Zwangsehe - „Es kommt vor, dass 13-Jährige per Skype verheiratet werden“

Obwohl Zwangsehen längst verboten sind, werden hierzulande noch immer Mädchen gegen ihren Willen verheiratet. Die Berliner Kriseneinrichtung Papatya sollte provisorisch helfen, aber die Anzahl der Fälle steigt. Eine Psychologin über die Gefahren für die Mädchen und die Ohnmacht der Justiz

„Die Mädchen hauen von zu Hause ab“ / picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Für unsere Serie „Im wirklichen Leben“ sprachen wir mit Christine Schwarz*. Sie ist Psychologin und betreut seit 30 Jahren Mädchen und Frauen, die auf der Flucht vor ihrer Zwangsverheiratung in der Berliner Kriseneinrichtung Papatya unterkommen. Weil Zuschüsse von Stiftungen auslaufen, ist jetzt eines der wichtigsten Angebote von Papatya in Gefahr: die Online-Beratung. 

Frau Schwarz, dass Frauen in Deutschland zwangsverheiratet werden, wirkt wie ein Anachronismus. Wie oft kommt so etwas im Jahr vor?
Das weiß keiner, weil diese Fälle statistisch nicht erfasst werden. Das erste und das letzte Mal hat das Bundesfamilienministerium diese Fälle 2008 zählen lassen. Man kam auf 3440 Fälle bundesweit, das sind aber nur die, die aufgefallen sind, weil sie sich Hilfe bei Behörden oder Beratungsstellen geholt haben. 

Sie schätzen die Dunkelziffer liegt noch höher? 
Wir gehen davon aus, dass sie mindestens genauso hoch ist wie die Zahl der offiziell erfassten Fälle. Fast jedes  Mädchen, das wir in unserer Kriseneinrichtung aufnehmen, erzählt uns von Schwestern oder Cousinen, die auch zwangsverheiratet worden sind. Und in Berlin haben wir 2018 zuletzt 570 Fälle gezählt. 

Was hindert die Mädchen, sich Hilfe zu suchen? 
Die Frauen, die das betrifft, sind noch sehr jung, manche Mädchen sind erst 13. Sie haben schon viel Gewalt in der Familie erlebt. Sie wissen genau: Wenn sie versuchen, sich Hilfe zu holen oder gar Anzeige gegen ihre Eltern erstatten, werden sie noch stärker kontrolliert, eingesperrt oder sogar ins Ausland verschleppt. Ihre erste Befürchtung ist: Das glaubt mir keiner.

Und die zweite?
Dann nehmen die Behörden vielleicht meine kleinen Geschwister aus der Familie. Oder: Dann muss mein Vater in den Knast. Diese Mädchen sind oft nicht sehr informiert über ihre Rechte. Sie haben Angst, dass sie vollständig die Kontrolle darüber verlieren, was mit ihnen und der Familie passiert. 

Kommt es denn vor, dass Sie es tatsächlich kaum glauben können, was Ihnen die Mädchen erzählen?
Nein, Papatya gibt es in Berlin seit 30 Jahren. Wir sind kaum noch zu überraschen von irgendwelchen Praktiken. Wir haben es schon erlebt, dass 13-Jährige per Skype oder am Telefon mit irgendwelchen Cousins im Ausland verheiratet wurden. Dass Mädchen Papiere unterschreiben mussten, von denen sie nicht wussten, was drin stand. Hinterher stellten sie fest, dass sie verheiratet sind.  

Sind die Mädchen alle Muslime? 
Zum großen Teil, aber nicht ausschließlich. Viele kommen auch aus jesidischen Familien. Hin- und wieder haben wir es auch mit christlich-orthodoxen Familien zu tun, das sind meist Roma-Familien. Es liegt also nicht in erster Linie an der Religion, sondern an streng patriarchalen Milieus, in denen die Ehre eine Riesenrolle spielt. 

Aus welchen Ländern kommen die jungen Frauen?
Von 30 Jahren waren es vor allem die Töchter der Arbeitsmigranten, die Zuflucht bei Papatya gesucht haben. Seitdem hat es verschiedene Einwanderungswellen gegeben. Während der Jugoslawienkriege hatten wir viele Mädchen aus Bosnien und dem Kosovo. Jetzt kommen sie zunehmend aus Afghanistan. Neu hinzugekommen ist Tschetschenien. Dort sind die Regeln für Mädchen besonders hart. 

Warum?
Weil sich da die ganze Community aufgerufen fühlt, die angebliche Moral zu schützen. Wir haben es in solchen Fällen schwer, Dolmetscher zu finden. Die werden sofort verdächtigt, sie würden die Mädchen unterstützen. 

Können Sie das mal erklären? 
Die Mädchen hauen von zu Hause ab, und die Familien nutzen alle Netze, um zu erfahren, wo sie stecken. Sie fragen die Freundinnen aus oder bedrohen unter Umständen die Lehrerin oder die Sozialarbeiterin. Manche erstatten auch Anzeige bei der Polizei und sagen: Unsere Tochter ist entführt worden. Jeder, der Kontakt zu ihrer weggelaufenen Tochter hat, kann unter Druck gesetzt werden. 

