Antisemitismus - „ Der Exodus der Juden wird weitergehen“

Ist der Islam antisemitisch? Wie verändert die Migration die deutsche Erinnerungskultur? Kann Solidarität mit Israel von zugewanderten Syrern oder Irakern verlangt werden? Ein jüdisch-muslimisches Gespräch zwischen dem Historiker Michael Wolffsohn und dem Journalisten Eren Güvercin

Für Eren Güvercin ist klar: „Es gibt muslimischen Antisemitismus. Das müssen wir Muslime beim Namen nennen.“  / Fotos: Max Kratzer
Anzeige

Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

So erreichen Sie Alexander Kissler:

Anzeige

Unlängst wurde bekannt: Der beliebteste Name für neugeborene Babys in Berlin ist Mohammed. Freut Sie das, Herr Güvercin?
Eren Güvercin: Zunächst einmal amüsiert mich die breite mediale Aufmerksamkeit für diese Nachricht. Dann befremdet mich die vorhersehbare Dynamik aus Empörung und Gegenempörung. Obwohl ich Muslim bin, sehe ich das Spektakel aus der Position eines Beobachters. Es betrifft mich eigentlich nicht. 

Wie sehen Sie das, Herr Wolffsohn? Manifestiert sich in der zunehmenden Häufigkeit des Jungennamens Mohammed eine schleichende Islamisierung?
Michael Wolffsohn: Das wäre zu einfach. Ich habe zwei Bücher geschrieben über Vornamen als vordemoskopische Indikatoren – einmal über „die Deutschen“, einmal über „die Juden“. Vornamen sind ein gesellschaftlicher Maßstab. Die Häufigkeit muslimischer Vornamen deutet darauf hin, dass die muslimische Gemeinschaft ein starkes, sich von der Mehrheitsgesellschaft abgrenzendes Wir-Gefühl hat. Sie sind zugleich Staatsbürger wie alle anderen und wollen doch nicht so richtig dazugehören. Das war und ist bei Juden ganz anders. Die wählten allgemeine Vornamen. Auf jeden Fall erkennen wir hier eine Herkulesaufgabe für die Integrationspolitik.

Nicht zuletzt durch die Migration nach Deutschland wächst der Anteil der hier lebenden Muslime. Freut Sie das auch nicht, Herr Güvercin?
Güvercin: Warum sollte es? Ich kann Sie beruhigen: Die Zuwanderung von syrischen oder afghanischen Flüchtlingen verleitet mich nicht zu einer muslimischen Machtfantasie. Das Wachstum einer Gemeinschaft bedeutet noch nicht, dass diese vitaler wird. Für mich ist die Anzahl der Muslime irrelevant. Entscheidend ist, ob ich in diesem Land meine Religion praktizieren kann. Es gibt Länder, in denen 99 Prozent Muslime leben, ich aber meine Religion nicht so ausüben kann wie in Deutschland. 

Woran denken Sie da?
 

Eren Güvercin

Güvercin: Meine Eltern stammen aus der Türkei, während ich in Köln geboren wurde und ein deutscher Muslim bin, ohne Migrationshintergrund. Als freier Journalist reise ich seit drei Jahren nicht mehr in die Türkei. Das dortige politische System hat sich in eine Richtung entwickelt, die ich nicht gutheißen kann – obwohl Erdogans AKP vermeintlich religiös argumentiert und auftritt. 

Mit den zuwandernden Muslimen bekommt der hiesige Islam ein anderes Gesicht. Könnte daraus ein Problem erwachsen?
Wolffsohn: Vielfalt ist immer Chance und Gefahr zugleich. Die Probleme sind offenkundig. Siehe Vornamen. Unsere Gesellschaft steuert zudem auf massive Ausbildungsprobleme und damit auch auf ökonomische Probleme zu, weil eher bildungsferne Schichten zuwandern.

Güvercin: Meinen Sie mit bildungsfernen Schichten Migranten aus Syrien, Afghanistan und anderen Teilen der islamischen Welt?

Wolffsohn: Was Bildung und Einkommen anbelangt, befinden sich die hier lebenden Muslime mehrheitlich im unteren Bereich.

