Wolfgang Schäuble - Der Abwiegler

Wolfgang Schäuble feiert sein 50-jähriges Bundestagsjubiläum. Je älter er wurde, desto mehr machte er sich einen Namen als verschmitzter Abwiegler. Unions-Abgeordnete erlebten in den 90er Jahren jedoch einen ganz anderen Schäuble.

Wolfgang Schäuble, damals Fraktionsvorsitzender, mit Bundeskanzler Helmut Kohl auf dem CDU-Parteitag in Karlsruhe 1995 / dpa
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Dr. Hugo Müller-Vogg arbeitet als Publizist in Berlin. Er veröffentlichte zahlreiche Bücher zu politischen und wirtschaftlichen Fragen, darunter einen Interviewband mit Angela Merkel. Der gebürtige Mannheimer war von 1988 bis 2001 Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung.

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Um ein halbes Jahrhundert in der Politik zu sein und sie maßgeblich mitzuprägen, braucht es mindestens drei Voraussetzungen: einen sicheren Wahlkreis, der einem auch dann noch das Direktmandat sichert, wenn die eigene Partei bei den Zweitstimmen immer tiefer fällt. Ein profundes Wissen, in der Sache, aber auch mit Blick auf die notwendigen Tricks und Finten. Schließlich ein robustes Naturell, um selbst schwere Schläge äußerlich stoisch hinzunehmen.

Wolfgang Schäuble, seit genau 50 Jahren Mitglied des Bundestags, erfüllt diese Kriterien. Sonst hätte er nicht nahezu alle Spitzenpositionen erklimmen können, die eine parlamentarische Demokratie zu besetzen hat. Nur zwei Ämter erreichte er nicht, obwohl er beide Positionen gern eingenommen hätte: Bundeskanzler und Bundespräsident. Ersteres hat Helmut Kohl ihm verwehrt, Letzteres Angela Merkel. Beide Zurückweisungen müssen ihn tief getroffen haben. Weitergemacht, als wäre nichts geschehen, hat er dennoch.

Der verhinderte Kanzler

Schäuble war und ist Parteipolitiker durch und durch. Das ist nicht abwertend gemeint, im Gegenteil. Ihm war im Gegensatz zu manchem Parteifreund immer klar, dass die eigene Profilierung zu Lasten des eigenen Vereins zwar von Journalisten goutiert und belohnt wird, der Sache aber schadet. Deshalb stand er treu zu seiner Partei, selbst wenn er mit manchem nicht einverstanden war.

Natürlich wäre Schäuble am liebsten Kanzler geworden. Aber er lehnte es 1989 ebenso wie 2015 ab, Kohl und Merkel gegen deren Willen abzulösen. Sein Verhalten hat er kürzlich so erklärt: „Wir stürzen nicht unseren eigenen Kanzler, sondern wir stützen unseren Kanzler.“ Daran hat er sich gehalten.

Schäubles größte Leistung zwar zweifellos das Aushandeln des Einigungsvertrags mit der DDR nach dem Mauerfall. Als Fraktionschef der CDU/CSU hat er vor allem zwischen 1994 und 1998 dafür gesorgt, dass es auch innenpolitisch voranging, als sich Kohl zunehmend in die Außenpolitik flüchtete. Politisch vereinte er in seiner Person, was die CDU einst stark gemacht hat – die Verbindung der christlich-sozialen Werte mit wirtschaftsliberalen und konservativen. Wobei er meisterlich die Akzente zu verschieben verstand, ohne Beweglichkeit mit Beliebigkeit zu verwechseln.

Kritik ja, aber nicht zu konkret

Schäuble hatte und hat sichtlich Spaß daran, bisweilen mit kryptischen Bemerkungen Aufsehen zu erregen, ohne allerdings zu sehr ins Konkrete zu gehen. So gab Schäuble fünfzehn Jahre nach der CDU-Spendenaffäre zu Protokoll, die anonymen Spender, deren Namen Helmut Kohl partout nicht nennen wollte, habe es gar nicht gegeben. Belegen konnte er das freilich nicht.

Ebenso typisch für den gerne verschmitzt argumentierenden Südbadener war sein indirekter Vergleich von Merkels Politik der weit offenen Grenzen mit einem Skifahrer, der eine Lawine auslöst. Als Journalisten dies als direkte Kritik an der Kanzlerin interpretierten, wiegelte er schnell ab: Die Skifahrerin Merkel sei bekanntlich in der Langlauf-Loipe unterwegs, nicht auf Abfahrtspisten.

