Katalonien - „Ein Aufstand, der Spaniens Existenz bedroht“

In Katalonien pochen die Unabhängigkeitskämpfer auf Demokratie und Selbstbestimmungsrechte. Vom Völkerrecht sind solche subjektiven Wünsche aber nicht gedeckt, sagt der Staatsrechtler Stefan Talmon im Gespräch mit Cicero Online. Den Polizeieinsatz hält er für verhältnismäßig

Friedlich, aber eine Gefahr für den Staat? Das Referendum in Katalonien / picture alliane
Anzeige

Autoreninfo

Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

So erreichen Sie Bastian Brauns:

Anzeige

Herr Talmon, das spanische Verfassungsgericht hatte eine Abstimmung über die Unabhängigkeit der Region Katalonien für nicht rechtens erklärt. Wie bewerten Sie die Abstimmung vom Sonntag?
Als einen kalkulierten Rechtsbruch. Nach spanischem Verfassungsrecht ist die Abstimmung rechtswidrig gewesen. Das heißt insofern auch, dass das Ergebnis keinerlei Auswirkungen hat, wenn man denn die spanische Rechtsordnung zugrunde legt.

Aber es gibt auch ein Völkerrecht.
Richtig. Es stellt sich die Frage, ob das spanische Rechtssystem in diesem Fall vom Völkerrecht überlagert wird. Ob also Katalonien völkerrechtlich ein Recht auf eine solche Abstimmung hat. Kurz gesagt, ob Katalonien das Recht hat, dem spanischen Verfassungsrecht zuwider zu handeln.

Und wie lässt sich das beantworten?
Eindeutig mit Nein. Das Völkerrecht gibt Regionen eines Staates weder ein Recht dazu, sich abzuspalten, noch ein Recht dazu, entgegen der nationalen Rechtslage eine Volksabstimmung abzuhalten.

Aber es gibt doch ein Selbstbestimmungsrecht der Völker?
Wie Sie richtig sagen, handelt es sich beim Recht auf Selbstbestimmung um ein Recht der Völker. Die erste Frage dabei lautet also: Wer ist ein Volk, das sich auf das Recht der Selbstbestimmung berufen kann? Das Völkerrecht geht davon aus, dass einzelne Gruppen oder Regionen innerhalb eines Staates das Kriterium der Volkseigenschaft grundsätzlich nicht erfüllen, auch wenn die Katalanen sich als eigenständige Gruppe empfinden. Im Sinne des Völkerrechts sind die Katalanen ebenso wenig ein Volk wie die Bayern eines innerhalb der bundesstaatlichen Ordnung der Bundesrepublik Deutschland darstellen.

Das heißt, das Völkerrecht geht ganz klar nur von den bereits existierenden Nationen aus?
Das Völkerrecht geht davon aus, dass die Völker der Staaten, die heute existieren, ihr Recht auf Selbstbestimmung insofern ausgeübt haben, als sie sich als Staaten konstituiert haben. Das Recht auf Selbstbestimmung kam ursprünglich Kolonialvölkern und anderen unterdrückten Völkern zugute. In Fällen historisch gewachsener Vielvölkerstaaten kann einem einzelnen Volk ausnahmsweise dann ein Recht auf Selbstbestimmung zukommen, das auch zu einer Abspaltung von einem Staat führen kann, wenn dieses Volk innerhalb des bestehenden Staates unterdrückt wird und der Möglichkeit beraubt wird, an der politischen Willensbildung des Gesamtstaates teilzunehmen. Das ist innerhalb Spaniens ganz sicher nicht der Fall.

Viele Katalanen fühlen sich aber trotz bereits bestehender Teilautonomie unterdrückt oder zumindest benachteiligt. Das Referendum war eine friedliche demokratische Abstimmung. Ist ein gewalttätiger Polizeieinsatz da verhältnismäßig?
Um eines klar zu stellen: Subjektive Gefühle geben keinen Rechtsanspruch auf ein Referendum oder gar eine Sezession. Es geht auch nicht darum, ob es sich bei dem Referendum um eine friedliche Abstimmung gehandelt hat oder nicht. Nebenbei, es gab auch verletzte Polizisten. Von „ausschließlich friedlich“ würde ich deshalb nicht sprechen. Es geht darum, dass eine Minderheit aus einem subjektiven Gefühl heraus einen Rechtsbruch begeht. Aufgrund einer rechtswidrigen Abstimmung, an der nur circa 40 Prozent der Wahlberechtigten teilgenommen haben, wird die staatliche Existenz Spaniens in Frage gestellt. In einen solchen Fall, darf auch die Polizei zur Wahrung der Rechtsstaatlichkeit eingesetzt werden.