Güvercin: Meine Eltern waren einfache Arbeiter, meine Mutter ist Analphabetin – die klassische Gastarbeitergeneration.

Wolffsohn: Damit sind Sie eine erfreuliche Ausnahme. Auf das Gemeinwesen kommt die anspruchsvolle Aufgabe zu, Bildung, Kultur und Gemeinschaft neu zu entwickeln. Zweitrangig ist dabei die Frage nach der Religion, erstrangig sind die Schichten und Milieus, denen die Zuwanderer entstammen. Hinzu kommt: Wenn die soziokulturelle Schere sich weiter öffnet, wird bei denen, die die Schwächeren unterstützen, der Widerstand gegen diese Förderung wachsen. Erst recht, wenn die Unterstützten sich abgrenzen. Das hat nichts mit Rassismus zu tun.

Dennoch kann man den religiösen Faktor nicht ausklammern. Bassam Tibi etwa warnt vor einem „neuen Antisemitismus islamischer Migranten“ und schreibt: „Mit den islamischen Nahostflüchtlingen gelangt Judenhass nach Deutschland.“
Wolffsohn: Judenhass ist 3.000 Jahre alt und keine muslimische, sondern eine altägyptische Erfindung. Bassam Tibi hat mit seiner Diagnose recht, aber das Zitat muss um die zeithistorische Perspektive erweitert werden. Bereits seit den sechziger Jahren wandern Menschen aus den Konfliktbereichen des Nahen Ostens zu.

Güvercin: Wir als muslimische Gemeinschaft tun uns keinen Gefallen, wenn wir sagen, dass es im Islam keinen Antisemitismus gäbe. Das sind Floskeln, die zwar immer wiederholt werden, aber am Ende nicht überzeugend wirken, denn es gibt Muslime, die antisemitisch sind. Ich denke, dass wir als deutsche Muslime eine große Verantwortung haben, neu zugewanderten Muslimen Sensibilitäten unserer Gesellschaft zu vermitteln. Nicht mit dem moralischen Zeigefinger, sondern basierend auf der islamischen Lehre und vor dem Hintergrund der besonderen deutschen Geschichte. In der arabischen Welt gehört der Nahostkonflikt zur Volkspsyche. Salafisten oder Terrorgruppen wie die Hamas, aber auch die Regierungen in Teheran und Istanbul bedienen bewusst mit einer religiösen Rhetorik diese Ressentiments. Erdogan hielt im Mai vor rund 15.000 Jugendlichen eine Rede über die edlen Eigenschaften eines Muslims. Ein Muslim schlage auf einen Gegner, der bereits am Boden liegt, nicht ein. Aber, so Erdogan, „der Jude macht das“. 

Der Koran enthält judenfeindliche Passagen, oder?
Güvercin: Zur Entstehungszeit des Korans in Medina gab es weltliche Konflikte mit andersgläubigen Stämmen. Der Koran wurde anlassbezogen offenbart, und darum wurden in ihm auch diese Konflikte thematisiert. Leider ging in der Koranexegese der vergangenen 150 Jahre die Erkenntnis verloren, dass man den Koran nicht aus seinem historischen Kontext reißen und wie einen Werkzeugkasten nutzen kann. Es gab eine extreme Ideologisierung und Politisierung der muslimischen Gelehrsamkeit. Man muss aber Verse in den historischen Kontext einbetten. Sonst kann man damit Schindluder betreiben. Wenn ein Muslim in Berlin einen Juden angreift, können wir uns nicht den Luxus erlauben, darin einen Einzelfall zu erblicken und jede Diskussion damit abzublocken. Es gibt muslimischen Antisemitismus, und zu viele muslimische Akteure greifen aus machtpolitischen Gründen auf antijüdische Narrative zurück. Das müssen wir Muslime beim Namen nennen. 