Anders als mit Kohl, mit dem er seit der Spendenaffäre nicht mehr gesprochen hat, unterhielt Schäuble zu Merkel stets eine belastbare Arbeitsbeziehung. Anderenfalls hätte er nicht so lange ihr Innen- und Finanzminister sein können. Dass sie ihn nach der Spendenaffäre Anfang 2000 eiskalt als Bundesvorsitzenden abserviert hat, hat Schäuble dennoch nicht vergessen. Jedenfalls war er zuletzt nicht bereit, seine einstige Chefin in eine Reihe mit Konrad Adenauer, Willy Brandt oder Helmut Kohl zu stellen. Schäuble sagte im Interview mit dem Handelsblatt: „Ob Frau Merkel unter den großen Kanzlern einzuordnen sein wird, das ist vielleicht noch zu früh, um das abschließend zu beurteilen.“

Großmeister des Relativierens

Hier zeigt sich ein besonderer Charakterzug Schäubles. Er ist ein Großmeister des Relativierens; man könnte auch sagen: des Abwiegelns. Zugleich tritt bei dem inzwischen 80-Jährigen ein gewisses Maß an Altersmilde zu Tage. So schlimm sei es ja auch wieder nicht, erwidert er gerne bei Hinweisen auf angeblich bereits eingetretene oder drohende Katastrophen und Untergangsszenarien. Haben wir alles schon erlebt, lautet eine andere Beschwichtigungsformel.

So sieht er bei den Rechtsbrechern von der „Letzten Generation“ durchaus die Gefahr, „dass jüngere Menschen, wenn sie mit den Verhältnissen unzufrieden sind, jedes Maß verlieren. Und dann wird es schlimmer als das, was sie bekämpfen wollen.“ Aber von Kampfbegriffen wie „Öko-Diktatur“ oder „Grüne RAF“ hält er „überhaupt nichts“. Ein Wolfgang Schäuble meidet zunehmend das Kampfvokabular, das er in früheren Jahren durchaus beherrschte.

Eines kann von den führenden Politikern kaum ein zweiter so gut wie Schäuble: seine Kritik so zu äußern, dass sie nicht zu scharf ausfällt. Und wenn sich das noch humorvoll verpacken lässt, umso besser. Bestes Beispiel: Als das Schuleschwänzen an Freitagen für die „Fridays for Future“-Aktivisten zum Standard wurde, rief Schäuble nicht etwa nach Strafen. Vielmehr zog er das Ganze irgendwie ins Lächerliche. Wenn freitags niemand mehr in die Schule komme, müsse man vielleicht über die Wiedereinführung des Samstagunterrichts nachdenken, spottete er.

Harter Hund der CDU/CSU-Fraktion

Der Schäuble, der in Talkshows eine verständnisvolle Lockerheit pflegt, kann auch anders. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat er mit harter Hand geführt. Da er selbst stets bestens informiert und belesen war, ärgerte er sich besonders über Abgeordnete, die weniger Details als er kannten und dennoch das große Wort führten. Schäuble wusste fast immer mehr als die anderen – und ließ sie das auch spüren.

In der Fraktion, die er von 1991 bis 2000 führte, wurde er respektiert, aber nicht gerade geliebt. Helmut Kohl hat Überlegungen, Schäuble noch vor der Bundestagswahl 1998 zum Kanzler wählen zu lassen, unter anderem auch deshalb abgelehnt, weil er angesichts der knappen Mehrheit der Koalition aus Union und FDP mit zu vielen Abweichlern aus den eigenen Reihen rechnete. Dass Kohl überzeugt war, er selbst müsse bis 2002 Kanzler bleiben, steht auf einem anderen Blatt.

50 Jahre lang Parlamentarier wie Wolfgang Schäuble, das hat seit der Paulskirche-Versammlung von 1848 niemand geschafft. Das wird es wahrscheinlich auch nicht mehr geben, zumal die durchschnittliche Verweildauer eines Mitglieds des Bundestags bei knapp acht Jahren liegt, die Zahl der sicheren Wahlkreise geringer und der Konkurrenzkampf in den Parteien härter wird. Zudem neigen gerade Politiker unter 50 Jahren zu einem neuen Karriereverlauf: erst zwei, drei Legislaturperioden im Parlament und dann eine neue Karriere in der Wirtschaft oder bei Verbänden. Ein ganzes Leben für die Politik wird zunehmend zur Ausnahme.

Leidenschaft, Verantwortungsbewusstsein – und Humor

Wolfgang Schäuble war und ist ein „Zoon Politikon“, wie es kein zweites in Berlin gibt. Politik war und ist sein Leben. Dieses Leben ist seit mehr als 32 Jahren dadurch eingeschränkt, dass er nach dem Attentat eines geistig verwirrten Mannes an den Rollstuhl gebunden ist. Selbst politische Gegner sprechen mit Bewunderung davon, wie souverän Schäuble dies alles meistert. Er habe Politik aus Leidenschaft gemacht, sagte Schäuble in einem der zahlreichen Interviews zu seinem „goldenen“ MdB-Jubiläum. Man muss hinzufügen: und aus Verantwortungsbewusstsein.

Leidenschaft und Verantwortungsbewusstsein, ohne beide Eigenschaften hätte Wolfgang Schäuble die deutsche Politik nicht so prägen können, wie er es getan hat. Wobei man eine weitere „Zutat“ nicht vergessen sollte: seinen Humor.

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