Bolognas Sozialkredit-System - Leben im Jahr 2030: smart, nachhaltig – und totalüberwacht

Die italienische Stadt Bologna plant, ein Belohnungssystem für umweltbewusstes Verhalten einzuführen. Kritiker sehen damit in Europa – zusammen mit den Plänen für eine Digitale Identität – ein weiteres Tor für den totalitären Kontrollstaat nach chinesischem Vorbild aufgestoßen. Und tatsächlich stehen in Deutschland die Tore für den Aufbau eines Sozialkreditsystems besorgniserregend weit offen – nicht erst seit der Corona-Krise.

Belohnungspunkte gibt es bestimmt auch für gesunde Ernährung: Markt in Bologna / dpa
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Philipp Fess hat Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften studiert und arbeitet als Journalist in Karlsruhe.

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In der Hauptstadt der italienischen Region Emilia Romagna steht die wahrscheinlich älteste Universität Europas. 1088 soll die Università de Bologna gebaut worden sein. Ein Sinnbild der Aufklärung mitten im finsteren Mittelalter.  

Der Aufklärung glaubt sich auch Bürgermeister Matteo Lepore verpflichtet, als er am 29. März 2022 im drei Straßen entfernten Rathaus der Presse die jüngste wissenschaftliche Errungenschaft der Stadt präsentiert: das Smart Citizen Wallet. Doch das, was Lepore den Bolognesern da als der Weisheit letzten Schluss verkauft, klingt so gar nicht nach den Idealen der Aufklärung. Eher nach dem Gegenteil, nach Entmündigung. In Bologna kennt man sich aus mit Credits, aber mit dem Sozialkreditsystem der Kommunistischen Partei Chinas hatte man bisher noch nichts am Hut.

Im deutschsprachigen Raum hatte das Blog tkp.at als erstes über die ominöse App berichtet, die sich die Bologneser seit kurzem auf ihr Handy laden können.   

Die Brieftasche der Tugendhaften

Stadtrat Massimo Bugani, der hauptberuflich Bolognas „Digitale Agenda“ vorantreibt, spricht gegenüber der Lokalzeitung Corriere Bologna von der „Brieftasche des tugendhaften Bürgers“: „Die Bürgerinnen und Bürger werden belohnt, wenn sie ihren Abfall trennen, öffentliche Verkehrsmittel nutzen, gut mit ihrer Energie umgehen [und] keine Bußgelder von der Gemeinde erhalten“, so Bugani. „Tugendhaftes Verhalten wird mit einer Punktzahl belohnt, die die Bologneser dann für bestimmte Preise ‚ausgeben‘ können“ – zum Beispiel Rabatte im ÖPNV oder beim städtischen Energieversorger HERA.

Die Brieftasche sei aber nicht verpflichtend, betont Bugani. Man müsse sich das vorstellen wie eine Treuekarte im Supermarkt. Damit hat der Stadtrat – vielleicht unbewusst – ein gutes Bild gewählt, um das Vorhaben auch in seiner Fragwürdigkeit zu illustrieren.

Überwachung für den guten Zweck 

Denn wie „Payback“ das Verhalten von Supermarktkunden überwacht, soll auch die smarte Brieftasche Daten sammeln, die für die Stadt- und Verkehrsplanung verwertet werden können. Eine auf dieser Grundlage entwickelte „intelligente Mobilität“ könne zum Beispiel helfen, die Baustellen der nächsten Jahre zu überleben, so Bürgermeister Lepore. Doch es geht in Bologna um weitaus mehr als nur um Baustellen. Massimo Bugani weiß das am besten. Es ist nämlich nicht das erste Mal, dass sich der Stadtrat mit dem Smart Wallet auseinandersetzt.

Bevor Bugani nach Bologna kam, hat er in Rom als Stabschef von Bürgermeisterin Virginia Raggi daran mitgearbeitet, die Tugend-Brieftasche in der italienischen Hauptstadt einzuführen. Auf der römischen Website erfährt man, dass sich das Smart Wallet dort bereits in einer experimentellen Probephase befindet. Und man erfährt auch mehr über den übergeordneten Zweck, dem er dienen soll: „Das Citizen Wallet ist eine Belohnungsplattform, die tugendhaftes Verhalten der Stadtnutzer fördert, um die ökologische, soziale und wirtschaftliche Nachhaltigkeit der Stadt im Einklang mit den Zielen der [UN-]Agenda 2030 [für nachhaltige Entwicklung] zu verbessern.“   

