Warnungen der Intensivmediziner - „Ich kann mich dem Lamento nicht anschließen“

Die Vereinigung der Intensivmediziner fordert seit Wochen eine bundeseinheitliche Strategie, harte Corona-Maßnahmen und „weniger Diskussion“. Wolfgang Walter, Arzt auf einer Covid-Intensivstation in Bayern, widerspricht.

Covid-Intensivstation im Wald-Klinikum Gera / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Dr. Wolfgang Walter ist Anästhesist und arbeitet auf der Covid-Intensivstation eines bayerischen Krankenhauses der Grund- und Regelversorgung.

So erreichen Sie Wolfgang Walter:

Anzeige

Und wieder warnen sie alle: Präsident, Ex-Präsident und Leiter des Intensivbettenregisters der Deutschen interdisziplinären Vereinigung für Intensivmedizin (DIVI). Meine „Kollegen“. Man will eine „bundeseinheitliche Strategie“, „harte Corona-Maßnahmen“ und „weniger Diskussion“.

Ich jedenfalls kann mich nicht vorbehaltlos diesem schon seit Wochen in Dauerschleife vorgetragenen Lamento anschließen. Nicht einmal aus Kollegialität. Selbstverständlich könnte ich mich mit Blick auf die eigene Covid-Intensivstation in den Chor der Hilferufenden einreihen. Denn diese ist konkret auch in ernstzunehmender Weise belegt. 

Trotzdem mache ich das nicht. Es wäre einfach. Aber ich mache es nicht (mehr), weil es nichts (mehr) bewirkt. Es bewirkt nichts, wenn man nicht gleichzeitig realisierbare Verbesserungsvorschläge zur Pandemiebekämpfung macht. Mit fehlt es bei den Kollegen vor allem am Aufzeigen einer Perspektive, am erforderlichen Augenmaß bei der praktischen Umsetzung von Erkenntnis und der kontinuierlichen Re-Evaluation der erforderlichen Maßnahmen. Für interdisziplinäre Intensivmediziner sollte dieser Blick über den Tellerrand selbstverständlich sein.

Wirksamkeit von Maßnahmen überprüfen

Muss man ausgerechnet zur Pandemieabwehr aus dem Arztkittel schlüpfen?  Denn für unsere Patienten streben wir an, die beste und nebenwirkungsärmste Therapie zu finden, eine Heilungschance aufzuzeigen und Therapien, deren Nebenwirkungen in einem ungünstigen Verhältnis zum therapeutischen Effekt stehen, nicht fortzuführen. Warum die Kollegen jetzt noch mehr von der Arznei fordern, deren Wirkmaximum erreicht ist, erschließt sich nicht. Als Intensivmediziner sind wir es eigentlich gewohnt, die Wirksamkeit von Maßnahmen täglich neu zu überprüfen.

Erheben wir also Befunde und ziehen daraus unsere Schlussfolgerungen: Hier in Bayern besteht nahezu flächendeckend eine nächtliche Ausgangssperre. Weitere Verschärfungen würden kaum noch Effekte haben.

Auch wenn es dazu leider keine Zahlen gibt, werden wohl die meisten Ansteckungen während der Arbeit und in den häuslichen Gemeinschaften stattfinden. Das lässt die Kontaktbeschränkungen ins Leere laufen. Die Effekte von Kontaktbeschränkung und Ausgangssperre, so denke ich, sind ausgereizt. Eine republikweite Vereinheitlichung wird nichts Spürbares bewirken. Insoweit widerspreche ich den Kollegen.

Vier Strategieansätze

Es gibt bislang stiefmütterlich behandelte Strategieansätze, von denen wir durchaus bessere Effekte erhoffen können als vom bundesweiten Verbot des Dämmerungsspaziergangs.

1. Die Gefahr lauert in den Innenräumen. Übertragungen im Freien finden praktisch nicht statt. Ein Bestandteil der Strategie wäre es, Aktivitäten aus Innenräumen ins Freie zu verlegen. Dazu ermuntert man, indem man Freiluftaktivität nicht unterbindet, sondern ausdrücklich zulässt. Zumindest in den Monaten Mai bis September betrifft dies beispielsweise auch den Unterricht an Schulen.

