Antibiotikaresistenzen - Wenn auch die letzte Waffe stumpf wird

Überall auf der Welt sind antibiotikaresistente Bakterien auf dem Vormarsch. Wissenschaftler versuchen nun, sie mit natürlichen Feinden zu bekämpfen, etwa mit spezialisierten Viren.

Antibiotikaresistente Keime kosten allein in Deutschland 15.000 Personen pro Jahr das Leben / dpa
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Christine Westerhaus ist Wissenschafts- journalistin und lebt in Schweden.

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Schon seit ihrer Geburt leidet Amanda ­Glenn (Name geändert) an Mukoviszidose. Eine erbliche Krankheit, die den Schleim in ihren Bronchien besonders zähflüssig macht. Ständiger Husten quält die junge Frau. Mit 15 bekommt sie eine schwere Lungenentzündung. Um ihr Leben zu retten, transplantiert ihr ein Ärzteteam einen gesunden Lungenflügel. Die Operation verläuft gut. Doch dann infiziert sich die Operationswunde mit einem antibiotikaresistenten Bakterium. Erneut schwebt die junge Frau in Lebensgefahr. Keines der verfügbaren Medikamente kann die Infektion eindämmen.

Dabei schienen, als 1943 mit dem Penicillin das erste Antibiotikum auf den Markt kam, Infektionskrankheiten ihren Schrecken zu verlieren. Plötzlich waren Tuberkulose, Diph­therie oder Typhus für die Menschen kein Todesurteil mehr. Und kaum jemand musste noch befürchten, an einer harmlosen Verletzung zu sterben. „Wenn ich deutlich machen will, wie wichtig Antibiotika für die Menschheit sind, erzähle ich meist die Geschichte von Calvin Coolidge junior“, sagt der Ethiker Jasper Littmann vom Norwegian Institute of Public Health in Oslo. „Der Sohn des ehemaligen US-Präsidenten Calvin Coolidge zog sich 1924 beim Tennisspielen eine Blase am Fuß zu, die sich entzündete. Wenige Wochen später starb der 16-Jährige an einer Blutvergiftung, ausgelöst durch Bakterien.“ 

Ein Verteilungsdilemma

Jasper Littmann hat sich viele Jahre lang mit der Frage beschäftigt, wie Antibiotika gerecht verteilt werden können. Denn klar ist: Je häufiger wir sie einsetzen, umso schneller wird diese Waffe gegen Infektionserreger wirkungslos. Jedes Mal, wenn Menschen Antibiotika einnehmen, geraten Bakterien unter Druck. Eine Selektion, ein Kampf ums Überleben setzt ein, bei dem nur unempfindliche Keime übrig bleiben und sich weiter vermehren. Zum Beispiel, weil sie eine Mutation, also eine winzige Änderung in ihrem Erbgut haben, die ihnen hilft, das Antibiotikum zu zerlegen oder aus der Zelle zu schleusen, bevor es wirkt. Wehrhafte Bakterien haben einen enormen Vorteil: Sie müssen nicht mit anderen um Nahrung und Platz konkurrieren und können sich schnell weiter vermehren. Rasend schnell verbreitet sich diese lebensrettende Resistenzeigenschaft in der gesamten Bakterienpopulation. 

Zwar gibt es für die meisten resistenten Infektionserreger immer noch Alternativen – Reserveantibiotika, die verhindern, dass die Keime sich vermehren. Doch je häufiger diese Medikamente eingesetzt werden, umso schneller wird auch diese letzte Waffe stumpf. Ein ethisches Dilemma, denn wirksame Antibiotika werden vor allem dort benötigt, wo sich Resistenzen besonders schnell ausbreiten: in Ländern mit einem schlecht funktionierenden Gesundheitssystem. „Die wichtigste ethische Frage ist deshalb: Wie verteilt man eine Ressource, die selbst bei korrekter Anwendung mit der Zeit an Effektivität verliert und gleichzeitig das Leben von Patienten rettet“, sagt Jasper Littmann.

Gefährliche Entwicklung

Eine Zeitenwende droht: Überall auf der Welt sind antibiotika­resistente Bakterien auf dem Vormarsch. Wer sich mit ihnen infiziert, läuft Gefahr, an einer Lungenentzündung oder Blutvergiftung zu sterben. Laut European Centre for Disease Prevention (ECDC) stecken sich in Deutschland um die 500 000 Menschen jährlich mit Krankenhauskeimen an. 15 000 der Betroffenen sterben an den Folgen. Prognosen der Weltgesundheitsorganisation WHO zufolge könnten bis zum Jahr 2050 jährlich zehn Millionen Menschen weltweit an Infektionen mit resistenten Bakterien sterben. Falls die drohende Resistenzkrise nicht mehr abgewendet werden kann. 

