Bildungspolitik - Humboldt auf der Titanic

Das Abitur wird verschleudert, Studenten sind lustlos, Lehrer überfordert, Professoren wollen nicht lehren. Ohne eine Reform des Gymnasiums wird sich daran nichts ändern. Fünf Vorschläge für eine bessere Bildungspolitik

Erschienen in Ausgabe
Würde Wilhelm von Humboldt noch leben, er müsste glauben, sich auf der Titanic zu befinden / Illustration: Karsten Petrat
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Autoreninfo

Prof. Dr. Martin Wagener unterrichtet Internationale Politik mit dem Schwerpunkt Sicherheitspolitik am Fachbereich Nachrichtendienste der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Berlin.

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Deutschland bewegt sich auf eine Bildungskatastrophe zu. Diese Bewertung ist leider keine Polemik, sondern eine sich deutlich abzeichnende Entwicklung. Das Abitur sagt immer weniger über Hochschulreife aus, auch sehr schlechte Schüler bekommen das Abschlusszeugnis. An den Universitäten führt diese Inflation zu erheblichen Verwerfungen. Für meine Zunft, die Politikwissenschaft, kann ohne Übertreibung festgehalten werden, dass etwa ein Drittel der Studenten weitgehend bis vollständig studierunfähig ist. Ausbaden müssen es die Professoren, die sich regelmäßig fragen, ob sie wirklich an einer Institution unterrichten, die das Siegel „Hochschule“ verdient.

Vergessen wir einmal all die theoretischen Schriften zu den Themen Pädagogik und Bildungspolitik. Der Blick in die Praxis zeigt, wohin die Reise führt. Besonders irritierend sind die erheblichen Defizite der Studenten in den Bereichen Rechtschreibung und Interpunktion. Nur wenige Bachelor-Kandidaten können drei deutsche Sätze hintereinander fehlerfrei schreiben: „Die internationale Politik ist in der Kriese. Die Lage ist schwehr. Vieles bleibt ein Rätzel.“ Was von Dozenten anfangs noch mit Erheiterung zur Kenntnis genommen wurde, sorgt mittlerweile für verzweifelte Gesichter. Die Kommasetzung wird vom angehenden Hipster mutig außer Kraft gesetzt, höchstens 10 Prozent der Studenten beherrschen sie noch. Auch Singular- und Pluralbezüge werden gerade in längeren Sätzen oft nicht erkannt.

Nicht nur Genies kommen aufs Gymnasium

Verantwortlich für diese Lage sind die Gymnasien. Sie müssten leistungsschwache Schüler zügig aussieben, um einen anspruchsvollen Unterricht zu gewährleisten. Mangelnde Fähigkeiten in der Rechtschreibung könnten durch Diktate behoben werden, die aber immer mehr der Moderne zum Opfer fallen. Hinzu dürfte der Druck der Eltern kommen, die stets nur Genies in die Welt setzen und etwa in Niedersachsen eigenständig entscheiden sollen, ob sie ihre Kinder auf das Gymnasium schicken. Die Ergebnisse dieser staatlich garantierten Kompetenzanmaßung der Eltern sind absehbar. Das Gymnasium wurde einst geschaffen, um die künftige Elite des Landes auszubilden. Heute sind viele Lehrer nicht mehr als Mitglieder eines Aufräumkommandos, das familiären und politischen Fehlentwicklungen entgegenwirkt.

An deutschen Schulen wird nicht nur schlecht, sondern auch einseitig ausgebildet. Das bekannteste Beispiel: die zu intensive Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus im Geschichtsunterricht. Sie dient ab einem bestimmten Punkt vor allem der identitätspolitischen Beeinflussung der Schüler, um die bestehende Zivilreligion zu stärken. Für das Gegenwartsbewusstsein junger Studenten ergeben sich daraus Folgen. Die meisten verfügen nur über sehr selektives Wissen, soweit es um die Zeit nach 1945 geht. In einem kleinen Bilderquiz erkennt fast niemand Helmut Kohl, Willy Brandt, Konrad Adenauer oder Richard von Weizsäcker.

Nun können solche Defizite auf einseitig ausgelegte Unterrichtspläne geschoben werden. Die erkennbaren Bildungslücken haben aber auch etwas mit einer neuen Generation junger Menschen zu tun, die ein Amalgam mit der Spaßgesellschaft bilden. Auf Nachfrage geben selbst Studenten der Politikwissenschaft mit großer Mehrheit offen zu, keine Tageszeitung zu lesen. Das mit Abstand größte Problem sind die Ablenkungen der neuen Medien. Wer täglich mehrere Hundert SMS oder WhatsApp-Nachrichten abarbeitet, leidet ganz natürlich unter Konzentrationsproblemen. Im Unterricht ist es unübersehbar. Viele Studenten sind innerlich unruhig, das Textverständnis nimmt ab. Die neuen Medien vertiefen zudem das, was man postmoderne Legasthenie nennen kann. Wenn SMS oder WhatsApp-Nachrichten zum Schwerpunkt der täglichen Lektüre gehören, geschrieben in gebrochenem Deutsch, dann muss diese Unwucht Konsequenzen für den Spracherwerb haben.