Man erfährt außerdem, dass die elektronische Geldbörse unter anderem über das Digitale Identitätssystem (Sistema Publico d’Identità Digitale, SPID) zugänglich gemacht werden soll, an dem in Rom ebenfalls intensiv gearbeitet wird. Hier scheinen die Gewerke vorbildlich ineinander zu greifen, plant die Europäische Union als selbsternannte „Vorreiterin der Agenda 2030“ doch, bis zu diesem bedeutungsvollen Datum alle öffentlichen Dienste online anzubieten und zu diesem Zweck 80 Prozent ihrer Bürger mit einer Digitalen Identität (EUid) auszustatten.

Auch EU-weit soll es ein Smart Wallet geben, auf dem die persönlichen Daten der Bürger gespeichert sind. Damit sollen die Bürger digital, „mit einem Klick auf dem Handy“, Dienstleistungen nicht nur von Behörden, sondern auch von medizinischen Einrichtungen und – die App ist nicht umsonst nach der Brieftasche benannt – Banken in Anspruch nehmen können.   

Darüber, ob das EU-Wallet ebenfalls über solche Anreiz- und Belohnungsstrukturen etabliert werden soll wie in Italien, ist derzeit noch nichts bekannt. Österreich testet mit der Austria ID schon seit Anfang 2021 ein ähnliches Programm. Im Gegensatz zur EU-weiten eIDAS Wallet App lässt dieses aber Datenschützern aufgrund einer Vielzahl an potenziellen Sicherheitslücken nicht das Blut in den Adern gefrieren.    

Einschub: Zivilgesellschaftliche Dammbrüche

Mit der smarten Brieftasche könnte in zweierlei Hinsicht eine Büchse der Pandora geöffnet werden: Zum einen könnten die Bürger staatliche Überwachung und Eingriffe in ihre Privatsphäre akzeptieren, um (weiterhin) in den Genuss materieller Vorteile zu kommen, zum anderen könnte sich die „neue Normalität“ verfestigen, dass ein unbeschränkter Zugang zur Gesellschaft nicht die Regel, sondern die Ausnahme ist: für diejenigen, die sich den staatlichen Zielen unterordnen, quasi: politisch korrekt leben. Aber, Moment – haben wir das alles nicht gerade erst erlebt?   

In der Corona-Krise hat sich der Maßstab des zivilgesellschaftlich Zumutbaren – man könnte mit Olaf Scholz auch sagen: die „rote Linie“ – deutlich zu Ungunsten der bürgerlichen Freiheit verschoben. Wir haben unsere privaten Daten preisgegeben, um weiterhin am gesellschaftlichen Leben teilnehmen (und arbeiten!) zu dürfen, und Menschen von selbigem ausgeschlossen, weil ihr Gesundheitsstatus nicht den staatlichen Ansprüchen genügt hat. Manche von uns waren sogar bereit, einen Schritt weiter zu gehen und diese Menschen von der gemeinschaftlichen Daseinsvorsorge auszuschließen.  

Diese Verschiebung wurde mit dem Notstand begründet, und zwar mit dem akuten (ob dieser jemals nachweislich eingetreten ist, steht auf einem anderen Blatt). Die Klimakrise aber ist ein latenter Notstand, und damit ein potenziell dauerhafter (ähnlich wie die Bedrohung durch einen globalen Terrorismus). Damit ist auch die „rote Linie“ dauerhaft in Gefahr, die das Machtgleichgewicht zwischen dem Staat und seinen Bürgern garantiert.

Der Staat strebt als Verwaltungsinstrument nach Ordnung, und wenn ihn keine normativen Prinzipien leiten, schafft er eben die totale Ordnung. Max Horkheimer und Theodor W. Adorno haben dieses historische Problem der politischen Philosophie treffend auf die Formel „Aufklärung [alleine] ist totalitär“ gebracht. Vor acht Jahren hat der ehemalige SPD-Kanzlerkandidat Martin Schulz in einem Beitrag für die Frankfurter Allgemeine eine noch heute eminent wichtige Frage gestellt: „Ab welchem Punkt riskieren wir im Namen der Effizienz unsere Bürgerrechte und die Errungenschaften der aufgeklärten Demokratie?“ Die Dachzeile des Beitrags wurde zum Titel des späteren Sammelbands von Ex-Herausgeber Frank Schirrmacher: „Technologischer Totalitarismus“.