Es ist ein globales Problem, das die Politik viel zu lange verschlafen hat, warnen Forschende. Joakim Larsson ist einer von ihnen. Am Institut für Infektiologie der Göteborg-Universität erforscht der Professor, unter welchen Umständen Bakterien Antibiotikaresistenzen entwickeln. „Alexander Fleming, der Entdecker des ersten Antibiotikums, hat schon 1945 davor gewarnt, dass Bakterien resistent werden können. Aber es hat sehr lange gedauert, bis wir aufgewacht sind.“

Vor einigen Jahren machte der schwedische Forscher in der indischen Industriestadt Hyderabad eine beunruhigende Entdeckung: In der Umgebung von Pharmafabriken hatte Larsson Bodenproben gesammelt, um herauszufinden, wie sich Rückstände aus der Arzneimittelproduktion auf dort lebende Organismen auswirken. „In unserem Labor entdeckten wir, dass die Bodenbakterien in den Proben Resistenzen gegen Antibiotika gebildet hatten. Manche waren sogar gegen ein ganzes Arsenal von Medikamenten immun“, so Larsson. 

Die Verbreitung der Resistenzen

Offenbar hatten ungereinigte Abwässer aus der Antibiotikaproduktion in einer nahe gelegenen Fabrik einen Überlebenskampf unter den Bodenbakterien ausgelöst und Resistenzen provoziert. „Als ich gesehen habe, welche Mengen an Antibiotika dort einfach so in der Umwelt landen, wurde mir klar: Nicht die vergifteten Tiere und Pflanzen sind hier das Problem, sondern die ungeklärten Abwässer sind gefährlich, weil Bakterien in so einem Milieu resistent werden können.“ 

Doch können unempfindliche Mikroben in indischen Böden für den Menschen überhaupt zum Problem werden? Ja, sagt Joakim Larsson. Denn über ungewaschenes Gemüse oder unsauberes Trinkwasser können diese resistenten Bakterien in den menschlichen Körper gelangen. Im Darm können sie ihre Resistenzgene munter mit unserem Mikrobiom austauschen, also mit Bakterien, die unseren Organismus dauerhaft besiedeln. „Wir sind ziemlich sicher, dass Antibiotikaresistenzen in unserem Körper auf andere Bakterien übertragen werden. Es kann aber auch in Nutztieren passieren, wenn diese mit Antibiotika behandelt werden“, so der schwedische Forscher.

Überwachung der Resistenzgene

Denn erschwerend kommt hinzu, dass Bakterien eine besondere Eigenschaft haben: Sie tauschen genetisches Material untereinander aus. Über sogenannte Plasmide geben sie Abschnitte ihres Genoms, also ihrer Erbinformation, an andere Mikroben weiter. In diesen Erbgutpaketen kann die genetische Information für eine Antibiotikaresistenz gespeichert sein. Sogenannte Resistenzgene, die eine Bauanleitung für bestimmte Eiweiße enthalten, die dem Bakterium helfen, das Antibiotikum unschädlich zu machen, bevor es wirkt. Und je mehr Resistenzgene im Umlauf sind, umso größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Bakterium mehrere davon einsammelt und in sein Abwehrrepertoire aufnimmt. 

Welche Resistenzgene Konjunktur haben und besonders stark im Umlauf sind, wird beispielsweise am Robert-Koch-Institut (RKI) in Berlin überwacht. Tim Eckmanns leitet dort die Abteilung Surveillance von Antibiotikaresistenz und -verbrauch. „2015 wurde mit dem mcr-1 ein Resistenzgen entdeckt, das Bakterien unempfindlich gegen das wichtige Reserveantibiotikum Colistin macht. Das hat uns zunächst besorgt, doch bisher haben wir dieses Gen nur sehr selten in Bakterien nachweisen können.“ Insgesamt zeigt sich der Experte vorsichtig optimistisch: „In Deutschland haben wir die Situation momentan gut im Griff.“

Krankenhauskeime

Inzwischen weiß die Forschung, dass Bakterien vor allem dort Resistenzen einsammeln, wo Antibiotika besonders häufig zum Einsatz kommen. In Krankenhäusern beispielsweise. Denn dort überleben nur besonders widerstandsfähige Keime, denen Desinfektionsmittel und verschiedenste Antibiotika nichts anhaben können. Dieser Selektionsdruck führt langfristig dazu, dass auch harmlose Umweltbakterien zu einer tödlichen Gefahr werden. 

