Zum Geburtstag von Stefan George - Vom Reaktionär zum Revolutionär

Vor 150 Jahren wurde Stefan George in Bingen geboren. Als einer der bedeutendsten deutschen Lyriker des 20. Jahrhunderts wollte er Alltag in Kunst verwandeln. Er inspirierte aber auch die Brüder Stauffenberg zum Hitler-Attentat. Wie passt das zusammen?

Von Georges Lyrik inspiriert: Das Stauffenberg-Attentat auf Adolf Hitler vom 20. Juli 1944 / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Jonathan Meynrath studiert Kunstgeschichte und schreibt Essays zu Themen der Kultur und Unterhaltung.

So erreichen Sie Jonathan Meynrath:

Anzeige

Als Stefan George am 19. April 1899 eine Seance der Münchner Kosmiker besuchte, führte Alfred Schuler, eine Gestalt aus Genie und Scharlatan, das große Wort. Schuler sprach von „Blutleuchte“ und „Weltwende“. Umwallt und umrankt von Weihrauch und Lorbeer las er, der sich als wiedergeborener Römer der späten Kaiserzeit begriff, Auszüge „seiner stärksten Fragmente“, wie der Philosoph Ludwig Klages berichtet. Als Schulers Stimme – „zu immer mächtigerem Pathos fortgerissen“ – aber durch den spärlich beleuchteten Raum schallte, sei es selbst dem wahnerprobten George unbehaglich geworden: „Führen Sie mich fort“, habe der Dichter gedrängt, „führen Sie mich in ein Wirtshaus, wo ganz gewöhnliche Menschen Zigarren rauchen und Bier trinken.“

Wenngleich die Wahrheit dieser Episode nicht letztgültig verbürgt ist, so lässt sie doch eine unstrittige Entwicklung anschaulich werden: den Weg Stefan Georges von der Kunst in die Welt. Hatte ein Gedicht im Band „Jahr der Seele“ von 1897 noch mit dem Satz „Zu meinen träumen floh ich vor dem volke“ angehoben, so deutet sich bereits wenige Jahre später eine gegenläufige Bewegung an – nicht jedoch die Flucht vor den Träumen zum Volk, sondern mit ihnen und dem verstiegenen Anspruch, in historische Wirkmacht umzumünzen, was bisher Bildgewalt gewesen war.

Reaktion und Revolution

Der weltflüchtige Ästhetizist, als der George in den 1890er-Jahren die literarische Szene betreten hatte, begriff jede Faser seiner Umgebung, vom Luxusgut bis herab zum Nutzartikel, als Material seiner Kunstschöpfung. Diese Haltung wird poetisch am Beispiel des Renaissance-Meisters Fra Angelico vorexerziert, der bei George als Jäger und Sammler erscheint, dem die Erdoberfläche zur Farbpalette wird: „Er nahm das gold von heiligen pokalen / Zu hellem haar das reife weizenstroh / Das rosa kindern die mit schiefer malen / Der wäscherin am bach den indigo.“ Mochte die Entzauberung der äußeren Welt, wie Max Weber sie konstatiert hatte, täglich weiter um sich greifen: In seiner hermetisch abgedichteten Gegenwelt, wo doch auch Tatsachen zauberisch collagiert wurden, fand George Halt und hielt stand. Erst, als sich nach der Jahrhundertwende sein prophetisches Sendungsbewusstsein Bahn bricht, als er seine Welt nicht mehr konsequent auf die Kunst ausrichtet, sondern seine Kunst zusehends auf die Welt, wird George vom Reaktionär zum Revolutionär.