Ist das Leitprinzip des Staates die (positivistische) Wissenschaft und nicht die Menschenwürde, ist seine Staatsform nicht die Demokratie, sondern tendiert zur Technokratie, zur Herrschaft der Algorithmen, zur „smarten“ Diktatur. Auf kommunaler Ebene ist das die sogenannte Smart City, angefüllt mit Smart Citizens, die Smart Wallets benutzen.

Und diese Smart City ist der eigentliche Hintergrund, vor dem sich diese ganze Geschichte um die Tugend-Brieftasche abspielt.

Smart Cities: ein neues Gesellschaftskonzept

Bologna und Rom träumen nämlich den kybernetischen Traum der vollständig vernetzten Stadt, in der durch Sensoren und Daten ein vollständiger „digitaler Zwilling“ der sozialen Lebenswelt erschaffen wird, mit dessen Hilfe sich das Gesamtsystem maximal effizient verwalten lässt. Erklärtes Ziel ist es, den (einzig?) zukunftsträchtigen urbanen Lebensraum lebenswerter zu machen. Die Stadt Rom macht keinen Hehl daraus, dass diese neue Gesellschaft mit der uns bekannten nicht mehr viel zu tun hat: Zweck der Smart City sei es schließlich, „überholte Modelle des Regierens in Frage zu stellen“ und „ein neues Gesellschaftskonzept zu schaffen“.

Die Smart City ist als Vision schon seit Jahrzehnten im Umlauf. Spätestens aber durch die sogenannte „New Urban Agenda“ der Vereinten Nationen, die sich nahtlos in die Ziele der Agenda 2030 einfügt, wird die Vision auf internationaler Ebene mit Nachdruck verfolgt.

Auch in Deutschland haben einige Kommunen ein Zukunftsszenario in dieser oder ähnlicher Form bereits in ihr Stadtentwicklungs- beziehungsweise Klimaschutzkonzept integriert. Das liegt nicht zuletzt daran, dass viel Steuergeld in die Forschung und Entwicklung von Smart Cities fließt.

Zwischen 2019 und 2028 stellt das Bundesinnenministerium über die Förderbank KfW 820 Millionen Euro zur Verfügung, um die „Planung und Umsetzung digitaler Strategien für lebenswerte Städte“ in insgesamt 85 Modellprojekten zu fördern. Die Mittel wurden erst im Juni 2020 mit dem Konjunktur- und Zukunftspaket um 70 Millionen Euro aufgestockt, allein bei der sogenannten „dritten Staffel“ im vergangenen Jahr sind 300 Millionen für 28 Projekte geflossen.    

Befremdliche Zukunftsszenarien

„Leitbild und normativer Rahmen der zu entwickelnden integrierten Digitalisierungsstrategien ist die Smart City Charta“, liest man auf der KfW-Website. Diese Smart City Charta ist 2017 aus der nationalen Dialogplattform Smart Cities hervorgegangen, die die Bundesregierung 2016 ins Leben gerufen hat. Laut KfW verfolgt die Smart City Charta „eine partizipativ entwickelte Strategie, in der die Entwicklung der räumlichen Strukturen und der Stadtgesellschaft ihrer Kommunen [sic] und die Digitalisierung gemeinwohlorientiert verknüpft werden“. Allerdings werden in der Smart City Charta auch Szenarien erwogen, die durchaus Befremden auslösen können. Im deutschsprachigen Raum hat sich der Journalist Norbert Häring am ausführlichsten mit der Charta befasst.

Zu diesen befremdlichen Zukunftsszenarien gehört etwa das einer „Post-Choice-Society“, in der eine künstliche Intelligenz für die Stadtbewohner Entscheidungen trifft. Diese Entscheidungen müssen sich nicht auf die Wahl des öffentlichen Verkehrsmittels beschränken, sondern können innerhalb einer „Post-Voting-Society“ auch die demokratische Mitbestimmung betreffen. Außerdem könnte die allgegenwärtige Verfügbarkeit von datengetriebenen Angeboten dazu führen, dass Menschen zunehmend auf persönliches Eigentum verzichten, heißt es. Große Schritte in Richtung einer solchen „Post-Ownership-Society“ geht man schon jetzt, Volkswagen etwa plant, sein Geschäftsmodell mehrheitlich auf digitale Dienstleistungen umzurüsten. Horizont ist auch hier das Jahr 2030.   