Bekanntestes Beispiel ist Staphylococcus aureus, ein Bakterium, das auf vielen Oberflächen wächst und auch unsere Haut besiedelt. Unter dem Einfluss von Desinfektionsmitteln und Antibiotika haben sich jedoch Stämme dieser Mikrobe entwickelt, die gegen verschiedenste Medikamente immun sind. Auch Reserveantibiotika können gegen diese Krankenhauskeime kaum noch etwas ausrichten. Gelangen solche MRSA-Keime (Multi resistenter Staphylococcus aureus) während einer Operation in die Wunde, kann sich diese entzünden. Versagen die Antibiotika, vermehren sich die Bakterien im Körper und lösen eine Blutvergiftung aus. Ohne Behandlung endet diese tödlich. Krankenhauskeime können aber auch eingeatmet werden oder in die Harnröhre gelangen. 

Unattraktiv für Pharmakonzerne

Klebsiellen, resistente E. Coli oder Pseudomonas-aeruginosa-Bakterien sind nur ein paar Beispiele von harmlosen Erregern, die sich im Klinikmilieu in gefürchtete Krankenhauskeime verwandelt haben. 2017 gab die Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine Liste mit zwölf multiresistenten Erregern heraus, für die dringend neue Medikamente benötigt werden. Doch der Nachschub ist ins Stocken geraten. Obwohl Experten seit vielen Jahren vor den Konsequenzen warnen, haben die meisten Pharmafirmen ihre Forschung an neuen Antibiotika auf Eis gelegt. Für sie lohnt sich die Suche nach neuen antibiotischen Wirkstoffen kaum, denn mit diesen Medikamenten lässt sich kaum Geld verdienen. Patienten nehmen Antibiotika nur über einen kurzen Zeitraum ein, mit Arzneien gegen chronische Krankheiten oder Krebs lässt sich wesentlich mehr Geld verdienen. Neue Antibiotika sollen zudem möglichst selten eingesetzt werden, damit Bakterien keine weiteren Resistenzen entwickeln. 

Gleichzeitig trägt die Pharmaindustrie eine Mitschuld an der schnellen Ausbreitung von resistenten Bakterien. Viele Unternehmen haben ihre Produktion ins Ausland verlagert. Antibiotika werden in Indien oder China hergestellt und landen später in den Regalen unserer Apotheken, wo sie mit möglichst großen Gewinnspannen verkauft werden. Umweltauflagen, die beispielsweise regulieren, wie Rückstände aus der Produktion gereinigt werden, gibt es kaum. Auch Länder wie Deutschland, Schweden oder die USA trifft so eine Mitschuld. „Wenn Pharmaunternehmen gezwungen wären, Auskunft darüber zu geben, wo sie ihre Wirkstoffe herstellen, würden sie wahrscheinlich eher Umweltauflagen beachten. Das müsste sich ändern“, sagt Joakim Larsson.

Nebenakteuer Tierzucht

Und es gibt weitere Stellschrauben, an denen auf politischer Ebene gedreht werden müsste. Denn zu fatalen Rendezvous zwischen menschlichen Mikroben und Umweltbakterien kommt es auch in Kläranlagen. Wenn wir Antibiotika einnehmen, wird ein Großteil des Wirkstoffs wieder aus dem Körper ausgeschieden und gelangt in die Kanalisation. Dort treffen menschliche Bakterien aus dem Kot auf die Antibiotika und können resistent werden. Abwässer aus der Landwirtschaft landen ebenfalls in den Kläranlagen. Auch deshalb ist es ein Problem, wenn Landwirte Antibiotika in der Tierzucht einsetzen. 

Hier zeigt sich aber zumindest in Deutschland ein positiver Trend: Im Jahr 2019 ist die Menge der in der Tiermedizin verabreichten Antibiotika in Deutschland erneut zurückgegangen. 670 Tonnen dieser Medikamente wurden an Nutztiere verabreicht. 2011 waren es noch 1706 Tonnen. Antibiotika in der Tierzucht seien aber nicht das größte Problem, gibt Annemarie Käsbohrer zu bedenken. Sie ist Leiterin der Fachgruppe Epidemiologie, Zoonosen und Antibiotikaresistenz am Bundesinstitut für Risikobewertung (BfR) in Berlin. „Wenn wir das globale Problem der Antibiotikaresistenzen betrachten, müssen wir anerkennen, dass das Hauptproblem innerhalb der Humanmedizin ist.“ 

Globale Herausforderung

Annemarie Käsbohrer leitet das Nationale Referenzlabor für Antibiotikaresistenz am BfR, an dem Forschende nach Resistenzen fahnden, die besonders in der Landwirtschaft im Umlauf sind. Regelmäßig bekommen die Wissenschaftler Bakterienproben aus den Agrarbetrieben in ganz Deutschland zugeschickt. Momentan kann die Professorin Entwarnung geben. „Wir haben ein gutes Auge auf die Resistenzentwicklung und können sagen: Derzeit haben sich viele Situationen stabilisiert oder sind sogar leicht rückläufig“, so Kässbohrer.