Fehlanreize sind eine Katastrophe für die Arbeitshaltung

An der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung, an der ich unterrichte, gibt es ein weiteres Problem. Einzelne, unmotivierte Studenten wissen, dass sie die Laufbahnprüfung nur bestehen müssen, um vom künftigen Arbeitgeber übernommen zu werden. Ein „ausreichend“ auf dem Abschlusszeugnis kann durchaus genügen, um eine Lebenszeitstelle zu erhalten. Für die Arbeitshaltung im Seminarraum ist dieser Fehlanreiz eine Katastrophe. Ursache ist die fatale Logik von Großbürokratien, vorgegebene Einstellungsquoten erfüllen zu wollen – oft unabhängig von der Qualität der Absolventen. Geradezu irrsinnig ist es, lustlosen Studenten, die weder die Diplomarbeit noch die mündliche Abschlussprüfung bestehen, eine zweite Chance einzuräumen. Sie erhalten dazu weiter monatliche Anwärterbezüge in Höhe von über 1100 Euro, die vom Steuerzahler zu erbringen sind. Kritik an diesem Missstand wird mit Hinweisen auf bestehendes Recht pariert. Um die Sache selbst geht es nicht.

Deutschland ist ein rohstoffarmes Land und muss daher auf die Ressource Bildung setzen. Die politischen Entscheidungsträger wissen es, ziehen daraus aber keine angemessenen Schlussfolgerungen. Die Bildungspolitik ist, vor allem wegen der Länderkompetenzen, zur parteipolitischen Spielwiese verkommen. Der Unterricht wird zum Laborversuch, der für ideologische Tests linker Zeitgenossen herhalten muss. Wer die deutsche Bildungslandschaft wieder auf die Füße stellen möchte, könnte sich an den folgenden fünf Vorschlägen orientieren:

1.

In der Grundschule muss der Unterricht ab der ersten Klasse auf Kernkompetenzen ausgerichtet werden: Lesen, Schreiben, Rechnen! Die Anlauttabelle ist abzuschaffen, da sie gezielt falsche Denkpfade anlegt. Auch haben Computer vor der siebten Klasse nichts im Unterricht verloren. Die Schüler sollen sich mit Stift und Papier auseinandersetzen. Zum Streicheln braucht man kein Tablet, dafür gibt es Vater und Mutter. Im Alter von sechs bis zwölf Jahren sind Neugier und Lernbereitschaft der Schüler zu nutzen, um ein sicheres Fundament für die weitere Ausbildung zu schaffen. Im Unterricht darf grundsätzlich nicht der Schwächste das Tempo vorgeben.

2.

Es muss dann ausschließlich den Lehrern obliegen, darüber zu entscheiden, ob ihre Schüler das Gymnasium besuchen oder nicht. Eltern sind in dieser Frage in einer ganz natürlichen Weise emotional vorbelastet. Und sie können durchaus fatale Entscheidungen treffen: Wer selbst kein Abitur hat, möchte vielleicht auch gar nicht, dass sein Kind ein Gymnasium besucht, obwohl es die Begabung hätte. Andererseits ist die Neigung vieler Eltern unverkennbar, ihre Sprösslinge unbedingt das Abitur machen zu lassen, obwohl sie deutlich besser auf einer Realschule aufgehoben wären. So bekommen Kinder ständig negative Rückmeldungen auf dem Gymnasium – mit weitreichenden Folgen für das eigene Selbstbewusstsein und die künftigen Berufsaussichten.

3. 

Nur die besten Lehrer dürfen am Gymnasium unterrichten. Und sie müssen mit Freiheiten ausgestattet werden. Wer Standards setzt, darf nicht der Gefahr ausgesetzt sein, dafür von den Kollegen gescholten zu werden. Die Eltern müssen selbstverständlich das Recht haben, sich über soziale Verfehlungen von Lehrern zu beschweren. Sie haben sich jedoch nicht in die Ausbildung ihrer Kinder einzumischen, nur weil diese den Lernstoff nicht bewältigen können. Ist dem so, bietet sich der Wechsel vom Gymnasium zur Realschule an. Diesen Wechsel haben auch die Lehrer zu befördern, soweit es angebracht ist. Wer nicht will oder nicht kann, muss das Gymnasium verlassen. Soziale Noten helfen Schülern langfristig nicht. Sie sind eher Ausdruck emotional überforderter Lehrer, die kritische Blicke ihrer Zöglinge nicht aushalten.