Wem das alles noch nicht futuristisch genug ist, der wird eingeladen, sich Gedanken über eine „Post-Energy-Society“ zu machen, in der angestrebt wird, „Energie auf Makro-, Mikro- oder Nanoskala [zu] generieren und zu speichern“. Wer nicht nur vom Internet of Things (IoT), sondern vielleicht auch schon vom Internet of Bodies (IoB) oder vom Internet of Bio-Nano Things (IoBNT) gehört hat, kann sich vorstellen, wohin die Reise gehen könnte: Menschen als lebendige Datenträger, der menschliche Körper als Daten-Mine. Praktisch, denn: Daten könnten nicht nur „Demokratie als das gesellschaftliche Feedbacksystem“ sondern auch „Geld als Währung ergänzen oder ersetzen“, heißt es auf Seite 43 der Smart City Charta.

Nun sind diese Vorschläge nur ein – ziemlich radikaler – Teil des irritierenderweise „Charta“ genannten Dokuments (ein Begriff, der sonst eher staats- und völkerrechtlichen Urkunden vorbehalten ist). Der radikale Teil stammt von Demos Helsinki, einem auf Gesellschaftsforschung spezialisierten Think-Tank, der unter anderem mit der finnischen Regierung an der Erfüllung der Agenda-2030-Ziele arbeitet. 2017 feierte Demos Helsinki mit der versuchs- und zeitweisen Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens als, wie es in der Smart City Charta heißt, „tragfähiges Konzept zur Existenzsicherung im digitalen Zeitalter“ einen seiner größten Erfolge.  

Offen für das Bonussystem

An der fachlichen Begleitung der deutschen Smart-City-Modellprojekte ist unter anderem die Prognos AG beteiligt. Das mehrheitlich im Besitz der Georg-von-Holtzbrinck-Verlagsgruppe befindliche Analyse- und Beratungsunternehmen mit Sitz in Basel wirft nach eigener Darstellung für Wirtschaft und Politik einen „Blick in die Zukunft“. Das hat Prognos zusammen mit der Z_punkt GmbH auch im August 2020 getan, und zwar für das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Die Studie „Zukunft von Wertvorstellungen von Menschen in unserem Land“ stellt insgesamt sechs Szenarien vor, wie die deutsche Gesellschaft ab dem Jahr – natürlich – 2030 aussehen könnte. Eines davon trägt den Namen „Das Bonus-System“.

Beschrieben wird dieses Szenario fünf als „[e]ine Gesellschaft, in der digitale Parameter die Rahmenbedingungen setzen, in der soziales Engagement über ein Punktesystem entsprechend erfasst und belohnt wird, die aber auch eine Tendenz der Desintegration und Spaltung enthält“. Das klingt ziemlich nach einem Leben in einer Smart City mit Tugend-Brieftasche. Und ziemlich nach China. Tatsächlich wird der Einsatz des chinesischen Sozialkreditsystems, welches nach Meinung einiger Experten und humanitärer Organisationen gegen grundlegende Menschenrechte verstößt, in der Studie explizit erwähnt. Allerdings als „erfolgreich“.

Auch andere Aspekte dieses Szenarios, wie etwa, dass Menschen „wichtige Lebensentscheidungen lieber auf Basis einer algorithmischen Empfehlung treffen als auf die eigene Einschätzung oder den Rat ihrer Freundinnen und Freunde und Familien zu vertrauen“, erinnern stark an die „Algo(rithmus-)kratie“ der Smart City.

Besonders bemerkenswert ist die Feststellung, dass der Klimawandel eine entscheidende Rolle bei der Akzeptanz dieses „disruptiven“ Szenarios spielen könnte: „Die Zustimmung zu diesem Punktesystem stieg in Deutschland auch durch die Dynamik des Klimawandels“, heißt es in der Studie. „Dies erzeugte Handlungsdruck zum Gegensteuern, wobei sich ein Punktesystem als effizienter Steuerungsmechanismus zum Umgang mit den Folgen des Klimawandels entpuppte (z.B. durch Punktebewertung des ökologischen Fußabdrucks)“.

Die „Tendenz der Desintegration und Spaltung“ betrifft im geschilderten Szenario lediglich eine Minderheit von „Dauerabgehängten“, denen es schwerfällt, ihre niedrige Punktzahl wieder aufzubessern und den gleichen Lebensstandard zu genießen wie die Hochbepunkteten.  

