Berliner Runde - Die Konsensrepublik ist Geschichte

Munter, rau, mit offenem Visier: Wenn diese „Berliner Runde“ ein Vorgeschmack war auf künftige Bundestagsdebatten, dürfen wir uns darauf freuen. Die Kanzlerin aber sieht sich zur Staatsbürgerin und Verliererin zurückgestuft

Der Titel der Berliner Runde hätte auch lauten könnten „Wehe, wenn sie losgelassen“ / Screenshot ARD
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Alles bleibt anders. Dieser Slogan trifft nach einem allseitig heiklen Wahlergebnis auf die Bundespolitik der nächsten Jahre zu. Und er traf in geradezu enzyklopädisch vorausschauender Weise auf eine „Berliner Runde“ zu, die ganz gewiss einmal legendär genannt werden wird.

Noch nie saßen wie an jenem denkwürdigen 24. September 2017 zwischen 20.15 und 21.15 Uhr derart viele Mitstreiter und Moderatoren zu diesem ritualisierten öffentlich-rechtlichen Zweck zusammen – es waren neun Teilnehmer, von denen jeweils vier gemeinsam ins Bild passten –, noch nie war es eine derart eindrückliche Farborgie in allen denkbaren Blauschattierungen – dunkelblau, azurblau, navyblau die Kleider, hellblau der Unterbau des Riesentischs, blau die Rückenlehnen der Sessel, blau schimmernd der Studiohintergrund –, und noch nie stand alles Keifen und Schnattern und Argumentieren im Bann einer neuen Partei, die ebenfalls das Blau zu ihrer Farbe erkoren hat, der „Alternative für Deutschland.“ Wenn die Debatten im Bundestag nur halbwegs einlösen, was diese „Berliner Runde“ versprach, werden es muntere, fallweise raue, manchmal polternde, nie langweilige Jahre im Plenum und in der Öffentlichkeit sein. Was einer Republik, die diesen Namen verdient, nur gut tun kann. Mit Goethe gesprochen: „Luft, Luft, Clavigo!“

Endlich losgelassene und gelöste Politiker

Die Titel für diese „Runde“ in ARD und ZDF nach der Wahl zum 19. Deutschen Bundestag könnten lauten: „Wehe, wenn sie losgelassen“, „Martin außer sich“ oder „Der kurze Weg zum langen Abschied“. Losgelassen fühlten sich nun, da die Zahlen, die Zensuren sind, auf dem Tisch lagen, alle: die Politiker mussten keine Rücksicht mehr nehmen auf eine launische Klientel, die sich mit der einen oder anderen falschen Tonlage vielleicht in die Flucht hätte schlagen lassen. Der Zunge waren alle Fesseln gelöst, das Kalkül blieb in der Garderobe, das Visier zu Hause. Auch die beiden Moderatoren, Peter Frey vom ZDF und Rainald Becker von der ARD, sonst routinierte Weihrauchschwenker in den Gängen der Macht, waren auf Differenz und Widerwort gebürstet.

Ihnen alle möchte man zurufen: Bitte mehr davon! Und künftig nicht nur im Nachgang, wenn die Schlachten geschlagen sind, sondern mitten auf dem Tummelplatz der Republik. Nur Mut, ihr Fernsehleute und ihr Politprofis, schärft die Argumente, kungelt nicht, seid nicht Liebkind mit jedermann, betet nicht die Litanei des Einverständnisses, haltet Nicken nicht für Denken, sondern stürzt euch mittenmang in die Debatten. So wie in dieser „Berliner Runde“.

Schulz als würdiger Gegenspieler

Martin Schulz redete sich, im Gegensatz zur Entrüstung von FDP-Chef Christian Lindner, nicht „um Kopf und Kragen“. Er war endlich einmal der Bundeskanzlerin ein würdiger, ein harter Gegenspieler. Warum nur hatte er im einzigen „TV-Duell“ derart viel Kreide gefressen und sich so aller Chancen beraubt? Wie anders klang es nun, wenn er Angela Merkel einen „skandalösen“, da unpolitischen Wahlkampf vorwarf, die CSU zum willfährigen „Anhängsel“ der CDU herabstufte und spöttisch prophezeite, Merkel werde „jede Konzession“ machen, um die Grünen und die Liberalen ins Regierungsboot zu holen, das sei nun mal ihre Methode als „Ideenstaubsauger“, „da bin ich ganz sicher.“ Wenn die CDU-Vorsitzende auf eine Neuauflage der Großen Koalition setze, habe sie nicht begriffen: „Diese Regierung ist abgewählt, und Sie sind die größte Verliererin!“ Martin war außer sich und bei sich im selben Moment und also authentisch.