Wie kann Papatya die Mädchen unter diesen Voraussetzungen dann schützen?
Die Einrichtung ist anonym, niemand weiß, wo wir sitzen. Wir geben auch keine Telefon-Nummer heraus. Alle Kontakte laufen über den Berliner Mädchen-Notdienst oder unsere E-Mail-Adressen. Bevor wir Minderjährige aufnehmen können, muss ein Jugendamt sie in Obhut nehmen.

Das heißt, Sie und Ihre Kolleginnen leben gefährlich?
Nein, wir sind es gewohnt, uns abzusichern. Kritisch wird es immer nur, wenn wir Gespräche mit den Eltern der Minderjährigen führen müssen. Die finden in der Regel im Jugendamt statt. Wir müssen vorher sehr genau überlegen: Wie kommen wir dahin – und vor allem: wieder weg? Wenn es zu gefährlich wird, finden die Gespräche nur telefonisch statt. 

Brauchten Sie schon Polizeischutz?
Nein, aber wir haben eine Alarmanlage, und da wir besonders gefährdet sind, fährt die Polizei häufiger bei uns Streife. 

Ein ganz schöner Aufwand, um Kinder in einem demokratischen Staat vor den eigenen Eltern zu schützen. Finden Sie nicht? 
Als vor einiger Zeit das Buch des Pathologen Michael Tsokos erschien: „Deutschland misshandelt seine Kinder “, waren auch alle fassungslos, dass so etwas in unserem Land passiert. In dem Milieu, in dem wir uns bewegen, ist Gewalt als Mittel der Erziehung noch anerkannt. 

Erleichtert Ihnen das die Arbeit?
Nein, wenn wir die Mädchen fragen: „Werdet Ihr geschlagen?“, heißt es manchmal erst „Nein.“ „Und was passiert, wenn du etwas machst, was deinen Eltern nicht gefällt?“ „Dann kriege ich eine Schelle.“ Gewalt ist für sie erst, wenn man mit Gürteln und Stöcken zusammengeschlagen wird. 

Wie kann der Gesetzgeber so etwas zulassen? Müsste er den Eltern nicht das Sorgerecht entziehen?
Das wäre vielleicht der erste Impuls, aber damit würde man den Mädchen nicht gerecht. Deren psychische Situation ist schon ganz schwierig, sie hängen an ihrer Familie. 

Auch dann noch, wenn ihre Eltern sie wie Leibeigene behandeln? 
Auch dann noch. Sie wissen, dass ihr Verhalten entscheidend für die Familienehre ist, für den Status, den die Familie in der Community hat. Da ist Gewalt nicht unbedingt statusmindernd. Aber wenn die Tochter mit einem Jungen gesehen wird, geht das Getuschel los. Sie beschmutzt die Ehre. Mit Eltern von Töchtern, die von zu Hause abhauen, weil sie, wie dann die Gerüchteküche zu wissen meint, keine Jungfrau mehr sind, will keiner etwas zu tun haben. Das wissen die Mädchen. Sie haben massive Schuldgefühle. 

Und deshalb darf man die Eltern nicht bestrafen?
Es würde nichts bringen. Wie oft ist es passiert, dass die Polizei ein Mädchen aus der Familie herausgeholt hat und eine Anzeige aufgenommen hat –  und wie oft haben wir dann erlebt, dass die Mädchen dann nicht ausgesagt haben. Sie wollen ihr Leben verändern, aber nicht ihre Eltern bestrafen.

Was verrät das über den Grad der Integration dieser Familie?
Es zeigt, dass kulturelle und familiäre Prägungen tiefer reichen, als wir uns das vorstellen können. Selbst wenn die Mädchen den Ausstieg schaffen, ist es nicht so, dass sie sich befreit fühlen. Sie fallen oft erstmal in ein Loch.  

Und Ihre Aufgabe ist es dann, die Mädchen für ein selbständiges Leben in der deutschen Gesellschaft zu machen?
Nein, dazu reicht die Zeit in der Kriseneinrichtung nicht, und auf manchen Gebieten sind sie ja fit. Sie wurden auch in der Schule sozialisiert. Aber sie sind gespalten. Ein Teil von ihnen möchte selbständig werden, der andere hat Schuldgefühle und vermisst die Familie. 

Es klingt, als würden Sie über Hatun Sürücü sprechen, die genau diesen Konflikt erlebt habt, bevor sie 2005 von ihrem jüngsten Bruder erschossen wurde. 
Das ist eben ein typischer Fall. Der Kinofilm über sie zeigt genau diese Ambivalenz. Das Streben nach Unabhängigkeit und die Suche nach Anerkennung durch die Familie. 

