Wolfgang Thierse - Der alte Mann und der Shitstorm

Der Sozialdemokrat Wolfgang Thierse galt in seiner Partei immer als progressiv. Nun wird der langjährige Bundestagspräsident plötzlich als alter weißer Mann diffamiert. Angesichts seiner Lebensleistung wirkt das absurd.

Man merkt, dass Wolfgang Thierse die persönlichen Angriffe verletzt haben / Karsten Thielker
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Marko Northe hat die Onlineredaktion von cicero.de geleitet. Zuvor war er Teamleiter Online im ARD-Hauptstadtstudio und Redakteur bei der "Welt". Studium in Bonn, Genf und Berlin sowie am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. 

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Ob es auch mit diesem Rausche­bart und der Brille zu tun hat, dass Wolfgang Thierse in seiner Partei nun als „alter weißer Mann“ verschrien ist? Der ehemalige Bundestagspräsident sitzt in seiner stuckverzierten Berliner Altbauwohnung, hinter ihm eine imposante Bibliothek. Thierse wirkt wie der Inbegriff eines linksintellektuellen Bildungsbürgers. Ein Germanist, wie er sich gleich zu Anfang des Gesprächs bezeichnet. 52 Jahre nach seinem Diplomabschluss scheint die Literaturwissenschaft immer noch vor der Politik zu kommen. 

Doch seine Liebe zur deutschen Literatur ist damals wie heute politisch: „Wer je Hölderlin und andere richtig gelesen hat, der hatte immer einen Traum von einem anderen Deutschland“, sagte er 1991 in einem Interview. Und in seinem kürzlich in der FAZ erschienenen Essay „Wie viel Identität verträgt die Gesellschaft?“ verteidigt Thierse die Nation als legitime Antwort auf das „Bedürfnis nach sozialer und kultureller Beheimatung“. Patriotismus dürfe man nicht den Rechten überlassen. Das und Thierses Warnungen vor einer Ideologisierung und Verhärtung gesellschaftlicher Debatten über Rassismus, Gendern oder Gleichberechtigung sorgten für heftige Kritik in der nach links driftenden SPD. 

Mit allen Wassern gewaschen

Er sei inzwischen 77, da kippe man nicht mehr so leicht aus den Latschen, wenn man angefeindet wird, sagt der geborene Breslauer, der in seinem Leben schon Schlimmeres erlebt hat. 1976 beispielsweise, als er in der DDR seinen Job im Ministerium für Kultur verlor, weil er sich weigerte, eine Erklärung zu unterzeichnen, die die Ausbürgerung von Wolf Biermann befürwortete. Über sein Leben in der DDR sagte Thierse einmal: „Ich denke, dass ich vieles nicht habe mitmachen wollen. Und dass ich irgendwann einmal bereit war, einen Preis dafür zu zahlen. Den Preis, dass man nicht so eine dolle Karriere macht.“ 
Karriere machte er nach der Wende: Aus dem Neuen Forum in die SPD gewechselt, wurde er 1990 in den Bundestag gewählt und schied erst 20 Jahre später wieder aus.

Auch wenn er im Gespräch dieser Tage anderes behauptet: Man merkt Thierse an, dass ihn die persönlichen Angriffe, die auf seinen Essay folgten, verletzen. Jüngere Genossen fragten hämisch auf Twitter, ob man den Mann, der fast zwei Jahrzehnte im SPD-Vorstand war, überhaupt kennen müsse. Andere warfen ihm Empathielosigkeit vor. 

Eigentlich Vorzeigesozialdemokrat

Ihn brächten solche Vorwürfe in die unangenehme Lage, selbst daran erinnern zu müssen, dass er der erste Spitzenpolitiker war, der sich nach der Wende gegen Rechtsextremismus in Ostdeutschland engagierte. Als Nestbeschmutzer hätten CDU-Politiker den einstigen DDR-Bürgerrechtler damals beschimpft. Thierse ist bis heute Schirmherr der Amadeu-Antonio-Stiftung, die Rechtsextremismus und Rechtspopulismus bekämpft. Als Bundestagspräsident war er 2001 einer der ersten namhaften Politiker, die auf einer Parade des Christopher Street Day eine Rede hielten.

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Und nun sitzt ausgerechnet dieser eigentlich doch progressive Vorzeigesozialdemokrat auf der Anklagebank linker Aktivisten, denen Saskia Esken und Kevin Kühnert in einem parteiinternen Entschuldigungsschreiben beipflichteten. Sie seien beschämt über das „rückwärtsgewandte Bild der SPD“, das manche Parteimitglieder zeichneten. Thierse, der sich angesprochen fühlte, bat Esken, ihm mitzuteilen, ob seine Parteimitgliedschaft noch erwünscht sei. Seine Lebensleistung, sagt er fassungslos, sei nun „so unendlich weit weg, das zählt dann ja gar nicht mehr“. 

Politik und Moral

Dabei war er in seiner Zeit als Bundestagspräsident bei den christdemokratischen Gegnern sogar als Moralist verschrien. Thierses Ära fiel in die Zeit der CDU-Spendenaffäre, was dazu führte, dass er Sanktionen in Millionenhöhe gegen die Partei aussprechen musste. „Helmut Kohl hat mich, glaube ich, gehasst“, sagte Thierse Jahre später. Tatsächlich hatte der Altbundeskanzler Thierse 2002 als den „schlimmsten Präsidenten seit Hermann Göring“ bezeichnet – und sich nie dafür entschuldigt. Doch auch Thierse ist nicht immer integer. Als sich Franz Müntefering wegen einer schweren Erkrankung seiner Frau aus der Politik zurückzog, kommentierte Thierse: „Seine Frau im Dunkeln in Ludwigshafen sitzen zu lassen, wie es Helmut Kohl gemacht hat, ist kein Ideal.“ Er bat Kohl später dafür um Entschuldigung.

Thierse weiß, dass Moral und Politik nicht harmonieren. Doch sein Leben in der DDR habe ihn zum moralischen Menschen erzogen. Jede Entscheidung in der Diktatur habe man für sich moralisch begründen müssen. Dass er dennoch in die SPD eingetreten und Politiker geworden ist, begründete Thierse 1991 so: „Es geht am Schluss darum, dass man die angehäuften Träume und Hoffnungen und Ideale doch mit sehr irdischer Politik verbinden muss.“
 

Dieser Text stammt aus der April-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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