Wahlkampf der AfD in Berlin - Auf Kreuzzug in Kreuzberg

Früher war Sibylle Schmidt Hausbesetzerin, organisierte Punk-Konzerte und schmiss Steine auf Neonazis. Heute kandidiert sie für die AfD in ihrem alten Kiez. Eine Nacht im Berliner Wahlkampf

Mai-Demo in Berlin: „Die wachen vielleicht auch noch auf“ / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Robert Pausch ist Journalist an der Henri-Nannen-Schule.

So erreichen Sie Robert Pausch:

Anzeige

Der Oranienplatz ist dicht gefüllt in dieser lauen Sommernacht. Menschentrauben drängen sich vor den Kneipen. Auf einer Parkbank streitet sich ein Pärchen, lautstark und tränenreich. Einige Meter weiter beugt sich ein Jugendlicher über sein Fahrrad und kotzt.

Für einen Moment beobachtet Sibylle Schmidt das Treiben. Dann öffnet sie den Kofferraum ihres VW Polo. Rasch greift sie zum Kabelbinder, führt ihn behände durch die eingestanzten Löcher und lehnt das Plakat an den Kotflügel ihres Wagens. Etwa zwei Dutzend davon liegen noch auf der umgeklappten Rückbank. „Berlin braucht Sicherheit“, steht darauf. Und: „Echt. Unbequem. Mutig. AfD.“

Ein Mann schreit: „Verpisst euch, ihr Scheißnazis“

Plötzlich öffnet sich ein Dachfenster im Haus gegenüber. „Verpisst euch aus Kreuzberg, ihr Scheißnazis. Und nehmt eure Plakate gleich mit“, ruft ein Mann mit Vollbart und Glatze hinunter auf die Straße. „Das ist unser Kiez, jetzt haut ab oder ich komm zu euch runter.“

Der Kiez, das ist Sibylle Schmidts Wahlkreis. Hier, in der Herzkammer der Linken und Alternativen, tritt sie im September als Direktkandidatin der AfD für das Berliner Abgeordnetenhaus an. Seit den späten 1960ern bevölkern Kreative, Studenten, Künstler und Migranten das Viertel. Die Grünen sind hier Volkspartei, die CDU kommt kaum über zehn Prozent. „Trotzdem bleibt das immer meine Heimat“, sagt Schmidt.

Sibylle Schmidt

Mit 18 Jahren zog sie aus der nordhessischen Provinz nach Kreuzberg. 1980 war das. Zwei Jahre später eröffnete sie ihren ersten Club, das Blockshock im Keller eines besetzten Hauses. Sie holte die Großen der Punk-Szene nach Westberlin und wurde so selbst ein kleiner Star in SO36, dem linken Biotop zwischen Spree und Mauer, benannt nach dem alten Postbezirk. Wenn Kreuzberg brannte, war sie stets mittendrin. Bei den Straßenschlachten mit der Polizei fuhr sie den Wagen der „Autonomen Sanitäter“, einem linken Ärztekollektiv, und schleppte verwundete Genossen aus der Kampfzone. Oder sie raste mit ihrer Kawasaki zwischen den Fronten hin und her, beobachtete die Formationswechsel der Polizei und erstattete ihren Freunden Bericht. 32 Jahre lebte sie hier im Kiez.

 „Sibylle Schmidt ist … immer noch das Kreuzberger Urgestein, der rebellische Untergrund, das zähe Leben“, schrieb das Lokalblatt „Kreuzberger Chroniken“ 2005 über sie.

„Damit wir hier nicht bald im Gottesstaat leben“

Heute lebt sie im bürgerlichen Südwesten der Stadt, in Kreuzberg macht sie Wahlkampf. Elegantes schwarzes Kleid, Perlenkette – so steht sie jetzt am Schlesischen Tor. Mit einer Hand lehnt sie sich an die Beifahrertür ihres Autos. Zum zehnten Mal plakatieren sie und ihr Mann nachts für die AfD. „Irgendwas muss man ja tun, damit wir hier nicht bald im Gottesstaat leben“, sagt sie. Wenn Sibylle Schmidt über den Islam spricht, wird ihre Stimme laut. Wörter wie „Unterwerfung“ und „Sklaverei“ schießen dann wie Kugeln durch die Luft. Deutsche Jungen mit blauen Augen seien heute die am meisten diskriminierte Gruppe, sagt Schmidt.

Woher kommt diese Wut, wann hat das angefangen? Mitte der Achtziger, erzählt Schmidt, habe sie mit Freunden die halbe Nacht „in der Wanne“, also einem Mannschaftswagen der Polizei verbracht. Nach einer Razzia in der „Roten Harfe“ hatte die Polizei sie festgenommen. Während sie also dasaßen, angetrunken und schimpfend auf das Schweinesystem, habe ein Türke den Polizisten draußen Kebab verkauft. „Da habe ich gemerkt, auf die wirst du dich nie verlassen können.“ Und überhaupt, die Drogen, die Kriminalität, das sei alles mit den Söhnen der Gastarbeiter in den Kiez gekommen.

