WM 2018 in Russland - Kleiner Aufstand in Ballaballa-Land

Frankreich ist Weltmeister, Deutschland musste früh die Koffer packen – was bleibt sonst von der WM in Russland? Viele Russen erkannten ihr eigenes Land nicht wieder, der PR-Plan von Wladimir Putin ist wohl aufgegangen. Aber trotz aller Hybris bleibt der Fußball stark

Ausgelassene Stimmung statt Randale: Die hässliche Fratze des russischen Fußballs war nicht zu sehen / picture alliance
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Ingo Petz ist freier Journalist und publiziert seit über 20 Jahren zu Belarus.

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Völlig surreal. So beschrieb ein russischer Freund die WM, als ich ihn in Moskau nach seiner Einschätzung fragte. Die russische Nationalmannschaft hatte gerade das Achtelfinale erreicht. Dies hätte vor dem Turnier nicht einmal ein einsamer Irrer für möglich gehalten. Während der WM im eigenen Land ist die Sbornaja, so ihr russischer Name, über sich hinausgewachsen, hat sogar den Favoriten Spanien eliminiert und ist erst nach hartem Kampf gegen Kroatien gescheitert. Es ist die wohl schönste Geschichte des am vergangenen Sonntag zu Ende gegangen Turniers, wenn man lediglich das Sportliche in den Fokus nimmt. Diese überraschende Leistung haben selbst die Russen in leidenschaftliche Fußballfans verwandelt, die jedes Tor, jeden gehaltenen Elfmeter wie ihre Wiedergeburt feierten.

Grundfeste russischer Gesellschaft erschüttert

Wer Russland gut kennt, erlebte die ganze WM als surreales Spektakel, das zwar in Russland stattfand, das sich aber zumindest an den Austragungsorten nicht wie das ansonsten verschlossene und kontrollierte Russland anfühlte. Auch für die Russen nicht. Buntes Partytreiben. Herzliche Verbrüderungsszenen. Gelöste Freundlichkeit. Auch russische Schwule, die sich mit der Regenbogenfahne in Stadien zeigten. Es sind die Bilder, die aus Moskau, Saransk oder Wolgograd um die Welt gingen. Bilder, die dem außenpolitisch unberechenbaren und selbstisolierten Russland diametral entgegenstanden. Es herrschte eine Atmosphäre, die auch an den Grundfesten der russischen Gesellschaft rüttelte. Russische Frauen haben mit Kolumbianern oder Brasilianern offenherzig gefeiert, getanzt und geflirtet. Dafür wurden sie im Internet von ultranationalistischen Russen mit Hass überzogen. Dazu die Bloggerin Maria Arsamasowa: „Attraktive Männer, die gut riechen, sich galant verhalten, Sex mit Kondomen wollen und darauf verzichten, ihre Partnerinnen zu verunglimpfen: das ist ein ganz neues Universum.“ Ob sich der russische Mann und sein antiquiertes Geschlechterbild davon erholen wird?

Solche unberechenbaren Begleiterscheinungen sind es, die einer zu Recht kontrovers diskutierten WM abseits des Sportlichen ihren Reiz verliehen. Die Inszenierung eines Images, das Russland als normales Land zeigt, gehörte zum PR-Plan der Organisatoren. Er ist wohl weitgehend aufgegangen. Die Organisation hat zwar mehr als zehn Milliarden Euro gekostet. Aber sie hat funktioniert. Normalerweise sind die russischen Sicherheitskräfte nicht gerade für ihre Zimperlichkeit bekannt. Jetzt aber hielten sie sich zurück, auch trotz der berechtigten Angst vor Terroranschlägen und ließen die feiernden Fans gewähren, ermöglichten Schweden oder Engländern entgegen des strengen Versammlungsverbotes spontan organisierte Fanmärsche. Die hässliche Fratze des russischen Fußballs in Form von Hooligans, Rechtsradikalismus oder Rassismus war nirgends zu sehen.