Findet eine solche innermuslimische Debatte genügend statt? Wie ist da Ihre Wahrnehmung, Herr Wolffsohn?
Wolffsohn: Ich stelle es mir sehr schwierig vor. Es gibt in jeder Gemeinschaft Extremisten, gegen welche die Nichtextremisten einen schweren Stand haben. Momentan besteht die größte extremistische Gefahr, eine Religion wörtlich auszulegen, in der islamischen Gemeinschaft. Aber auch das hat der Islam nicht erfunden. Das Alte Testament, etwa das Buch Esra, ließe sich ebenfalls wörtlich und zur Legitimation von Gewalt deuten. Antijüdische Polemik finden wir im Neuen Testament. Im frühen Islam, im Koran und den Hadithen, gibt es antijüdische und antichristliche Stellen. Dann kommen liberale Muslime wie Sie und machen den historischen Kontext stark. Jedenfalls ist auf der muslimischen Aktionsebene die Fundamentalisierung leider unbestreitbar.

Güvercin: Man muss nicht liberal sein. Man darf auch orthodox oder konservativ sein – solange es nur die eigene Lebensführung betrifft. Wir wissen, Mohammed hatte einem jüdischen Stamm …

Wolffsohn: … den Quraiza …

Güvercin: … den Krieg erklärt. Aus rein weltlichen Gründen. Es gab den Vorwurf des Vertragsbruchs und der Illoyalität. Wenn diese Konflikte aber nicht als historische Bezüge wahrgenommen werden, sondern als ahistorische Grundaussagen zum Verhältnis zu Juden, dann besteht die Gefahr, dass diese Konflikte als Grundbeziehung zum Judentum generalisiert werden. Dann wird die Erfahrung einer historischen Auseinandersetzung zum Anlass, eine grundsätzliche Gegnerschaft zu begründen. Die Ablehnung des Judentums wurde jedoch nie zu einem religiösen Gebot. Sonst hätten viel mehr solcher schlimmer Vorfälle stattgefunden. 

Dem Massaker an den Quraiza sollen über 700 Menschen zum Opfer gefallen sein. Sie wurden auf Geheiß Mohammeds geköpft. Das muss man ein antijüdisches Pogrom nennen.
Wolffsohn: Klar. Die sehr ernst zu nehmende internationale Forschungsgruppe Inârah etwa geht davon aus, dass Mohammed nur als Chiffre fungiert, nicht als historische Figur. So oder so: Es gab heftige Auseinandersetzungen zwischen der entstehenden islamischen Gemeinschaft und älteren Gruppen. Abgrenzungsphänomene zum Früheren finden wir in allen Religionen. So drückt sich hier der islamische Anspruch aus, Judentum und Christentum vervollkommnet zu haben. 

Der Journalist Constantin Schreiber hat rund 100 Schulbücher aus muslimischen Ländern untersucht und fand fast überall „frauenfeindliche, rassistische und antisemitische Ausfälle“. Wie sind diese Vorprägungen in den Köpfen derer zu überwinden, die hierherkommen?
Wolffsohn: Erstens durch Erziehung. Durch die Gesellschaft. Zweitens durch den Staat, sprich: konsequente Anwendung der Gesetze.

Güvercin: Wir dürfen es uns nicht so einfach machen und alle Probleme an Staat und Gesellschaft delegieren. Das machen manche Verbandsfunktionäre gerne. Bei der Vermittlung der deutschen Erinnerungskultur an zugewanderte Menschen mit einem ganz anderen biografischen Hintergrund sollten die Muslime eine Schlüsselrolle spielen. Erinnerungskultur muss verstärkt neu gedacht und konzipiert werden. Die Generation der Zeitzeugen stirbt aus. Es gibt in migrantischen Familien nicht die Frage danach, was die Eltern oder die Großeltern im Krieg gemacht haben. Wenn ich in Köln zum Freitagsgebet die Ditib-Moschee besuche, sehe ich zu rund 30 Prozent zugewanderte Flüchtlinge. Wo diese ideologischen Ballast mit sich bringen, müssen wir als muslimische Community sensibel sein und uns kümmern. Bei antisemitischen Stereotypen müssen wir widersprechen. Man hört zum Beispiel oft, an der schlechten wirtschaftlichen Lage der Türkei sei die „jüdische Zinslobby“ schuld. Das darf so nicht stehen bleiben.

Wolffsohn: Das ist sehr ehrenwert, klingt aber nach einem Selbstmordkommando. Wie soll das gelingen?

Güvercin: Das ist machbar. Man muss sich die Zeit nehmen, muss mit einem Imam, der oft nur ein paar Jahre hier ist und die deutschen Befindlichkeiten gar nicht kennt, sprechen.