Aus dem Kofferraum zieht Schmidt eine Leiter. Prüfend betrachtet sie die nächste Laterne. „Meinst du, wir kommen über die CDU?“, fragt sie ihren Mann. Der nickt, sie reicht ihm das Plakat.

Als sie die Leiter anlegen, umringt eine Gruppe von insgesamt sechs Jungen und Mädchen Schmidt und ihren Mann. Vor ein paar Wochen haben die Jugendlichen Abitur gemacht. Sie trinken Bier und rauchen Selbstgedrehte. „Lügen haben lange Leitern“, ruft einer. Ob sie sich nicht schäme, fragt ein anderer. Nach einem kurzen Wortgefecht zieht die Gruppe weiter. Einer erzählt, er habe schon einmal AfD-Plakate abgerissen und dafür eine Anzeige kassiert. Das Risiko wolle er nicht noch einmal eingehen.

Neonazis bewarf sie mit Pflastersteinen und Flaschen

Schmidt schaut ihnen hinterher. Ob sie manchmal Angst hat, wenn sie nachts plakatiert? „Quatsch“, sagt sie, „die haben doch nichts drauf.“ Angst hatte sie früher. Ihre Gegner waren damals nicht Abiturienten, sondern kampferprobte Neonazis. Im Sommer 1987 überfielen etwa 30 von ihnen das Blockshock, bewaffnet mit Nagelbrettern und Baseballschlägern. Der „dicke Tom“, der sich um die Tür kümmerte, hatte sie nicht reingelassen. Springerstiefel und weiße Schnürsenkel, er hatte gewusst, das gibt Stress. Schmidt war damals schwanger mit ihrem ersten Kind. Sie und ihr Team verschanzten sich hinter Glascontainern. Pflastersteine und Flaschen warfen sie so lang auf die Nazis, bis Verstärkung eintraf. „Die hätten uns übel zurichten können“, sagt sie.

Jetzt kandidiert die Steinewerferin von einst für die Partei, die für „die gelebte Tradition der deutschen Kultur“ eintritt. „Berlin braucht klare Regeln“, steht auf dem Plakat, das Schmidt gerade an einer Laterne befestigt hat. Wie erklärt sie diesen Gesinnungswandel?

Sie fühlt sich bedroht von Kopftüchern

Schmidt sagt, sie fühle sich bedroht. Von türkischen Clans und kopftuchtragenden Frauen. Von Zensur. Von politischer Korrektheit. Sie spricht von den „Gutmenschen“ und „Multikulti-Ideologen“, die die echten Probleme nicht wahrhaben wollten. Von „Gender-Gaga“ und der Frühsexualisierung der Kinder. Seit etwa einem Jahr liest Schmidt viel im Internet: Kopp Online, Epochtimes, Tichys Einblicke. Dort gäbe es „richtig geile Artikel“. Seitdem, sagt sie, sei ihr vieles klarer. Bis vor Kurzem war sie noch Mitglied der SPD. Doch da tummelten sich fast nur noch „Karrieristen und Duckmäuser“. Offen reden könne dort niemand mehr.

Mit schnellem Schritt läuft Schmidt die Skalitzer Straße hinunter. Vor einem Plakat der Kreuzberger Bürgermeisterin Monika Herrmann – Kurzhaarschnitt, bekennend lesbisch – bleibt sie stehen, ihre Augen funkeln. „Verstehen Sie, ich hab‘ einfach keinen Bock, von solchen Unfruchtbaren regiert zu werden.“

Es ist kurz nach zwei Uhr nachts, Sibylle Schmidt hat rund zwei Dutzend Plakate an Laternenmasten befestigt. Nun sitzt die AfD-Frau im „Franken“, einer der letzten Punker-Kneipen hier, wie sie sagt. Schmidt sieht zufrieden aus. „Mal sehen, wie lang die Plakate hängen bleiben“, murmelt sie und lächelt.

Vor ein paar Wochen war sie auf der Beerdigung der Sponti-Legende Bommi Baumann, die beiden kannten sich gut. Sie traf dort viele alte Freunde. Für ihr neues politisches Engagement hatte niemand Verständnis. „Die werden sich noch wundern“, sagt Schmidt und lehnt sich auf ihrem Stuhl zurück. „Wenn Kreuzberg den Dealern gehört und die Deutschen hier nur noch eine Minderheit sind, wachen die vielleicht auch auf. Aber so lange können wir nicht warten.“ Sie bestellt die Rechnung und winkt dem Wirt zum Abschied. „Bis bald, bleibt sauber“, ruft sie in die Kneipe.

Anzeige