Ein Sieg für Wladimir Putin

Fans oder Journalisten, die zum ersten Mal in Russland waren, werden sagen: „Russland ist ein freundliches Land mit offenen Menschen. Wo waren denn die bösen Geschichten, über die vorher in den westlichen Medien berichtet wurden?“ Auch dies ist Teil der Strategie von Präsident Wladimir Putin: westlichen Journalismus zu diskreditieren. Wie die bemalten Planen, die im Vorfeld der WM vor marode Fassaden hochgezogen wurden, wurde die WM zum Potemkinschen Dorf. Wie hatte der russische Journalist Andrej Archangelski doch vor dem Turnier geschrieben? „Den Zustand freiwilliger Unfreiheit können Ausländer nur schwer nachvollziehen. Allein die Existenz dieser menschlichen Maschine ist auf ihre Art einzigartig – es braucht dafür gleichzeitig millionenfache Selbstzensur. Nur eine Minderheit empfindet die Abwesenheit von Freiheit als Problem; die Erfahrung der individuellen Freiheit hat es nicht bis in den kollektiven Erfahrungsschatz geschafft, Freiheit ist nie zu einem Wert geworden.“ 

Für Putin, der sich als internationale Reizfigur bei den Spielen mit seiner Präsenz zurückgehalten hat, ist die WM ein Sieg. Aber Russland wird unter Putin auch kein normales Land, das seine Politik im Zuge einer fröhlichen WM ändert. Politische Gefangene wie der Ukrainer Oleh Senzow, der sich weiter zu Tode hungert, wurden während des Turniers nicht freigelassen. Die Unterstützung des Krieges in Syrien ist in vollem Gange, in der Ostukraine starben Soldaten. In Russland selbst wurde beispielsweise in den WM-Wochen ein neuerlicher Prozess gegen Jurij Dmitriew angestrengt, der in Karelien auf eigene Faust seit vielen Jahren Stalins Verbrechen aufarbeitet. Zudem wurde das Rentenalter angehoben.

Ein Sommermärchen voller Hybris

Man kann dieses Phänomen, was sich da in den vergangene Wochen vor unseren Augen abgespielt hat, als Sommermärchen bezeichnen. Aber es ist eines, das seinen Ursprung im Abgrund des Zynismus hat. Im Mittelpunkt dieses düsteren Märchens steht auch der Weltverband Fifa, der demselben Geist entsprungen scheint wie die autoritären Staaten, an die sie Weltmeisterschaften mitunter vergibt. Man nennt das Hybris, wenn man den Kern der Dinge im Antlitz der eigenen Selbstherrlichkeit aus den Augen lässt. In Moskau, auf dem Weg ins altehrwürdige Lushniki-Stadion beispielsweise, stellte sich diese Hybris so dar:

Die Massen schieben sich, aus Lautsprechern zugedröhnt mit krächzenden Ansagen und scheppernder Trash-Musik, vorbei an dutzenden, ach was, an hunderten Freiwilligen, die irgendwas in Russisch und Pidgin-English in ihre Megaphone blöken. Andere halten Schaumstoff-Finger in die Höhe, um dem orientierungslosen Fan, der sein Gehirn beim Eintritt ins Fifa-Wunderland abgegeben hat, den sicheren Weg durch das Marktgeschrei zu seinem Block zu weisen. Rechts und links aufgereiht stehen die Pavillons, in denen die Hauptsponsoren des Turniers ihre Marken beschreien, halbbekleidete Mädels schwingen zu Plastiktechno ihre Hüften und auf riesigen Bildschirmen laufen irgendwelche schnellgeschnittenen Werbevideos, in denen Produkte wie Superhelden angebetet werden. Über all dem thront die Lenin-Statue am Eingang des Stadions, direkt darunter ein Shop, in dem die Fifa ihren Tinnef verhökert.