4.

Die Entscheidung einzelner Bundesländer, vom achtjährigen Gymnasium G 8 zum G 9 zurückzukehren, um jungen Persönlichkeiten die notwendige Zeit zum geistigen Reifen einzuräumen, ist richtig. An den beschriebenen Defiziten wird sie gleichwohl wenig ändern. Dazu müsste die Schulkompetenz der Länderzuständigkeit entzogen werden, um ein bundesweit einheitliches Abitur zu schaffen – am besten auf dem Niveau Bayerns. Es sollte sich daran orientieren, nicht mehr als maximal 25 Prozent eines Jahrgangs die Hochschulreife zu bestätigen. Ein solcher Anteil würde der tatsächlichen Verteilung von Begabungen in der deutschen Gesellschaft weitaus gerechter werden als die derzeitigen 50 und mehr Prozent eines Jahrgangs, die das Abitur machen. Die aktuelle Quote folgt politischen Vorgaben und hat nichts mit tatsächlichen Leistungen zu tun.

5.

Bei der Berufung der Professoren an den Universitäten muss die Lehrkompetenz stärker gewürdigt werden. Momentan werden einseitige Anreize gesetzt. In der Berufungskommission reüssiert, wer in hochrangigen Fachzeitschriften publiziert und sich bei der Einwerbung von Drittmitteln bewährt hat. Da die Promovierten darum wissen und auch im Stand der Professorenschaft erfahren, Leistungszulagen nicht für gute Lehre zu bekommen, ist bei einigen Kollegen die Arbeitsmotivation im Hörsaal begrenzt. Im Unterricht selbst sollten sich dann auch Professoren nicht zu schade sein, Standards zu setzen. Wer nicht pünktlich zum Unterricht kommt und die Vorbereitungstexte nicht liest, wird von der Veranstaltung ausgeschlossen. Um die abnehmende Sprachkompetenz zumindest zu lindern, werden die Hochschulen über verpflichtende Deutschkurse für Inländer nachdenken müssen.

Viele Kollegen lehnen diese Standards ab und setzen auf das intrinsisch motivierte Individuum. Theoretisch ist diese Haltung sehr zu begrüßen, sie scheitert bei vielen Studenten allerdings an der Praxis. Es sollte daher auch in der Verantwortung des Professors liegen, jungen Menschen Wege in eine berufliche Zukunft aufzuzeigen. Dazu gehört der Hinweis, für bestimmte Studienfächer fachlich nicht geeignet zu sein. Wer Studenten aus sozialen Gründen durch wohlwollende Noten im Hochschulsystem hält, versündigt sich an ihrer Zukunft. Die Chancen auf dem Arbeitsmarkt werden nach der universitären Tortur eines Langzeitstudenten nicht besser.

Leistungselite lohnt sich 

Die Politik hat es zum Prinzip erhoben, Leistungsstandards mit der Planierraupe einzuebnen. Dies hat einen weiteren Grund: die verbreitete Elitenfeindlichkeit in Teilen der deutschen Gesellschaft. Wenn der SPD-Kanzlerkandidat auch deshalb zunächst an Zustimmung gewann, weil er kein Abitur hat, und zugleich versprach, die „Reichen“ stärker besteuern zu wollen, muss dieser Zweiklang befremden. Martin Schulz blendet aus, welche Bevölkerungsgruppe soziale Träume finanzierbar macht. Die oberen 10 Prozent der Steuerzahler zeichnen für über 50 Prozent des Einkommenssteueraufkommens verantwortlich. Es lohnt sich also auch gesellschaftlich, eine Leistungselite zu fördern.

In der Ausbildung von Schülern und Studenten muss dringend neu angesetzt werden. Würde Wilhelm von Humboldt noch leben, er müsste glauben, sich auf der Titanic zu befinden. Der Bildungstanker hat den Eisberg längst gerammt, einst hochgehaltene Ideale werden aufgeweicht. Im Gegensatz zu 1912 ist die gegenwärtige Kollision jedoch keine Überraschung. Lehrer und Hochschuldozenten mahnen immer wieder eine Kursänderung an. Die Kapitäne der Politik schaffen es jedoch nicht, das Ruder herumzureißen. Hoffentlich ist noch etwas Geld in der Kasse, um die Seebestattung zu bezahlen.

 

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