mohrs Buch. 

Warum der Zeitgeist keine Mitte mehr kennt

Einen Vorteil haben Krisenzeiten, zumal dann, wenn sie einen pandemischen Stillstand der gewohnten Geschäftigkeit mit sich bringen: Man besinnt sich wieder auf alte Freunde, frischt eingeschlafene Bekanntschaften auf und liest lange E-Mails, die sonst rasch im Papierkorb landen würden. Dazu gesellt sich zumindest zeitweise ein erhöhter Fernsehkonsum, vom »Morgenmagazin« bis »Markus Lanz«. Ein uralter Instinkt politischer Neugier sorgt dafür, dass neben Filmen wie »Sauerkrautkoma«, »Leberkäsjunkie« und »Grießnockerlaffäre« aus der herrlich ironischen Serie der bayerischen »Eberhofer«-Krimis auch die einschlägigen Talkshows zu ihrem Recht kommen, jedenfalls so lange, bis der wöchentliche Inzidenzwert der TV-Auftritte von Karl Lauterbach gesundheitsschädliche Ausmaße angenommen hat.

So kam es zu stundenlangen Telefongesprächen, in denen immer wieder ein Thema allseitige Ratlosigkeit hinterließ. So wichtig es war zu wissen, wann man endlich wieder zum Friseur und in die Kneipe gehen oder in den Urlaub fahren kann – regelrechte depressive Verstimmungen kamen bei der Frage auf, wo eigentlich die politische Mitte geblieben sei und mit ihr jene pragmatische, bürgerlich-liberale Vernunft, die sich zwar den gesellschaftlichen Veränderungen keineswegs verschließt, aber doch eine Kontur, eine Repräsentanz, eine starke Idee, vielleicht sogar eine starke Persönlichkeit braucht. Manch einer fragte: Gibt’s das überhaupt noch, das Konservative? Auch das verschärfte Radiohören brachte hier keine weiter führenden Erkenntnisse, sieht man von den rasant um sich greifenden Mini-Pausen im guten alten Deutschlandfunk ab, die inzwischen nicht mehr durch die Räusper-Taste verursacht werden, sondern mitten im gesprochenen Wort stattfinden und so zu spontaner innerer Unruhe beim alten weißen Hörerführen.

Abflugbereite »Urlauber*Pause*innen« warten dann schon mal vergeblich auf »Pilot*Pause*innen«, die sie von Ibiza nach Hause fliegen sollen, weil »Gewerkschafter*Pause*innen« sie zum Warnstreik aufgefordert hatten. In Talkshows wird das Elend der kommenden Finanzlöcher gendergerecht auf die Steuerzahler*Pause*innen verteilt, und in der Berliner Abendschau des rbb flüchten »Anwohnende« vor dem Feuer im Haus, sind also zugleich »Flüchtende«, letztlich »Geflüchtete« im eigenen Stadtteil, also streng grammatikalisch gar keine Anwohnenden mehr. »Wenn’s der Wahrheitsfindung dient« würde womöglich Altkommunarde Fritz Teufel brummen, lebte er noch. 1968 ging es um die förmliche Pflicht des Angeklagten, aufzustehen, wenn das hohe Gericht erscheint; heute geht es darum, kein Sternchen und kein Doppelpünktchen zu vergessen, wenn man eine ordnungsgemäße Bachelorarbeit abgeben will.

Wir schweifen ab. Oder doch nicht? Ist das vielleicht die neue politische Mitte: Der Konsens der Duden-Demokraten, die ein bürokratisches, Fatwa-ähnliches Sprachregime errichten, dem keiner entkommen soll? Eine »Dudenisierung« der Politik überhaupt, die bei dem Bestreben, alles nur noch sauber und korrekt zu formulieren, ohne irgendjemanden auf der Welt zu verletzen, zu verstören oder in seiner Einzigartigkeit anzugreifen, gar keine Peilung, keine Richtung mehr hat? Es scheint, als sei Politik überhaupt in einer Art Redundanz gefangen, die zwischen den Polen neudeutscher Moral und altdeutschem Sauberkeitszwang hin und her oszilliert. Hier die Apriori-Moralisierung auch noch der letzten Einzelfrage, sei es der Bau eines Einfamilienhauses in Hamburg-Langenhorn, der künftig verhindert werden soll, die Vermeidung des unaussprechlichen I-Wortes »Indianer« oder das »postkolonialistische« Verhältnis zu Afrika; dort dann der deutsche Hang, das Ganze – wenn schon, denn schon – konsequent »durchzuziehen«, porentief rein, bis ins letzte Detail.