Ähnlich optimistisch zeigt sich Tim Eckmanns vom RKI. „In Deutschland haben wir die Resistenzsituation momentan vergleichsweise gut unter Kontrolle.“ Doch dies sei kein Grund, die Hände in den Schoß fallen zu lassen, betont der Experte: „Antibiotikaresistenzen sind eine weltweite Herausforderung, und wir bekommen das Problem nur in den Griff, wenn es uns beispielsweise gelingt, funktionierende Gesundheitssysteme insbesondere in asiatischen und afrikanischen Ländern zu etablieren.“ 

Die Alternative

Längst arbeiten Wissenschaftler aber auch an alternativen Therapien gegen bakterielle Infektionen, die ganz ohne Antibiotika auskommen. Sie wollen Krankheitserreger mit ihren natürlichen Feinden bekämpfen: mit räuberischen Bakterien zum Beispiel, die andere Keime abtöten. Aber auch Bakteriophagen sind verstärkt ins Visier der Forschenden geraten: spezialisierte Viren, die Bakterienzellen befallen und abtöten.

Diese wirken so spezifisch, dass sie nur einzelne Bakterienarten angreifen, und haben damit einen unschlagbaren Vorteil: Bakteriophagen verschonen die nützlichen Bakterien in unserem Darm, die bei einer Kur mit Breitbandantibiotika stark in Mitleidenschaft gezogen werden. Diese Strategie hat in den Ländern der ehemaligen Sowjetunion bereits eine lange Tradition. Schon bevor der britische Bakteriologe Alexander Fleming das erste Antibiotikum entdeckte, kam ein französischer Bakteriologe den Bakteriophagen auf die Spur. 1916 entdeckte Félix d’Hérelle diese Viren am Pariser Institut Pasteur. 1934 gründete er in Georgien das bis heute bestehende Institut zur Forschung und Weiterentwicklung der Bakteriophagen-Theorie. 

Forschung breit aufstellen

Im Schatten des Siegeszugs von Antibiotika ist die Phagentherapie zwar in Vergessenheit geraten. Doch nun erlebt sie angesichts der Resistenzproblematik eine Renaissance. Und hat in Einzelfällen schon Wunder bewirkt. Die Mukoviszidose-Patientin Amanda Glenn drohte an einer Blutvergiftung zu sterben, weil ihre Wunde mit dem multiresistenten Bakterium Mycobacterium abscessus infiziert war. In einem Pilotversuch verabreichten Graham Hatfull von der Universität Pittsburgh und sein Team der jungen Frau Bakteriophagen. „Wir haben einen Cocktail aus drei verschiedenen Bakteriophagen verwendet, was endlich geholfen hat“, sagt Hatfull, der die Patientin behandelt hat. Doch die Suche nach einem passenden Virus sei aufwendig gewesen: „Nach langer Suche haben wir nur einen einzigen passenden Bakteriophagen gefunden. Wirklich nur einen einzigen!“ Um die Überlebens­chancen der jungen Frau zu erhöhen, kombinierten die Forschenden dieses Virus mit zwei weiteren Bakteriophagen. Diese passten Graham und sein Team mit genetischen und technischen Methoden an das Bakterium an, mit dem die Patientin infiziert war. Diese Therapie hat Amanda Glenn das Leben gerettet. Schon wenige Tage, nachdem die Ärztinnen ihr diesen Virencocktail verabreicht hatten, begann die Operationswunde zu heilen.

Noch ist die Phagentherapie für die breite Anwendung zu aufwendig, da für jeden Erreger die passenden Viren gefunden werden müssen. Doch die Forschung an dieser Behandlungsmethode könnte eine wertvolle Investition in die Zukunft sein: Zwar können Bakterien auch gegen feindliche Viren resistent werden und sich anpassen. Doch auch Bakteriophagen entwickeln neue Mechanismen, um sich an die Abwehrstrategien der Bakterien anzupassen. Anders als Antibiotika. 
Klar ist: Das neuartige Coronavirus wird nicht der letzte Krankheitserreger sein, der unser Immunsystem und unsere Gesellschaft auf die Probe stellt. Deshalb sei es wichtig, antibiotikaresistente Erreger nicht aus dem Blick zu verlieren, sagt Tim Eckmanns. „Momentan ist der Fokus unserer Forschung sehr stark auf Sars-CoV2 gerichtet. Doch wir sollten nicht vergessen, dass auch viele andere Krankheitserreger unser Leben bedrohen.“

 

Dieser Text stammt aus der Februar-Ausgabe des Cicero, die Sie jetzt am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.

 

 

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