Wolffsohn: Ich habe meine Zweifel. Der Mensch an sich ist feige. Und bequem. Darum wird das nicht klappen.

Güvercin: Ich muss zumindest von einem muslimischen Bürger, der sich als Teil dieser Gesellschaft versteht, und von muslimischen Verbänden, die die Muslime repräsentieren wollen, erwarten können, dass sie sich dieser Mühe unterziehen.

Wolffsohn: In einer Gemeinschaft, deren Mainstream in eine andere Richtung fließt, verlangt solche Arbeit herkulische Kräfte. Im Islam dominiert derzeit die reaktionäre Orthodoxie.

Güvercin: Das mag von außen so erscheinen, meine Erfahrungen sind anders. Seit zwei Jahren bietet die von mir mitgegründete Alhambra-Gesellschaft im Internet die „Freitagsworte“ an. In einem Text mit dem Titel „Moses lieben, Juden hassen?“ geht es um Antisemitismus unter Muslimen. Es war der erfolgreichste Text überhaupt und erhielt enorm viel positives Feed­back. Mit Inhalten, die die betroffene Gruppe auch direkt ansprechen, kann man viel erreichen.

Wolffsohn: Was immer die Gesellschaft und die Moscheegemeinden tun: Grundlegend für gelingendes Zusammenleben ist die Durchsetzung des Gesetzes. Da hapert es. Wir haben aus historisch verständlichen Gründen einen Staat, der sich nicht traut, die vorhandenen Gesetze anzuwenden – bis hin zur Rechtsprechung.

Welche Fälle meinen Sie?
Wolffsohn: Es gibt das bekannte Frankfurter Urteil, wonach die Misshandlung einer Frau unter der Berücksichtigung islamischer Kultur zu dulden sei. Auch die Vielehe wurde gerichtlich schon toleriert. Das geht gar nicht. Niemand wird gezwungen, sich in Deutschland aufzuhalten. Die Gesetze müssen strikt angewandt werden. Unser Staat nimmt sich da nicht ernst genug. 

Damit wäre die Erinnerungskultur nicht gesichert.
 

Michael Wolffsohn

Wolffsohn: Die Akteure der Erinnerungskultur bewegen sich in die falsche Richtung. Sie haben vergessen, dass die Schreckensjahre 1933 bis 1945 keine rein deutsche Angelegenheit waren. Sonst könnten Muslime zu Recht darauf verweisen, nichts mit dieser Erinnerung zu tun zu haben. Der Tod ist, mit Paul Celan gesprochen, „ein Meister aus Deutschland“, aber er hatte viele Gesellen in Europa. In Kroatien, in der Ukraine, im Kaukasus, in ganz Nahost gab es Kollaboration. In der Vorgeschichte des Zweiten Weltkriegs arbeiteten arabisch-islamische Staaten, Iran und Irak etwa, mit Deutschland zusammen gegen Großbritannien. Die deutsche Erinnerungskultur krankt daran, dass sie auf Taten von Deutschen reduziert wird. Der muslimischen Community in ganz Europa wird nicht hinreichend klargemacht, dass dieses Erinnern ein gemeinsames Thema ist.

Güvercin: Der Besuch von Auschwitz mit Flüchtlingen führt nicht automatisch dazu, dass antisemitische Stereotype überwunden werden. Mein Vorschlag wäre, an den familiären Background der Muslime anzuknüpfen. In der Türkei gab es Ende der zwanziger Jahre massive Pogrome gegen die jüdische Minderheit. Das wird im türkischen Kontext überhaupt nicht thematisiert, zumal es religiös überhöht worden war. Und 1955 gab es Pogrome gegen die christliche Minderheit in Istanbul. Der hierfür Verantwortliche wird heute in der Türkei als Held verehrt.

Wolffsohn: Gleichwohl muss sich die Erinnerungskultur grundlegend ändern. Wäre ich Muslim und würde deutsche Reden zum Holocaust hören – ich fühlte mich nicht angesprochen.