Der Einsatz war also verhältnismäßig?
Der Einsatz der Polizei erscheint mir durchaus verhältnismäßig. Es handelte sich zwar nicht um einen gewaltsamen, aber doch um einen Aufstand gegen den spanischen Staat – einen Aufstand, der diesen Staat in seiner Existenz bedroht. Einer solchen Herausforderung kann kein Staat der Welt tatenlos zusehen. Sowohl völkerrechtlich als auch staatsrechtlich ist die Verteidigung des Staates, ist der Erhalt des Staates eines der höchsten Ziele des Rechts. Um die staatlichen Integrität Spaniens zu schützen, halte ich das Vorgehen für gerechtfertigt.

Aber denken wir mal weiter: Die Menschen leisten zivilen Ungehorsam. Es kommt zu Gegengewalt. Die Angst vor einem drohenden Bürgerkrieg ist zumindest in Teilen vorhanden. Es kann doch nicht der Sinn sein, am Ende Panzer einzusetzen, um so das Staatsrecht durchzusetzen?
Der Einsatz von Gewalt ist immer eine schreckliche Vorstellung. Aber sowohl von Seiten des Staatsrechts, als auch von Seiten des Völkerrechts ist die Gewaltanwendung zum Erhalt der staatlichen Ordnung gedeckt. Selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat entschieden, dass der Staat verhältnismäßige Gewalt anwenden darf, um einen Aufstand gegen die staatliche Integrität niederzuschlagen. Ein Einsatz des Militärs wäre natürlich nur dann verhältnismäßig, wenn die Separatisten selbst militärische Waffen einsetzen würden.

In der ganzen EU, wie beispielsweise in Südtirol, Schottland oder dem Baskenland gibt es aber offenbar ein Bedürfnis nach einer solchen hyperlokalen Identität und Eigenständigkeit. Sollte man diesen Wünschen nicht politisch entgegenkommen?
Durchaus, aber immer im Rahmen des bestehenden Rechts und bestehender politischer Prozesse. Die Verteidigung der Integrität der bestehenden Staaten gegen rechtswidrige Angriffe erfordert im Zweifel auch Maßnahmen staatlichen Zwangs, einschließlich gewaltsamer Maßnahmen. Sonst würden sich die Staaten selbst in Frage stellen, sobald eine Gruppe von 40 Prozent der Bevölkerung das subjektive Gefühl hat, in diesem Staat nicht mehr leben und einen eigenen kleinen Staat haben zu wollen. Wir können aber nicht einerseits davon sprechen, dass die großen Herausforderungen und Probleme unserer Zeit nur global gelöst werden können und andererseits in Kleinstaaterei zurückzufallen.

Was wäre so schlimm an mehr Staaten? Die Katalanen wollen ja in der EU bleiben, nur eben als eigene Stimme.

Das ist doch ein widersprüchliches Verhalten. Wie soll sich eine Gruppe, die schon nicht in der Lage ist, sich auf der innerstaatlichen spanischen Ebene zu integrieren, sich in einen supranationalen europäischen Verband einfügen? Eines muss gerade im Hinblick auf das Völkerrecht klar sein: Es handelt sich um ein Recht der bestehenden Staaten, das von diesen gemacht und nur von diesen geändert werden kann. Es erscheint mir unwahrscheinlich, dass die bestehenden Staaten um des lieben Friedens willen einer Rechtsänderung zustimmen werden, die ihre eigene Existenz in Frage stellt.

