Zeitenwende - Die linke Ära ist vorbei

Kisslers Konter: Nach den Gewaltexzessen von Hamburg bröckelt die linke Deutungshoheit. Das ist gut so, denn eine freie Gesellschaft braucht freie Debatten. Die Zeit der argumentativen Ausgrenzung neigt sich dem Ende zu

Die Rote Flora im Hamburger Schanzenviertel: Mit der linken Deutungshoheit von Begriffen ist jetzt Schluss / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Lange nichts gehört von Jörg Meuthen. Es ist still geworden um den AfD-Bundessprecher. Nun aber sieht Meuthen sich durch die schlimmen Gewalttaten aus Anlass des Hamburger G20-Treffens zum markigen Wort ermuntert. Er fordert, „dass die sogenannte Antifa künftig als terroristische Vereinigung behandelt wird.“ Oha. Schießt da einer übers Ziel hinaus? Darüber lässt sich streiten. Unstrittig jedoch ist der Umstand, dass wir Zeugen werden einer tektonischen Begriffsverschiebung. Den Linken entgleitet die Hoheit über die Begriffe. Es könnte der Beginn des Abschieds von der Macht sein. 

Antifa, Autonome, Mut, Haltung und Zivilcourage: Diese fünf Begriffe verlieren gerade ihr disziplinierendes Potential. Sie werden von moralisch aufgeladenen Appell- und Funktionswörtern zu schlichten Behauptungen und so ihres pädagogischen Charakters entkleidet; vom Donnerwort zur Seifenblase in kurzer Frist. Antifa klang einmal nach dem einzig Richtigen, dem Kampf gegen den Faschismus. Heute erkennen wir, dass Gruppen, die sich so nennen, auf eigene Rechnung zu eigenen Zwecken kämpfen und dabei vor Hass und Gewalt nicht zurückschrecken. Wie anders ist es zu erklären, dass Drohungen der Antifa gegen Brandenburger Schüler ihr antidemokratisches Ziel erreichten und die Absage einer freien Diskussion provozierten?

Extremisten machen Staat lächerlich

Schlimmer noch: Der Staat, das rot-rot regierte Land Brandenburg, knickte vor der staatsfeindlichen Antifa ein. So wie er sich in Hamburg drei Tage lang von linken Extremisten lächerlich machen ließ, so riet der Staat nun in Potsdam, man möge eine Schulveranstaltung lieber sein lassen, gegen die sich die Antifa ausgesprochen hatte. Das Brandenburger Bildungsministerium erklärte dem Landesschülerrat: Diskutiert nicht offen über Politik, das könnte die Antifa reizen, das könnte die Antifa dazu bewegen, ihre Drohungen wahrzumachen und gewalttätig zu werden. Die Antifa bestimmt die Grenzen des Diskurses – und ein öffentliches Gespräch unter Schülern, zu dem auch ein Vertreter der AfD geladen war, darf aus linksextremer Perspektive nicht sein. Der Ruin der Begriffe folgt auf den Kollaps der Souveränität.

Die Antifa ist deklassiert, die Autonomen sind es auch. Autonomie war einmal ein wunderbarer Begriff. Er bezeichnete die Selbstemanzipation des Menschen. Heute soll er selbstfahrende Autos zu Personen empor schwindeln – Dinge können niemals autonom sein – und soll linksextremen Gefährdern ein Alibi für praktizierte Intoleranz geben. Um es in einen zynischen Witz zu packen: Autonom kann bei Autonomen nur das Gehirn sein; es hat ja ein anderer. Auch die medial verstärkte Verniedlichung der Hamburger Gewalttäter zu Chaoten, Randalierern oder Aktivisten gehört zu diesen strategischen Gedankenlosigkeiten.

Es gibt zu viel Gratismut

An Mut aber ist rein gar nichts auszusetzen, oder? Die ehemalige Theologiestudentin und heutige Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt schrieb gerade ein Büchlein darüber, 128 Seiten stark: „Ich entscheide mich für Mut. Wie wir Veränderung in unserem Land gestalten.“ Mut in öffentlichen Diskursen ist aber zu Gratismut mutiert. Es ist Mut gegenüber jenen, mit deren Wehrlosigkeit man rechnet. Es ist Mut im Angesicht von Gegnern, die nicht zurückschlagen, des amerikanischen Präsidenten etwa, des Papstes oder internationaler Konzerne, ist selten Mut im Angesicht der veröffentlichten Meinung, der Konsensmoral oder der wirklich gefährlichen Widersacher. Man demonstriert vor Kirchen, nicht vor Moscheen, für Diversität; fordert Toleranz lieber von Warschau als von Teheran, verurteilt Tel Aviv, nicht Sanaa. Auch dieser linke Begriffsreduktionismus kommt an sein natürliches Ende. An echtem Mut herrscht Mangel, weil es zu viel Gratismut gibt.