Jede Abweichung wird geahndet. Stets geht es zuallererst darum, auf der vermeintlich richtigen Seite zu stehen, was immer auch ein Reflex auf die schier unübersehbare Komplexität der Gesellschaft ist. Schon vor Jahren berichtete der Münchener Philosophieprofessor Michael Reder, seine Studenten, die er wohl jetzt auch »Studierende« nennt, erwarteten oft eine »normative Take-Home-Message«, eine Moral zum Mitnehmen also: »Was früher Pfarrern vorbehalten war, wird nun auch von uns Ethikern verlangt.« Das »absolute Verlangen nach Ehrlichkeit und Transparenz« (Reder) ist so stark, dass Heuchelei und »double standards« programmiert sind. Viel schlimmer: Dummheit. Der böse Niccolò Machiavelli hätte uns gewarnt: Eine Überdosis Moral, struktureller Moralismus, beschädigt Ihr Denkvermögen. 

Wenn Doppeldeutigkeit und Ironie nicht mehr geduldet werden, und erst recht nicht »Stammtisch-Humor«, Zoten, Witze und Karikaturen, die nicht ganz auf der geistigen Wellenlänge von SPD-Chefin Saskia Esken liegen, dann braucht es eigentlich jenen »neuen Menschen«, den der Sowjet-Kommunismus, Mao Zedong und Ché Guevara stets vor Augen hatten: Er denkt, sagt, fühlt und tut immer das Richtige zum Wohle der Menschheit. Solange es noch nicht so weit ist, haben all die Sprachregelungen für eine diskriminierungsfreie, endlich gerechte und gute Welt, in der Migranten und Einwanderer nun als »Menschen mit internationaler Geschichte« bezeichnet werden sollen, ein Ziel: nicht »anstößig« zu sein.

So hat sich ein neuer Komment herausgebildet, der zwar in keinem Gesetzesblatt steht, aber inzwischen eine enorme Disziplinierungsmacht erreicht hat. Selbst Thomas Gottschalk, die Inkarnation des netten und stets gutgelaunten Deutschen, dessen loses Mundwerk ihn berühmt und wohlhabend gemacht hat, kapituliert und verspricht öffentlich, nie mehr das »Z-Wort« zu benutzen, ob wohl ihm im ganzen Leben niemals ein »Z-Schnitzel« serviert worden sei und er auch gar nicht vorgehabt habe, noch jemals im Leben ein solches zu bestellen.

Nicht einmal mehr das Zitieren des inkriminierten Wortes ist erlaubt. So entsteht eine merkwürdige Schweigespirale aus unsagbaren Wörtern, die eher an die Inquisition der katholischen Kirche im Mittelalter erinnert als an eine aufgeklärte Gesellschaft des 21. Jahrhunderts. Dabei haben wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt, dass vorhandene Ressentiments auf die neuen Wortschöpfungen praktisch 1:1 übertragen werden. Die Bezeichnung »Roma und Sinti« ist längst wieder so negativ konnotiert wie das alte Z-Wort. So vermeiden die großen Nachrichtensender inzwischen auch diese völlig korrekte Bezeichnung, selbst wenn sie, etwa bei einem geballten Ausbruch des Coronavirus in einem großen, ziemlich verwahrlosten Wohnhaus, sachdienliche Hinweise auf Ursachen und Verbreitungswege liefern würde.

Die Angst, Ressentiments zu schüren, geht so weit, dass bei Berichten der Nachrichtenagentur dpa über die zahlreichen Vorfälle mit ausufernden Hochzeitsgesellschaften, die ganze Autobahnabschnitte blockieren, das Attribut »türkisch«, »türkischstämmig« oder »arabisch« peinlichst vermieden wird – obwohl gerade dies eine zentrale Information ist, auf die die gesamte Gesellschaft Anspruch hat. Denn der aktuelle Stand der Integration ist auch an solchen Geschehnissen abzulesen. Das Resultat dieser pädagogisch gefilterten Nachrichten ist allerdings paradox: Wenn nun im Radio von einer – gar großen – Hochzeitsgesellschaft die Rede ist, assoziieren die meisten Hörer, gewiss auch die Hörerinnen, unwillkürlich »türkisch« oder »arabisch«. Zu anderen Zeiten wurde dieser Vorgang mit »zwischen den Zeilen lesen« umschrieben. Die einst linke Parole von SPD-Gründer August Bebel – »Sagen, was ist« – hat sich ins glatte Gegenteil verkehrt: Bloß nicht drüber reden.

 

Reinhard Mohr: Deutschland zwischen Größenwahn und Selbstverleugnung. Warum es keine Mitte mehr gibt. Europa Verlag. 160 Seiten. 16,00 €. ISBN 978-3-95890-399-9

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