Was machen wir dann mit dem Satz, Israels Sicherheit sei Deutschlands Staatsräson? Wird man je von einem eingedeutschten Syrer oder Iraker verlangen können, da zuzustimmen?
Wolffsohn: Es gibt keine Staatsbürgerschaft à la carte. Mit ihr gehen Verpflichtungen der Gemeinschaft gegenüber einher. Insofern: Teil der deutschen Haftungsgesellschaft ist jeder mit deutscher Staatsbürgerschaft. Niemand wird gezwungen, nach Deutschland zu kommen. Der eingedeutschte Syrer oder Iraker muss dem zitierten Satz zustimmen. Unter uns: Der Satz ist eine Phrase. Soll die kaum kampffähige Bundeswehr Israel sichern? 

Sie vertrauen offenbar auf die pädagogisierende Kraft der Mehrheitsgesellschaft.
Wolffsohn: Auf der Makroebene bin ich sehr pessimistisch. Die Kluft zwischen der altdeutschen und der jüdischen Community wird größer. Die Kluft zwischen der Mehrheit der muslimischen Community und der jüdischen Community wird ebenfalls wachsen. Und was die deutsche Staatsräson anbelangt: Glücklicherweise braucht Israel Deutschlands Hilfe nicht. Sollte Israels Untergang bevorstehen und Israel auf deutsche Hilfe angewiesen sein, wäre Israels Untergang besiegelt. Weder wäre die Bundeswehr zur Hilfe in der Lage noch die deutsche Gesellschaft zur Hilfe bereit. Auch die Politik der Bundeskanzlerin, die im März 2008 von der Staatsräson gesprochen hat, folgt ihrem eigenen Prinzip keineswegs. In der altdeutschen Gesellschaft überwiegt eine klare, manchmal brutale Distanzierung von Israel.

Dann können sich zugewanderte Israelhasser hier ohne mentale Anpassungsleistung wohlfühlen.
Wolffsohn: Ja, sie stoßen mit ihrem Antizionismus auf großes Verständnis. Wir Juden werden nicht verfolgt, es ist kein neuer Holocaust zu erwarten. Aber die Perspektiven im Alltag sind negativ. Die Zuwanderung hat die Lage verschärft. „Die Juden“ werden als der verlängerte Arm des verhassten israelischen Staates gesehen. Ich erwarte für die jüdische Gemeinschaft nichts Gutes. Schauen Sie nach Frankreich: Ein Fünftel der Juden ist in den Jahren 2000 bis 2018 ausgewandert. Die Polarisierung wird auch hierzulande auf Kosten der jüdischen Gemeinschaft stattfinden.

Güvercin: Darum vermisse ich Solidarität der muslimischen Community mit der jüdischen Gemeinschaft. In umgekehrter Richtung äußert sich der Zentralrat der Juden regelmäßig.

Wolffsohn: Leider werden als Vertreter der muslimischen Gemeinschaft Organisationen wahrgenommen, die quantitativ wie qualitativ auf Abgrenzung setzen. Im sogenannten Zentralrat der Muslime sind von den rund 4,5 Millionen Muslimen hierzulande gerade einmal 15 000 bis maximal 20.000 vertreten. Bei Ditib sind es 150.000. Diese Zahlenverhältnisse werden von Politik und Medien komplett ignoriert. Mit einer falschen Diagnose aber können Sie keine richtige Therapie einleiten.

Güvercin: Beim Blick auf die realen Mitgliederzahlen ist die Bezeichnung Zentralrat der Muslime natürlich ein geschickter Marketingmove. Und die Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus in den eigenen Reihen kann nicht auf Ausflüge mit Flüchtlingen nach Auschwitz begrenzt bleiben, denn sonst bekommt man das Gefühl, dass es einem vielleicht doch nur um die medienwirksamen Fotos geht. 

Was wird vor dem Hintergrund, den wir skizziert haben, die Zukunft bringen?
Wolffsohn: Der Exodus der Juden wird weitergehen. Mit einem paradoxen Ergebnis freilich. Diejenigen, die sich ein Europa mit weniger Juden wünschen, stärken durch diese Fluchtbewegung der Hochqualifizierten den Staat Israel ganz ungemein und schwächen Deutschland und Europa. Das nennt man Eigentor.

Dieser Text erschien in der August-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

 

 

Anzeige