Wenn es jemals einen Grund gegeben haben sollte, Lenin zu bemitleiden, dann ist es dieser Moment. In den Augen der sympathischen NGO aus der Schweiz hat der Fan als selbstbestimmtes Subjekt der Aufklärung keinen Platz. Er wird zum reinen Konsumenten degradiert. Gesellschaftspolitische Haltungen, Interessen und Kritik als Wert haben hier keinen Raum und werden entsprechend sanktioniert. Wenn die Fifa mit derselben Konsequenz ihre viel beschworene Liebe für Menschenrechte und den Fußball ernst nehmen würde wie Verstöße gegen ihre Markenpolitik, die sie wie Fort Knox beschützt, wäre auch eine WM ein besserer Ort. Bei all dem Brimborium, den die Fifa um die WM herum veranstalten lässt, ist es ja eigentlich ein Wunder, dass überhaupt noch Fußball gespielt wird. Fans und kreative Gesänge können in dieser Kirmes gar keine Rolle spielen. Kaum ist der Schlusspfiff ertönt, wird das Publikum aus dem Stadion gedröhnt. Man ist tatsächlich froh, wenn man dieses Ballaballaland nach einem Spiel erschöpft hinter sich gelassen hat – die Orwellhafte Ansprache „Liebe Fans der Fifa-Fußball-WM“ aus dem Stadion hallt immer noch durch die Gehirnwindungen, als man versucht, die bösen Geister eines sogenannten Fußballabends in Wodka zu ertränken. 

Die Kraft des Fußballs bleibt stark

Obwohl der Weltverband immense Anstrengungen unternimmt, den Weltfußball nach seinen kruden Marktvorstellungen einzuhegen und ihm seinen widerborstigen Eigensinn auszutreiben, bleibt dem Spiel aber offensichtlich die ungeheure Kraft, auch eine durch Autokraten über Jahrhunderte eingeschüchterte Gesellschaft wie die russische zumindest für fünf Wochen aufzubrechen und ihr ein Lächeln zu entlocken. Ein Lächeln, an das sich der eine oder andere Russe nach dem Turnier erinnern und sich fragen wird: „Anscheinend sind die Leute aus anderen Ländern uns nicht so feindlich gesinnt, wie es uns unser Staatsfernsehen weismachen will. Wie wäre es eigentlich, wenn der Ausnahmezustand der WM zum Normalzustand wird?“ Es ist zu erwarten, dass der Putinsche Sicherheitsapparat sich nicht mehr zurückhalten wird, wenn sich gerade junge Russen  aufmachen würden, ihre befeuerte Sehnsucht nach Freiheit einzufordern. Nicht wenige erwarten für die Zeit nach der WM, dass der Staat die Repressionsschraube wieder anzieht um diejenigen zu bestrafen, die sich im unverhofften WM-Freiraum mit ihrer Kritik zu weit aus dem Fenster gewagt haben.

Die zumindest zeitweilige Öffnung der russischen Gesellschaft, ihr kleiner Aufstand im ansonsten als feindlich wahrgenommenen öffentlichen Raum, war das eigentliche Wunder der WM 2018. Eine Kraft, der solch ein überraschender Aufbruch gelingt, kann nicht von dieser Welt sein. Es wäre vermessen zu glauben, dass die hierzulande mitunter scharf geführte Debatte um die Fifa, ihre Vergabepraktiken und ihre mögliche Reformierung auch in anderen Ländern mit einer derartigen Inbrunst ausgetragen wird. Mexikaner oder Peruaner würden wohl auch zu einer WM in der Antarktis reisen. Hauptsache, der Ball rollt. Wie ungleich größer aber wäre die Entfaltung dieser dem Fußball innewohnenden Kraft, wenn man eine WM mit Mut zum Freiraum und zur Eigenverantwortung und mit echter Hingabe zu demokratischen Spielregeln organisieren würde? Stattdessen gibt es in vier Jahren den bizarrsten Zirkus in der WM-Geschichte: in Katar. Die wunderbare Kraft des Fußballs aber hat es verdient, anders behandelt zu werden: mit Demut und mit Anstand. 

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