2. Wenn es Bedarf für eine bundeseinheitliche Regelung gäbe, dann dort, wo eine Zuständigkeit des Bundes gegeben ist. Meldungen von Intensivaufnahmen an das RKI erfolgen immer noch anonym und ohne ein Minimum an Zusatzangaben. Mit der Angabe der Berufsgruppe und des Wohnortes könnte man das aktuelle Infektionsgeschehen auf konkrete Ansteckungsorte eingrenzen. Erstaunlicherweise höre ich keine diesbezügliche Forderung seitens der DIVI, obwohl sie mit ihrem Intensivregister in den Meldeweg eingebunden ist. 

3. Erhebliche Defizite bestehen bei der Teststrategie. Tests können dort hilfreich sein, wo wir Infektionsherde vermuten. Das werden nicht die deutschen Fußgängerzonen sein. Bisherige Modellversuche deuten jedenfalls nicht darauf hin. Warum schaffen wir es immer noch nicht, Arbeitnehmer an ihren Arbeitsplätzen zweimal wöchentlich zu testen?

4. Wir sehen die Mängel der Impfstrategie immer noch unter dem Aspekt der Beschaffungsproblematik. Das greift zu kurz. Bis heute sind beispielsweise nicht genügend Lehrkräfte und Erzieherinnen geimpft worden, und das ist zuallererst ein Managementproblem. Warum gelingt es uns nicht, das Pflegepersonal der Alten- und Pflegeheime möglichst vollständig von der Notwendigkeit der hochwirksamen mRNA-Impfung zu überzeugen? Real-World-Studien zeigen: Vollständig Geimpfte unterbrechen mit weitaus überwiegender Mehrheit die Infekt-Ketten. Stattdessen isolieren wir mutlos die ohnehin Isolierten weiter.

Kaum noch bestritten wird die individuell hohe Schutzwirkung der Impfung vor einem schweren Covid-Verlauf. In meinem Landkreis wurde nach bisher 104 Toten der Pandemie seit einem knappen Monat kein weiterer Corona-Todesfall mehr registriert. Die Entlastung der Intensivstationen hängt nun aber an der raschen Durchimmunisierung der über 60-Jährigen.

Die wissenschaftlich begründete Erkenntnis, dass Geimpfte als Bevölkerungsgruppe die Pandemie nicht befeuern, sondern eindämmen, wird immer noch möglichst ignoriert. Stattdessen wird beharrlich, aber zunehmend sinnfrei „Solidarität“ mit den noch Ungeimpften eingefordert. Über jedes aufflackernde pandemische Glutnest in den Pflegeheimen wird berichtet, der vormalige Flächenbrand aber schnell vergessen, somit Zweifel an der Wirksamkeit genährt.

Der rosa Elefant

Warum rufen die deutschen Intensivmediziner nicht genauso vernehmlich zur Impfung auf wie sie um Hilfe rufen? Die Frage, warum immer noch zu wenig Impfstoff für Impfwillige vorhanden ist, steht im Raum wie der sprichwörtliche rosa Elefant. Jeder kennt die Antwort.

In Bezug auf das solidarische Ziel, die Pandemie einzudämmen, haben Geimpfte ihren Beitrag wahrlich geleistet. Schon gar nicht gerechtfertigt ist es daher, die Präsentation eines schlüssigen und konkreten Konzeptes für die steigende Zahl von Geimpften und Immunen immer weiter zu verzögern. Geimpfte unter sich könnten sich zu mehr als zu fünft treffen.

Sogar in Innenräumen. Im Freien durchaus im Dutzend. Mehr als zehn Geimpfte für einen Grillabend im Garten zusammen zu bekommen, wird derzeit ohnehin schwierig und nein, es geht hier wirklich nicht um die dringende Party für das Personal der Intensivstation. Warum sollte sich unter Immunisierten nicht eine ungeimpfte Person aufhalten können, wenn diese ein voraussichtlich geringes Risiko für einen schweren Covid-Verlauf hat?

Wenn Nachdenken hierüber ein Problem ist: Die oberste Gesundheitsbehörde der USA könnte Tipps geben. Verbesserungspotential ist vorhanden. Nutzen wir es endlich!

Anzeige