Was wären denn die Konsequenzen?
Man muss sich einfach klarmachen, was die globalen Folgen einer solchen Rechtsänderung wären. Frankreich hat Korsika. Großbritannien Schottland oder Nordirland. In den baltischen Staaten gibt es eine starke russische Minderheit. Wenn plötzlich jede Gruppe dazu berechtigt wäre, sich aus welchen Gründen auch immer abzuspalten, würde das in einem globalen Zerfallsprozess aller 200 Staaten münden, mit voraussichtlich massiven Gewaltanwendungen. Es erscheint mir sehr wichtig, dass man ein einseitiges Sezessionsrecht aus subjektiven Empfindungen heraus ausschließt. Es ist letztendlich die staatliche Integrität der bestehenden Staaten und nicht ein Sezessionsrecht für jedermann, das zum friedlichen Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen innerhalb der Staaten beiträgt.

Aber ist es nicht eben die Sache der jeweiligen Gruppe, für sich selbst zu entscheiden?
Nein, jede Gruppe innerhalb eines Staates ist Teil einer größeren Gruppe. Wir haben in Spanien keine Diktatur, die die Katalanen unterdrückt. Spanien ist ein demokratischer Nationalstaat. Will man etwas an dessen Grundstruktur ändern, geht das alle Spanier an und nicht nur eine Minderheit in nur einer der Regionen Spaniens. Insofern haben ja auch die übrigen Spanier ein Selbstbestimmungsrecht, auch sie dürfen mitbestimmen, wie es mit Spanien, mit ihrem derzeit bestehenden Staat weitergehen soll.

Aber täuscht der Eindruck, dass die spanische Regierung in den vergangenen Jahren nicht gerade gesprächsbereit war?
Darüber lässt sich sicher streiten. Man muss aber natürlich auch sehen, dass die Vertreter der Unabhängigkeit Kataloniens mit Maximalforderungen operieren. Es geht ihnen nicht um mehr Autonomie, sondern um Unabhängigkeit. Mehr Autonomie bedeutet für Unabhängigkeitskämpfer immer nur einen temporären Zwischenschritt zur Unabhängigkeit. Es gibt hier auch eine europäische Dimension diese Unabhängigkeitsbestrebungen. Den Vertretern der katalanischen Unabhängigkeit geht es nicht nur um die Unabhängigkeit von Spanien, sondern auch um die automatische Mitgliedschaft in der Europäischen Union. Sie wollen also gleich zwei Parteien ihren Willen aufzwingen. Man muss das auch mal so sehen: Hat die EU denn überhaupt ein Interesse an einer noch kleinteiligeren Mitgliederstruktur? Alle Staaten müssten einer Mitgliedschaft eines katalanischen Staates zustimmen. Das ist unwahrscheinlich.

Wie sinnvoll sind solche Abstimmungen dann überhaupt?
Solche Abstimmungen können eine befriedende Funktion erfüllen, wenn sie, wie zum Beispiel das Referendum über die schottische Unabhängigkeit, rechtlich und politisch abgesichert sind. Grundsätzlich muss man sich bei solchen Abstimmungen aber fragen, welche Mehrheiten für die Abspaltung eines Teils des Staatsgebietes erforderlich sein sollen. Geht es um die Mehrheit in der Gesamtbevölkerung des Staates oder nur um die Mehrheit der Wahlberechtigten in dem sich abspalten wollenden Gebiet? Es stellt sich auch die Frage, ob bei Entscheidungen von solcher Tragweite ein bestimmtes Quorum der Wahlberechtigten oder eine Zweidrittelmehrheit erforderlich sein sollten. Im Falle des Brexit-Referendums entschied eine äußerst knappe Mehrheit von 51.89 Prozent bei einer Wahlbeteiligung von 72,21 Prozent über den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union. Konflikte um solch zentrale Fragen können kaum von einfachen Mehrheiten befriedet werden.

Prof. Dr. Stefan Talmon ist Inhaber des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Völkerrecht und Europarecht und Direktor am Institut für Völkerrecht der Universität Bonn. Vor seiner Berufung nach Bonn war er Professor für Völkerrecht an der Universität Oxford. Er berät und vertritt Staaten und transnationale Unternehmen in völkerrechtlichen Fragen vor nationalen und internationalen Gerichten.

 

Anzeige