Hatte er einst mit Vorliebe Diamanten oder exotische Vögel besungen, so wendet er sich nun in zivilisationskritischem Gestus auch spröderen Gegenständen wie der Agrochemie zu. Mythische Helden, die zuvor seine hauptsächlichen Referenzfiguren gewesen waren, müssen jetzt mitunter Zeitgenossen aus Fleisch und Blut weichen. Im Gedicht „Der Krieg“ von 1917 entsteigt Generalfeldmarschall von Hindenburg als „schmuckloser greis“ seinem „farblosen vororthaus.“ Als ebendieser Greis (inzwischen zum Reichspräsidenten gewählt) George respektvoll zum 60. Geburtstag gratuliert, bedankt sich dieser noch artig. Das war im Jahr 1928. Goebbels hingegen wird keiner Antwort gewürdigt, als er fünf Jahre später von Seiten des neuen Staates seine Glückwünsche an den illustren Jubilar übermittelt, der durch seine markante Erscheinung und zielsichere Selbstinszenierung über die Jahre zu einer immer sagenhafteren Gestalt geworden war. So zeigte sich der junge Dolf Sternberger, Politikwissenschaftler und Journalist, von Georges Todesnachricht im Dezember 1933 vor allem deshalb erschüttert, weil erst sie ihm als Beweis dafür galt, dass der Dichter, von dem man längst wie von Thule oder Troja sprach, tatsächlich gelebt haben musste.

Staufer, Stauffacher, Stauffenberg

Unter Sternbergers Generationsgenossen, die sich von Georges Leibhaftigkeit noch selbst überzeugen konnten, waren auch die Brüder Alexander, Berthold und Claus von Stauffenberg. Deren klingender Name dringt dem ohnehin wenig zufallsgläubigen George ausgerechnet in einem Moment zu Ohren, da sein Anhänger Ernst Kantorowicz mit einem Buchprojekt über Friedrich II. von Hohenstaufen befasst ist. Über die Faszination, die George auf die Brüder ausgeübt haben muss, geben Alexanders Verse aus dem Zyklus „Der Tod des Meisters“ Aufschluss. Nachdem man in Minusio bei Locarno am Sarg des Dichters die Totenwache gehalten hatte, nahm Schweizer Erde „fürderhin den hort in heilige hut. / Und scheidend wussten wir: in unserm leben / Ein jeder atemzug und schmerzlich beben / Bleibt dienst an diesem grab mit geist und blut.“ Vor allem Claus von Stauffenberg, der bereits in einer schulischen Theater-Produktion von Schillers „Wilhelm Tell“ den Freiheitskämpfer Stauffacher verkörpert hatte, fiebert auch abseits der Bühne Gelegenheiten zur Bewährung entgegen. Mit „Abendland II“ überschreibt der 16-Jährige die folgenden Verse: „Ich wühle gern in alter helden sagen / Und fühle mich verwandt so hehrem tun.“ Ein Jahr später spricht er in einem Brief an George von der geschichtlichen Stunde, die zu solchem Tun „in der grösse ihrer erscheinung das zeichen gebe.“

Ein Streif wie Silber

Über die Reichsgründung als einen dieser Momente hatte Bismarck 1894 rückblickend erklärt, die Masse der deutschen Einigkeit sei „flüssig und gussbereit“ gewesen. Dasselbe Bild bemüht kurz darauf auch George: „Es sanken haupt und hand der müden werker / Der stoff ward ungefüge spröd und kalt, / Da - ohne wunsch und zeichen - bricht im kerker / Ein streif wie schieres silber durch den spalt.“ Als der Silberstreif des 20. Juli 1944 sich am Horizont abzuzeichnen beginnt, leistet Claus von Stauffenberg gemeinsam mit seinem Bruder Berthold einen Schwur, der bis ins Stilistische hinein getränkt ist von Georgescher Essenz: „Wir wollen ein Volk, das in der Erde der Heimat verwurzelt den natürlichen Mächten nahe bleibt, das im Wirken in den gegebenen Lebenskreisen sein Glück und sein Genüge findet.“ Doch folge er nicht Ideen, das hatte Stauffenberg selbst schon 1923 versichert, sondern Menschen. Nimmt man den jüngsten der Brüder beim Wort, dann kann kein Zweifel bestehen: Die Tat vom 20. Juli erschöpfte sich nicht in Sachzwang oder Opportunismus. Sie war vielmehr ein letzter und einsamer Höhepunkt von Stefan Georges langer Flucht zurück in die Welt.

Anzeige