Wahlen in Berlin - Die Wirklichkeitsverdrängung der ehemaligen Volksparteien

CDU und SPD versuchen ihr schlechtes Abschneiden bei den Wahlen in Berlin wegzukommentieren. Aber es wird immer deutlicher: Die ehemals staatstragenden Parteien erleiden einen massiven Vertrauensverlust

„Zweitstärkste Kraft“ und „Wahlsieger“: Frank Henkel und Michael Müller / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Wenn Berlins (weiter)regierender Bürgermeister Michael Müller (SPD) mit seiner Prophezeiung richtig läge, dann würde das heutige Wahlergebnis „auf der ganzen Welt als ein Zeichen des Wiederaufstiegs der Rechten und Nazis in Deutschland gewertet“. Die AfD holte nämlich 14,2 Prozent, also sogar oberhalb jenes Bereichs („10 bis 14 Prozent“), den Müller für dieses Szenario festgelegt hatte. Ein kurzer Blick in die internationale Presse lässt dann freilich doch gewisse Zweifel an der These aufkommen, dass die ganze Welt jetzt Angst vor einem neuen Nazi-Deutschland hätte. Man könnte auch sagen, dass die Wahl zum Berliner Abgeordnetenhaus dem Rest der Welt nicht ganz so wichtig ist, wie der Bürgermeister glaubt. Um nicht zu sagen: eher schnuppe. Aber die deutsche Hauptstadt nimmt sich eben selbst gern ein bisschen wichtiger als sie in Wirklichkeit ist – was ja grundsätzlich kein unsympathischer Zug ist. Also Schwamm drüber.

Groteskes Schönreden

Schwamm drüber ist offenbar auch das Motto, mit dem die beiden ehemaligen Volksparteien CDU und SPD ihr prozentuales Abschneiden wegzukommentieren versuchen. Die Sozialdemokraten werden ja auch weiterhin den Regierenden Bürgermeister stellen und freuen sich darüber, die mit Abstand stärkste Kraft in Berlin zu sein: mit sage und schreibe 21,6 Prozent.

CDU-Generalsekretär Peter Tauber wiederum fand es in einem ersten Statement hervorhebenswert, dass seine Partei „zweitstärkste Kraft geblieben“ ist: mit round about 18 Prozent. Wenn diese Art von Wirklichkeitsverdrängung nicht so bedrückend wäre, könnte man es noch lustig finden. So lustig zum Beispiel wie Peter Taubers Erklärung, die CDU habe als Berliner Regierungspartei in den vergangenen fünf Jahren einfach nicht genug Zeit gehabt um zu zeigen, was in ihr steckt. Es ist grotesk.

Das politische System zerfasert

In Berlin reicht es nicht mehr für eine Große Koalition, SPD und CDU verlieren jeweils mehr als fünf Prozentpunkte. Wenn also wirklich ein Signal von Berlin an die große weite Welt ausgehen könnte, dann dieses: das politische System, wie man es bisher kannte, zerfasert in Deutschland gewaltig. Die beiden ehemals großen staatstragenden Parteien der Bundesrepublik erleiden einen massiven Vertrauensverlust.

Was die Ursachen dafür sind, sei jetzt einmal dahingestellt. Ein Zeichen für Stabilität geht jedenfalls nicht davon aus. Dass Berlin aller Wahrscheinlichkeit nach künftig von einer rot-rot-grünen Koalition regiert wird, dürfte von deren Protagonisten mutmaßlich als eine stabile linke Mehrheit interpretiert werden. Aber gerade mit Blick auf den Bund ist das natürlich Augenwischerei.
 
In Berlin ist die SPD zwar tatsächlich die stärkste Partei, aber so groß ist ihr Vorsprung auf die Grünen und Die Linke mit ihren jeweils um die 15 Prozent eben doch nicht, dass sie in einer rot-rot-grünen Koalition einen klaren Führungsanspruch für sich reklamieren könnte. Es wird nicht lange dauern, bis der eine oder andere Sozialdemokrat sich die CDU als Partner zurückwünscht. Tatsächlich dürfte die Union zumindest den Vertretern der traditionellen Sozialdemokratie in Berlin deutlich näher stehen als die jetzt auserkorenen Koalitionäre von Grün und Links.

Leichter wird das Regieren für Michael Müller kaum werden, auch wenn er sich im Wahlkampf mächtig bemüht hat, eine weitere Zukunft mit der CDU auszuschließen. Womit er natürlich seine eigene Position bei den anstehenden Koalitionsverhandlungen verschlechtert hat. Grüne und Linke wissen, dass Müller gar nicht anders kann als rot-rot-grün.

Träume der CDU zerplatzen 

Für die CDU ist das Ergebnis nicht weniger als ein Desaster, der Traum von der modernen Großstadtpartei ist endgültig geplatzt. Wie auch immer der Anteil der CDU-Performance auf Bundesebene am Resultat diese Wahl gewesen sin mag – der Unionskandidat Frank Henkel hat es als Innensenator nicht geschafft, das gerade in Berlin besonders wichtige Thema innere Sicherheit glaubwürdig zu besetzen: zu viel Aktionismus, zu wenig Resultate. In einer ersten Reaktion hat er seinen Rücktritt als Landeschef zwar ausgeschlossen. Aber wenn die Union sich in der Hauptstadt nicht schon komplett aufgegeben hat, kann sie mit Frank Henkel an der Spitze unmöglich auf eine gedeihliche Zukunft hoffen. Obwohl: bei der Berliner CDU weiß man ja nie.

Wichtiges Lebenszeichen der FDP

Die relativ geringen Verluste bei den Grünen zeigen, dass diese Partei sich trotz einer geradezu desaströsen Politik, etwa im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg, auf ihre urbane Stammklientel verlassen kann. Mit Ramona Pop als de facto Spitzenkandidatin sind sie allerdings mit einer unideologisch und kompetent wirkenden Frau ins Rennen gegangen, die durchaus auch in den sogenannten bürgerlichen Kreisen gepunktet haben dürfte.
 
Das gute Abschneiden der Linkspartei (um die vier Prozentpunke Zugewinn) dürfte diese dem Niedergang der Piraten zu verdanken haben, die vor fünf Jahren auf fast neun Prozent gekommen waren. Für die FDP ist der Wiedereinzug ins Abgeordnetenhaus ein Jahr vor der Bundestagswahl ein extrem wichtiges Lebenszeichen, auch wenn die Liberalen nicht wirklich aus eigener Kraft auf klar über sechs Prozent kamen: einstige CDU-Wähler haben mit 26.000 Stimmen gern ausgeholfen, aber das ist für die FDP ja nichts Unbekanntes.
 
Das gilt erst recht für die AfD, die sich aus dem Stand als politische Mittelmacht knapp unterhalb des Niveaus von Grünen und Linken etablieren konnte. Sie hat es abermals geschafft, ehemalige Nichtwähler zu mobilisieren. Nach aktuellen Hochrechnungen liegen zwischen AfD und CDU weniger als fünf Prozentpunkte. Die AfD hat auch diesmal wieder massiv frustrierte Unionswähler für sich gewonnen. Aber der CDU sollte das eigentlich nur recht sein, denn nach der Lesart Michael Müllers muss es sich bei denen ja um verkappte Nazis gehandelt haben. Vielleicht wäre das ein Ansatz für künftige Statements von Peter Tauber: Gut, dass wir sie los sind!

 

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