Das wohl Interessanteste an der Beschreibung des Szenarios ist aber dessen Plausibilisierung. So tendierten Menschen im Allgemeinen dazu, aus Bequemlichkeit ihre Daten herauszugeben und Freiheiten aufzugeben. Mittels einer Studie des Versicherungskonzerns ERGO wird außerdem darauf hingewiesen, dass 20 Prozent der Deutschen ein Sozialkreditsystem nach chinesischem Vorbild befürworten würden. Schließlich wird der Politologe Ivan Krastev mit seiner These angeführt, dass Chinas Antwort auf Covid-19 einen datengestützten Autoritarismus für Europa attraktiver gemacht haben könnte. Das sollte allerdings durch das No-Covid-Desaster in Shanghai inzwischen ausreichend widerlegt sein.

Auch Bayern hat Belohnungs-Pläne in der Schublade

Dass sogenanntes Nudging, also Anreizstrukturen und Subventionen, eingesetzt werden, um politische (Klima-)Ziele zu realisieren, dürfte in Deutschland mit seinen Prämien für E-Autos und Photovoltaik-Anlagen niemanden überraschen. Allerdings werden auch hier offenbar Wege beschritten, die deutlich die Grenzen der üblichen Anreizpolitik überschreiten: Im Zusammenhang mit Bologna haben einige deutschsprachige Blogs darauf hingewiesen, dass auch Bayern Pläne für ein Umweltschutz-Belohnungssystem in der Schublade liegen hat.

Im sogenannten Maßnahmenpaket zur „Klimaschutzoffensive“ von 2019 führt das bayerische Staatsministerium für Umwelt und Verbraucherschutz das Modell eines Nachhaltigkeits- oder Öko-Tokens ins Feld. Die Beschreibung klingt ähnlich wie die der App aus Italien: „Entwicklung eines Dokumentationssystems samt Bewertungsrahmen, bei dem Nutzer entsprechend ihres umweltbewussten Verhaltens Pluspunkte in Form der Nachhaltigkeitstoken[s] sammeln können; diese können dann bei Partnern für Vergünstigungen eingesetzt werden (Theater, Schwimmbad, ggf. Biomarkt)“.

Dass hier die Rede von „Tokens“ ist, verleiht dem Vorstoß allerdings noch einmal eine andere Dimension. Denn der Begriff stammt aus der Welt der Digitalwährungen beziehungsweise der Blockchain-Technologie und bezeichnet eine digitale Form von Vermögenswert. Was hat Nachhaltigkeits-Nudging mit digitalem Geld zu tun?

Der düstere Blick in die Zukunft

Es gibt einen Erklärungsansatz. Einen „Blick in die Zukunft“ derer, die der Verheißung einer vollständig technologisierten Lebenswelt für die demokratische Gesellschaft mehr als skeptisch gegenüberstehen. Sie sehen in der Einführung eines (nicht) bedingungslosen Grundeinkommens in Verbindung mit potenziell überwach- und steuerbarem digitalem (Zentralbank-)Geld und einem Sozialkreditsystem nach chinesischem Vorbild die drei zentralen Säulen einer totalitären Dystopie, die George Orwells und Aldous Huxleys kühnste Erwartungen übertreffen könnte.

In deren Szenario überwindet der moderne Kapitalismus seine systemimmanenten Grenzen, indem er mit dem politischen Steuerungssystem verschmilzt („Public-Private Partnerships“) und sich als Erwerbsquelle vollständig der sozial(konform)en Lebenswelt des Menschen zuwendet. Entsprechende Ansätze sind unter Namen wie Stakeholder-Kapitalismus, Social-Impact-Investment oder „Soziale Wirkungskredite“ bereits im Umlauf.  

Als dunkles Omen gilt der amerikanischen Bloggerin Alison Mc Dowell in diesem Zusammenhang das Baby in Tansania, dessen gesamtes Leben seit seiner Geburt 2018 als Reihe von messbaren Transaktionen per Blockchain aufgezeichnet wird. Dieser Vorgang entwirft schließlich den „digitalen Zwilling“ eines Menschen als potenzielles Investment, als Ware, als „human capital“.

„Wenn wir nur noch die Summe unserer Daten sind […] dann ist der gläserne Konsumbürger der neue Archetyp des Menschen“ schrieb Martin Schulz 2014 im oben zitierten Beitrag. Sollte eine solche Zukunft jemals eintreten, führt sie die Menschheit unter zivilgesellschaftlichen Gesichtspunkten von der Aufklärung direkt zurück ins finstere Mittelalter.

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