Die Angesprochene schaute verdutzte, nannte es „etwas traurig“, wenn die gemeinsame Arbeit der vergangenen vier Jahre so negativ charakterisiert werde. Die Regierung sei noch immer im Amt, und zwar „in stürmischen Zeiten“. Schon die Flucht ins Legalistische war eine von vielen Defensivbewegungen, mit der sich an diesem Abend ein rasanter Abschied von der Macht vollzog. Wann hat man es je erlebt, dass eine Regierungschefin eigens auf ihr Amt hinweisen muss, „ich bin Kanzlerin der Bundesrepublik“? Wann, dass sie brav warten musste, bis der Moderator ihr das Wort erteilte, der sie obendrein als „Frau Merkel“ ansprach? Rainald Becker tat es um 20.41 Uhr, und damit war ein Damm gebrochen.

Mutti erzählt vom Krieg

Aus der „mächtigsten Frau der Welt“ war eine Staatsbürgerin geworden, mit der niemand koalieren will. Fortan konnte Merkel nur auf den Glanz zurückliegender Tage verweisen, auf Weltprominente, mit denen sie auch „in Zukunft“ Umgang zu haben gedenke, Monsieur Macron etc. Ein müdes Selbstzitat war ihr Schlussstatement, sie sei „immer zuversichtlich“, und in der Ruhe liege die Kraft. Mutti erzählte vom Krieg. Es war der Abgang einer Diva, die ihre Rolle noch beherrscht, aber kein neues Engagement mehr erhält, weshalb sie nur die alten Texte wiederholen und wiederholen und wiederholen kann. Bis das Publikum gegangen ist.

Was wurde uns noch geboten? Ein Ausblick auf die Kabbeleien zwischen FDP und Grünen im Streit von Christian Lindner und Katrin Göring-Eckardt zur Frage, wie man „ökologische Energie“ ins Tagesgeschäft übersetzt - „es wird schwierig, es wird kompliziert werden“ (Göring-Eckardt). Eine parteiübergreifende Bereitschaft zur Medienschelte, denn die öffentlich-rechtlichen Medien hätten durch Themenverengung die AfD erst groß gemacht (Katja Kipping von der Linkspartei und Joachim Herrmann von der CSU), oder sich zu unangemessen belehrenden Tönen gegenüber Politikern verstiegen (Martin Schulz). Frey und Becker hörten es mit wachsendem Ingrimm, und Frau Merkel schwammen weitere Felle davon, als sie da nicht mittun wollte und für Minuten ins Brüten verfiel.

Der Beelzebub von der AfD schnurrt nur sanft

Den Beelzebub sollte Jörg Meuthen von der AfD geben, der sich dann dieser Rollenzuteilung verweigerte. Offen bleiben muss die Frage, inwieweit das sanfte Schnurren des Professors für seine Partei symptomatisch ist oder eher die bürgerliche Fassade markiert. Meuthen bekannte sich an diesem Abend zur EU und einem „Europa der Vaterländer“, verurteilte Ausländerfeindlichkeit und Rassismus und stellte Streit „im guten demokratischen Diskurs“ in Aussicht: „Ich akzeptiere, dass jemand anderer Meinung ist“, aber mit ihm seien nun einmal viele Deutsche der Ansicht, es vollziehe sich im Zuge der Massenmigration „eine sukzessive Auflösung der Nation.“ Freilich gehörten zum deutschen Volk auch „Menschen mit Migrationshintergrund“, die bestens integriert seien.

Angesichts der Tatsache, dass über eine Million Nichtwähler, eine Million CDU/CSU-Wähler und eine halbe Million SPD-Wähler zur AfD wanderten, dürfte es eine interne AfD-Mehrheit geben für solche Positionen eines freiheitlichen Patriotismus. Wie's freilich auf Funktionärs- und Mandatsebene aussieht, bleibt im Dunkeln, bis diese „Berliner Runde“ ihre Fortsetzung finden wird in der ersten Sitzung des neuen Bundestags. Soviel wissen wir sicher: die Konsensrepublik ist Geschichte.

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