Hat es im Umfeld von Papatya auch schon so genannte Ehrenmorde gegeben?
Ja, in 30 Jahren haben wir 2.000 Mädchen aufgenommen. Vier davon wurden hinterher umgebracht. Der bekannteste Fall war der Fall der Syrerin Rokstan, die 2015 zu ihrer Familie nach Dessau zurückkehrte, weil sie den Druck nicht ausgehalten hat. Drei Monate später wurde sie tot in der Gartenlaube gefunden. Der Vater ist aus Deutschland geflohen. Der Mutter und dem Bruder konnte man nichts nachweisen,  

Seit 2011 gibt es ein Gesetz, das Zwangsheiraten unter Strafe stellt. Haben Sie den Eindruck, dass die Zahl der Fälle seither zurückgeht?
Nein, überhaupt nicht. Das Positive, was dieses Gesetz bewirkt hat, ist, dass Zwangsheiraten in Jugendämtern nicht mehr mit der Begründung  abgetan werden „Ach, na ja. In deren Kultur ist das halt so.“ 

Behörden haben das tatsächlich stillschweigend akzeptiert?
Sagen wir mal so: Sie haben es vielleicht nicht akzeptiert – sie haben aber auch nichts dagegen unternommen. Wenn sie die Eltern zur Rede gestellt haben, haben die denen oft etwas ganz anderes erzählt. Und dann kamen die Jugendämter ins Schleudern: Wem sollten sie jetzt glauben? 

Heißt das, die Verwaltung ist mitschuldig, dass sich solche Parallelgesellschaften etablieren konnten?
Niemand hatte vor 40 Jahren Erfahrungen mit Integration. Das war ein ganz neues Thema für Deutschland. Zuerst hatte man gedacht, diese Menschen kehren nach einigen Jahren zurück in ihre Heimat. Als Papatya gegründet wurde, sind wir davon ausgegangen, dass sich diese Familien innerhalb von einigen Jahren von allein integrieren würden. Als Vorbild galt Amerika. 

Und was denken Sie heute?  
Wir haben die Integrationsbereitschaft dieser Familien und die Atttraktivität des westlichen Lebensstils überschätzt. 

Seit Inkrafttreten des Gesetzes wurde nur eine Handvoll Männer verurteilt. Liegt das nur daran, dass sich viele Frauen nicht trauen, Anzeige zu erstatten? 
Nein, es ist für die Polizei auch schwer, in diesem Milieu zu vermitteln. Wir hatten einen Fall, da hat eine junge Frau ihre Familie angezeigt. Das war ein langwieriger Gerichtsprozess. Die Frau hatte schon ein neues Leben angefangen in einer anderen Stadt, musste aber zum Prozess immer wieder anreisen und sich peinlichen Befragungen stellen.  Sie war bei den Gerichtsterminen immer wieder durch ihre Familie gefährdet. Es war kaum möglich, dafür zu sorgen, dass keine Daten von ihr weitergegeben werden – der Anwalt der Familie hatte ja Akteneinsicht. Am Ende wurde der Vater zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Er ging in Berufung. Und die Tortur begann von neuem. 

Wie lange hat sich hingezogen?
Über Jahre. Daran sehen Sie: So richtig zuraten kann man niemandem, so etwas durchzustehen. Am Ende hat der Vater nur eingelenkt, weil das Gericht der Mutter damit drohte, sie wegen Falschaussage zu verklagen. 

Wenn das Instrument der Strafverfolgung nicht reicht, was muss sonst passieren, damit die Opfer geschützt werden?
Wir brauchen auch so etwas wie einen Zeugenschutz light: Die Möglichkeit, sich zu anonymisieren. Es muss mehr Prävention in den Schulen und mehr Beratungsstellen geben. Nicht jedes Mädchen traut sich, gleich von zu Hause abzuhauen. Umso wichtiger ist eine Online-Beratung, die jetzt aber gefährdet ist, weil uns der Berliner Senat nur eine halbe Stelle finanziert. Wir brauchen aber zwei Stellen.

Warum ist die Online-Beratung so wichtig?
Die können die Mädchen auch nachts mit dem Handy nutzen, dafür müssen sie nicht mal das Zimmer verlassen. Wenn man so stark von der Familie kontrolliert wird, ist das das einzige Schlupfloch nach draußen. 

Müsste Prävention nicht bei den Eltern anfangen? 
Eigentlich schon, aber bei diesen Eltern funktioniert das nicht. Man kann nicht Info-Abende über Zwangsverheiratungen anbieten. Dann kommt keiner. Man muss es allgemeiner fassen und über Erziehung sprechen. In Berlin ist das zum Beispiel eine wichtige Aufgabe der Stadtteilmütter, die dafür ausgebildet werden, Familien über solche Fragen aufzuklären. 

Sie klingen resigniert. Muss man sich damit abfinden, dass es immer Familien geben wird, die man weder mit dem Strafgesetz noch mit der Prävention  erreicht? 
Ich fürchte: Ja. Auch mit den besten Absichten wird man nie alle erreichen. Man kann nur versuchen, die Kinder in den Schulen zu stärken

Mehr infos unter papatya.org und #holdirhilfe

*Christine Schwarz ist nicht der echte Name der Psychologin. Aus Schutzgründen geben wir einen anderen Namen an.

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