Das Wort von der Gratishaltung gibt es noch nicht; die Sache, die es bezeichnete, sehr wohl. Extrem linke Zeitungen betteln um Abonnements, weil man durch den Abschluss eines solchen „Haltung“ zeige, gemeint ist: weil man sich gegen Zahlung einreihen darf in die Kolonne der Gutgesinnten. Linke Journalisten verteilen Haltungsnoten für Nichtlinke, ob im Fernsehen, im Radio, in der Presse. Haltung soll die Reihen schließen, Haltung formiert die Weltanschauungselite. Haltung ist, was man risikolos eingestehen darf, ist Haltung „gegen rechts“, gegen „die Mächtigen“, gerne auch wieder gegen Israel. Man muss kein Orthopäde sein, um Haltungsschäden zu diagnostizieren, wenn es mehr Haltungsexperten als Haltungen gibt. So wurde Haltung vom Geländer, an das man sich hält, wenn‘s stürmt, zur täglichen Rutschbahn für die Feinde. Es ist die Haltung der Haltlosen.

Gewalt ist auch ein linkes Problem

Zivilcourage schließlich ist ein abgründiges Wort. Der Historiker Michael Wolffsohn hat in seinem gleichnamigen Buch darauf hingewiesen, dass es gerne hervorgeholt wird, um Staatsversagen abzufedern. Der Bürger soll sich couragiert zeigen, wenn der Staat Sicherheitslücken offenbart, wodurch diese perpetuiert werden. Linke Logik geht einen Schritt weiter und okkupiert den Begriff. Zivilcouragiert ist, wer dem linken Bekenntnis adäquate Taten folgen lässt, wer gegen die „strukturelle Gewalt“ der Verhältnisse aufbegehrt. Nach den linksextremen Exzessen von Hamburg wurde der anwaltliche Versuch unternommen, die Zerstörung fremden Eigentums als „Ausdruck zivilen Ungehorsams“ zu rechtfertigen. So hätte man‘s gern. So wird es nicht länger funktionieren, das Vernebeln von Verantwortung und Tolerieren von Terror im Namen einer einmal progressiv gewesenen Weltanschauung.

Heute erhebt meistens die Reaktion ihr Haupt, wenn linkes Denken vorgeführt wird. Darum ist es hilflos, nicht rührend, wenn der SPD-Linke Ralf Stegner, Siegfried und Roy in einer Person, linksextreme Gewalt aus der Welt zaubern will, indem er Gewalt zu einem „rechten“  oder einem aussagefreien kriminellen Phänomen erklärt, einem Zeichen ohne Bedeutung, womit der Bordesholmer ein zweites, diesmal sprachlogisches Wunder vollbracht hätte.

Wer definiert, der bestimmt

Hilflos ist das Geraune des altlinken Grünen Christian Ströbele – Anwalt von Beruf wie der gewalttolerierende Theoretiker des Ungehorsams aus Hamburg –, Gewalt liege eher bei der Staatsmacht, der Polizei, die durch ihre „ungeheure Brutalität“ die Demonstranten spontan „radikalisiert“ habe. Handelte es sich am Ende bei den 476 verletzten Polizisten um Selbstverstümmelungen? Schweigen wollen wir vom Vorschlag der Berliner Linkspartei, nach den Hamburger Gewalttaten durch Vermummte müsse nun das Vermummungsverbot aufgehoben werden. Damit der Schwarze Block wachse und gedeihe und im klassenkämpferischen Kampf ergraue, ohne dass man sein Haupthaar sehe. Das Linke kann auch linkisch sein.

Robert Misik schreibt in seinem Buch „Was Linke denken“: „So wie Sprache mit Macht zu tun hat, so gilt: Wer definiert, der bestimmt.“ In der Tat. Die Definitionsmacht der Linke, Jahrzehnte lang unhinterfragt, bröckelt. Lange Macht macht träge und gedankenfaul, das gilt auch für diskursive. An Universitäten wird noch Abschottung vor der Wirklichkeit und linke Kaderpflege betrieben, doch auch hier nagt der Zahn der Zeit. Die Arena füllt sich, die Republik wächst. Ein ehemals linker Traum könnte wahr werden, der in den vergangenen Jahren an linken Widerständen gescheitert ist: dass jeder mitreden darf im öffentlichen Gespräch und dass das gute Argument mehr zählt als die gute Herkunft. Die Spiele sind eröffnet. Das Feld wird frei.

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